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Franz Jung - Arbeitsfriede (1922)
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Was die Alten sungen, das zwitscherten die Jungen

Als weitere Wirkung dieser Kämpfe war eine zunehmende Streitlust der Jugend zu verzeichnen. Die ganz Jungen bis hinauf zu den Halbwüchsigen und den Lehrlingen im ersten Jahr taten sich zusammen und unternahmen einen Überfall auf die Station, mit den Steinen vom kleinsten Kiesel bis zur Größe eines Kalbskopfes. Sie hatten das Gebäude regelrecht umstellt und als die Steine auf die Walldächer niederprasselten, hielten die Beamten im ersten Schreck es für ratsam, nicht in Erscheinung zu treten. Man konnte ja nicht wissen, was das zu bedeuten hatte. Als sichtbares Zeichen des gelungenen Angriffs gingen ein paar Scheiben zum Teufel. Dann zerstreuten sich die Angreifer unter lautem Johlen. Die Kleinsten waren die eifrigsten. Man beratschlagte schon, auch die durchgehenden Züge mit entsprechenden Mitteln anzugreifen. Ließ es dann aber sein, als einige Eisenbahnarbeiter, die in der Kolonie wohnten, sehr energisch auf das Unsinnige dieses Tuns verwiesen. Im Grunde genommen mochte aber der Stationsvorsteher, der ein sehr aufgeblasener und militärschnäuziger Herr war, allein sehen, wie er mit der Bande fertig wird. Die Kolonisten kümmerten sich sonst nicht darum. Die Kinder fanden bald raus, dass sie freies Feld hatten und die paar Beamtenhäuser um die Station, deren Bewohner zudem ganz für sich abgeschlossen lebten, boten zu wenig Angriffsmöglichkeit. Der Bandenkrieg lebte wieder auf. Da hatten sich gleiche Trupps gebildet in den Nachbarkolonien, die sich zunächst nichts besseres ausdenken konnten, als sich aufs heftigste zu bekämpfen. Nach dem Auftreten des Militärs war der Zusammenhalt der Kolonien wieder schnell verloren gegangen. Zuerst hatte jeder genug mit sich selbst zu tun, und infolge davon bildeten sich auch eigne Meinungen über die Verlässlichkeit, den Mut und die Kampfklugheit der Leute von Arbeitsfriede,  Freudenthal und Waldheim. Sie sahen sich ja kaum, und wenn wirklich einige gemeinsam zur Arbeitsstätte fuhren, so hielten sie sich nach der eigenen Kolonie noch zusammen und auch dann nur solange, bis auf näher an die Stadt gelegenen Stationen andere und Fremde zustiegen. Unter diese sich dann zu mischen war vernünftiger, man hörte vielleicht etwas neues. So ging für die Kinder die Parteibildung leicht von statten und bald waren es die Waldheimer gewesen, die durch den Wald auf Arbeitsfriede gezogen waren und dort gebührend empfangen und mit blutigen Köpfen heimgeschickt worden waren. Die Lehrlinge, die nur halb bei der Sache waren, sie ließen sich nötigen, sie schämten sich etwas dieser Kampfgemeinschaft   mit   den   Barfüßlern   und  Rotznasen, waren jedoch für die Entwerfung der strategischen Pläne unersetzlich. Sie hielten sich mehr im Hintergrunde, gaben aber durch ihre Anwesenheit den Kämpfern die Gewissheit, dass die Sache durchaus ernst war, und nur der Augenblick ihres Eingreifens abgewartet werden musste, um den Kampf zur endgültigen Entscheidung zu bringen. Das ging jetzt schon so Woche für Woche. Die Alten waren ganz froh, wenigstens waren die Kinder aus dem Hause raus. Man passte auch auf den Garten nicht mehr so auf, die Bäume blieben wo sie waren, und Kaninchen und Hühner hatten Ruhe. Mutter behalf sich manchmal in vielem lieber selbst. In Kundschaftertrupps schlichen die Jungen im Walde rum und wo sie einen Einzelnen erwischten von der Gegenseite, der irgendwo aufgestellt und stehen gelassen war und obendrein die Zeit verpasst hatte, noch mit gutem Winde davon zu laufen, den verprügelten sie ganz jämmerlich. Namentlich die Kleinsten traf das gar nicht so selten. Die hatten dafür die Ehre davongetragen, eine wichtige Rolle zu spielen. Man stellte sie auch als Lockvögel auf, während die, die gut zuhauen konnten, im Hinterhalt lagen; um gegebenenfalls einzugreifen, wenn die Überlegenheit sicher auf ihrer Seite war. Manchmal ließen sie allerdings auch ihre Lockvögel im Stich. Deren jämmerliches Heulen konnte man dann kilometerweit hören. Aber das gab Stoff für neue Rachepläne. Und an einem Tage, noch mitten im Vorfrühling, sollte ein entscheidender Schlag getan werden, er ließ sich nicht umgehen. Alle Hilfstrupps waren auf beiden Seiten schon zusammengezogen. Die Kleinsten und die Mädchen bildeten die Spitze, sozusagen die Schutzwehr. Dahinter kamen welche mit langen Stangen, mit Latten, Knüppeln und allerhand Wurfgeschossen, dann hinten einige Gruppen Lehrlinge, die sich auf ihre Fäuste verließen, für alle Fälle aber Steine in die Tasche gesteckt hatten. Große Umgehungsmanöver fanden diesmal nicht statt, dazu war die Entscheidung zu nahe gerückt. Am Dorf, wo den Wald eine Mulde durchzog, künstlich erweitert für die Schneeabwehr, so dass auf beiden Seiten mehrere fußhohe Erhöhungen sich gegenüber standen, trafen sich die feindlichen Haufen. Mit einer unbändigen Kampfesstimmung waren sie ausgestoßen und mit großem Geschrei kamen sie sich einander in Sicht. Rufe gingen hin und her, Schimpfworte und drohende Aufforderungen anzufangen. Aber keiner ging die Höhe hinunter, um durch die Mulde nach drüben hinaufzustürmen. Die Stimmung wurde immer drohender, aber noch fiel kein Stein, die Stangen standen noch fest in den Händen, nur das Maul lief über. Es war ein ziemlicher Lärm. Die älteren Jungens und Lehrlinge berieten in Gruppen den Angriff, standen herum und sparten nicht mit drohenden Mienen. Ein paar Leute, die im Walde Holz sammelten, hatte das Geschrei herbeigelockt. Sie waren voller Erwartung und sahen sich das Schauspiel an, was wohl daraus werden mochte. Aber es wurde nichts. Es wurde dunkel und je hitziger die Drohenden, desto mehr sank die eigentliche Kampfeslust. Man wich auf beiden Seiten der Entscheidung aus, wo doch die Kräfte diesmal wirklich gleich gewesen waren. Die Entscheidung wäre bestimmt gefallen, so aber vertrösteten sie sich auf ein andermal. Nur bei der Nachhut gab es, in der Feldherrnsprache, ein Geplänkel. Ein Bengel von eben sechs Jahren war doch noch den Abhang mit Hilfe eines kameradschaftlichen Schubses heruntergerutscht, und da er zu brüllen anfing, hielten die drüben das für ein Zeichen — und pfefferten ihm ein paar Knüppel an den Kopf. Und einer traf so, dass der ein Loch davontrug. Die anderen waren aber schon im Abmarsch, und der einzige Held lief schreiend hinterher. Sonst ereignete sich weiter nichts.
Dagegen waren die beiden Parteien erbitterter als je aufeinander. Wo sie sich einzeln trafen, gab es tüchtige Schläge. Sie fuhren bis zur nächsten Station gemeinsam zur Schule, die Freudenthaler stiegen allerdings eine Station früher schon ein. Aber man erwischte sie doch gelegentlich, wie es der Zufall wollte. Einmal mussten sogar die Bahnbeamten einschreiten. In der Schule setzte sich das fort. Endlich waren die Alten gezwungen, sich einzumischen. Waldheimer waren dagewesen und hatten im Verwaltungsgebäude ein Fenster eingeschmissen und den Briefkasten abgerissen. Da wars jetzt an der Zeit, sich der Sache anzunehmen. Man besprach die Vorfälle und verständigte sich, mit den Jungen ein ernstes Wort zu reden, um die Sache zu unterbinden. Haupttäter wurden dabei bezeichnet, denen ein kräftiger Denkzettel verabfolgt werden sollte. Die Einigung war nicht ganz so einfach, weil viele darauf bestanden, was die Kinder machten, ginge sie nichts an. Man solle sie währen lassen, was sie wollen, wenn sie nur ins Haus keinen Unfrieden brächten. Den Schädel würden sie sich schon früh genug weichstoßen. Einsichtigere aber meinten, das gäbe ein recht schlechtes Beispiel. Sie hätten doch einander nichts getan, und sie stünden sich schon gegenüber als die größten Feinde, wie soll das erst noch später mal werden. Viele schoben die Schuld auf die Schule, weil sich eben die Lehrer nicht genug darum kümmern. Die Lehrlinge berührte die Sache nicht mehr. Für sie war alles längst abgetan und sie dachten nicht mehr daran. Sie kamen auch wieder mit den anderen zusammen. Die Kinder aber versammelten sich noch insgeheim und berieten und beratschlagten, für sie war die Sache nicht abgetan. Ihr ganzes Denken füllte die kommenden Kämpfe aus. Und sie schwuren den anderen Rache und ewige Feindschaft. Es reizte sie gerade besonders, dass sie zu Haus davon nichts mehr verlauten lassen durften. Das machte sie glücklich. Es wurde für die Alten eine Plage mit den Kindern. Sie fühlten sich der Sache nicht mehr gewachsen. Da traf es sich, dass bei  der Mietszahlung, die zu einer bestimmten Stunde im Verwaltungshaus festgesetzt war, so dass doch dann immer viele Bewohner sich trafen und zugegen waren, einer plötzlich mit einem sehr vernünftigen Vorschlage herauskam. Der leuchtete sofort allen ein. Er sagte nämlich, man solle von der Genossenschaft aus einen Spielplatz für die Kinder anlegen. Heideland hätten sie ja oben am Berg genug, und ein paar Geräte würden sich auch finden. Das war alles leicht zu machen. Nur empfanden sie es alle im ersten Augenblick wie eine Beleidigung. Sie zogen die Schultern hoch und hätten den Mann am liebsten zurechtgewiesen. Wie kam der dazu, sich hineinzumischen, sagten welche beim Heimweg, er soll froh sein, dass wir ihn überhaupt hier dulden, so etwas. Allmählich erst überlegten sie sich’s, nach und nach. Einer von der Verwaltung, der ein sehr ruhiger und kluger Mensch war, sagte: Es war schade, dass gerade der Klinger damit herauskommen musste, denn der hat doch schon mal im Zuchthaus gesessen.


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