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Franz Jung - Arbeitsfriede (1922)
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Auch die Flauen sind zukunftsfroh

Unterdessen hatten sich wirklich viele Menschen auf der Wiese eingefunden. Sie stürmten von allen Seiten herbei, doch die meisten kamen aus dem Verwaltungsgebäude, wo so eine Art Vorversammlung anscheinend schon abgehalten worden war. Man unterschied auch deutlich die einzelnen Gruppen nach den Kolonien, nach den Freunden, die aus der Stadt gekommen waren, und welche, die nur zufällig mit darunter waren. Der Septembertag war wundervoll mild und klar. Der leichte Wind wehte nach dem Wald zu und zog jedes Wort des Redners in die Länge, wodurch die Worte nur noch präziser wurden. Der Redner hatte an der Straße Aufstellung genommen. Man hatte aus ein paar Tonnen und Brettern darüber eine kleine Tribüne gemacht.
Die Partei hatte einen Mann geschickt, dem in solchen Fällen ein besonderer Ruf voranging. Es war ein kleiner rundlicher Mann, der alles andere als ein Volksaufrührer schien und sein volles Gesicht lächelte die Zuhörer freundlich an, wenn er zu sprechen begann. Man fühlte sich gleich wohl und war wie zu Hause. Er fing davon an, wie die Wohnungs- und Siedlungsfrage jetzt aufgerollt sei und welche Forderungen die Arbeiterschaft sich erzwingen müsste. Er sprach breit darüber, was ja im übrigen alle schon wussten, wie der Aufruhr vor dem Obdachlosen-Asyl die Dringlichkeit dieser Frage gezeigt und der Partei die Möglichkeit geboten hatte, einzugreifen und wie die Regierung gezwungen gewesen wäre, ihre Verordnungen zurückzuziehen und wie daher vorläufig auch Arbeitsfriede nichts mehr zu fürchten habe. Das hatten sie ja schon erfahren. Dann sprach der Redner über die Siedlungsfragen im besonderen, lobte den Weg, den sie da schon beschritten hatten, redete der Vereinigung das Wort und schwärmte für den Heroismus der freien gemeinschaftlichen Arbeiten, die sie übernommen hatten. Den Zuhörern wurde ordentlich warm dabei, denn alles was er da so rausstrich, das waren sie selbst, die Arbeitsfrieder und Waldheimer und Freudenthaler und sie kamen sich schon fast wie berühmte Leute vor. Die Wiese war voll Menschen, Frauen und Kinder mit drunter. Es war, als würde ihnen allen noch einmal ihre Heimat geschenkt mit dieser schönen Ansprache und sie sagten sich im stillen, der Mann spricht schön, und er hat recht, und so soll es auch weiter sein. Alle die Versuche, die bereits angefangen waren, werden gedeihen und auch die Übernahme des Gutshofes wird ins Reine kommen. Und wenn sie nur einen großen Stall mit allerhand Vieh daraus machen.
Dann aber, und dafür gerade hatte der Redner eine gewisse Berühmtheit, warf er den Schafspelz ab und schlug gang andere Töne an. Ihr Schafsköpfe, ihr Idioten, redete er sie an, glaubt ihr denn, damit sei was getan? Und er entwickelte nun die soziale Revolution, zeigte die Machtstellung der bürgerlichen Gesellschaft und dieses Staates, zeichnete ihnen scharf das Endziel vor und kam so zu den Forderungen, die eine revolutionäre Partei jeweils über den nächsten Tag aufstellt. Und er schlug die Worte ihnen wie mit einem eisernen Hammer in den Kopf. Er wies ihnen gerade an ihrem Beispiel nach, wie notwendig es sei, alle Kräfte zusammenzuschließen zu einer Partei und die ganze Energie einzusetzen für das eine Ziel, den Sturz der bürgerlichen Regierung und des kapitalistischen Staates, für die Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse. Nur diesen einen Gedanken dürfen wir jetzt haben, schrie er, keinen Schritt vom Wege abgehen, denn der führt uns vom Ziel ab, und der gerade Weg führt über den politischen Kampf um die Eroberung der Macht. Schließt euch fester an die Partei an, sorgt für Aufklärung in euren Reihen, kämpft mit in diesem Kampf, der schwer ist und über Niederlagen geht, dann fällt auch das andere von selbst euch in den Schoß, als Frucht des Sieges. Und immer wieder kam er darauf zurück und er nannte sie Feiglinge und Abtrünnige, dass sie sich eingebildet hätten, für sich allein hier eine Welt außerhalb der Gesamtauseinandersetzung mit der Unternehmerklasse aufbauen zu können. Je eifernder er sprach, um so mehr duckten sich die Köpfe, schuldbewusst. Sie sahen das ein, dass der Mann recht hatte. Es ist manchmal, dass man sich vor der großen Aufgabe drückt, indem man die kleinere zunächstliegende anfasst. Aber es lag auch etwas darin, das sie mit hoffnungsloser Traurigkeit erfüllte. Die Lippen stimmten ihm schließlich zu, sie sahen sich gegenseitig untereinander an, um das zu bekräftigen, was der Redner verlangt hatte, aber das Herz ging doch einen anderen Weg. In dem, was sie hier vor Augen sahen, darin fanden sie sich zurecht. Sie hatten es doch noch geschafft, ihre Forderung durchgesetzt, alles konnte jetzt in neuem großen Maße weitergehen — wenn auch alles mit Hilfe der andern, wer aber fragt danach, wenn man sich nur einmal freuen will. Einmal den ewigen Druck los sein und was anderes vor sich sehen als Not und Wut, Verzweiflung und Hass. Etwas das sich von selbst zu bewegen begann, und worin sie mit allen ihren Gedanken, mit ihrem Leben und ihrer Arbeit mit drin waren. Das Herz tut weh, sich dabei sagen zu sollen: Vielleicht sind wir doch nur solche Schwächlinge, Verräter an dem großen Werk, Flüchtlinge und Feiglinge — vielleicht, es leuchtet ein. Es ist so, dass jeder ordentlich die Faust krampft, um sich zusammenzureißen, bei der Stange zu bleiben, mehr zu tun als bisher, nichts mehr zu versäumen, immer und für alle bereit sein. Aber noch unter der Hand zerflattert wieder vieles, es löst sich gewissermaßen von selbst auf — denn die Sehnsucht nach ein klein wenig Freude, nach einem Zipfelchen Freiheit, die man schon fest in den Händen zu haben glaubt, lässt sich nicht vollends unterdrücken, sie schlüpft aus allen Ecken wieder hervor. Und sie sind bereit alle
Demütigungen dafür zu tragen, die doppelte Arbeit, die vielfache Schwere dieser kleinen und fortgesetzten Zusammenbrüche, mit ihrer tausendfältigen Not und zersplitternden Verzweiflung. Wenn die Sonne nur ein bisschen wieder scheint, ist alles vergessen und eine leise Hoffnung lächelt verstohlen. So ist es, als ob der Redner einen Gegner zu Boden wirft und den Kopf auf die Erde presst und etwas herauszwingt, presst und zwingt, aber der Unglückliche kann nur noch stöhnen: Ich will ja alles tun, was Du willst. Und er wird dann aufstehen und weitergehen, als wenn nichts gewesen wäre. Und eine neue Wunde wird er im Herzen tragen, die blutet. Er wird mit den Lippen bekennen und mit dem Herzen träumen und demütig sein, wo er das Herrschen lernen soll. Und er wird sich verwundern, warum denn der andere gar nicht begreift, dass er gar nichts tun kann. Ich will leben, fühlt er, ich will ja nur ein ganz klein wenig Glück, eine Abzahlung auf das große allgemeine Wohlergehen, das einmal sein wird. Lass mich leben -und der andere steht ohnmächtig, wie er wieder dahingeht. So standen sie sich gegenüber, und die Menschen auf der Wiese hielten den Kopf tief gesenkt. Und der Redner donnerte und fluchte, und wie schon so oft bei diesen Reden, saß ihm das Grauen an der Kehle. Er fühlte sich verzweifelt und er sah sich wirr und verstört um nach einem menschlichen Gesicht, das mit ihm fühlte und das ihn im Blut verstand. Der Schweiß rann ihm von der Stirn. —


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