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Franz Jung - Arbeitsfriede (1922)
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Wenn man schon schlagen muss, warum dann immer den Nächsten?

Eines hatte Anna Merkel bei alledem vergessen: Die Leute aus Arbeitsfriede, so hieß die Siedlung, waren nicht nur ständig in Sorge um ihr Dasein, sondern sie führten einen ungleich schwereren, erbitterten und aufreibenden Kampf um ihre Zukunftshoffnung. Sie glaubten an den endlichen Sieg des Sozialismus, und jeder tat sein Möglichstes, noch mit dabei zu sein - an Hoffnung, zaghaftem Bangen und plötzlicher Niedergeschlagenheit. Wer das gelobte Land erfasst und erschaut hat, dem kann es nicht schnell genug mit der Verwirklichung sein, das geht uns allen so. Anna sprach darüber nicht. Schien es ihr auch selbstverständlich, so hätte sie die Wirkungen solchen Kampfes nicht wahr haben wollen. Der Mensch vergisst gern das, was er nicht mag. Anna hatte den Vater ihres ersten Kindes daran verloren, es hätte geheißen, den ganzen schrecklichen Schmerz aufzuwühlen, der sie danach wie mit Messern durchschnitten hatte. Außerdem fürchtete sie Einwirkung davon auf das Mädchen, war das Kind an sich doch schon so schreckhaft. Wenn die Mutter nicht daran denkt, fühlte sie, bleibt das Kind davon unbehelligt. Als sie noch schwanger war, hatte sie sich in die Gedanken der Revolution festgebissen, zum Teil überwiegend in ohnmächtiger Wut und Rachebedürfnis. Es hatte ihr niemand gesagt, aber sie fühlte sich manchmal daran mitschuldig, dass das Kind etwas zurückbehalten hatte. Es war alles andere als gesund, das Kind, wenn es auch nicht gerade schwächlich war, wie so viele Kinder in der Nachbarschaft. Am liebsten hörte Anna von dem allen nichts, dass sie sich nicht aufregt. Das Kind braucht besondere Pflege, und es war ihr wichtiger über das Kind zu wachen. Darin lag für sie der Abglanz eines noch fernen Glücks, das die anderen auf ihre Weise suchten, für sie aber zum Teil, was den Weg anlangt, schon vorbestimmt schien.
Die Bewohner von Arbeitsfriede hatten vergessen, dass alle Vorgänge im Staat, die politischen wie die wirtschaftlichen, nur dem Gesetz einer Entwicklung folgen, und es ist für viele so schwer auseinander zuhalten, inwiefern sie zu dieser Entwicklung das ihrige hinzutun können und sogar müssen, und inwieweit sie selbst mit all ihren Kämpfen nur Teile dieser Entwicklung sind. Früher noch vor Jahren, als die Entwicklung zum Sozialismus noch im Anfange war, konnte man vielfach, wenn in der Propaganda sich die ersten Schwierigkeiten zeigten, wenn die ersten Kämpfe auch die ersten Opfer erfordert hatten, die Meinung hören, es geht eben doch nicht, schmeißen wir den Kram hin; der Mensch soll nichts unternehmen, was über seine Kräfte geht. Und die Menschen versuchten ohne Hoffnung weiterzuleben. Damals lebte eben noch der weitaus größte Teil aller Werktätigen in dieser Dumpfheit, er war schon zufrieden, dass er das Leben hatte, und die Ausbeuter aller Grade, der Fabrikherr, Bauer, Handwerker und die Frau des kleinen Beamten, die sich ein Dienstmädchen hält, sprechen von diesen Tagen noch als von der guten alten Zeit. Und sie sagen, die Welt sei verroht, die Leute hätten keine Religion und keinen Verstand mehr, weil sie aus dieser tierischen Dumpfheit herauswollen und begreifen lernen, dass das Leben größere Inhalte und Anforderungen stellt, als Saufen, Fressen und dienen. Heute konnte man seine Lebenshoffnung nicht mehr einfach wegwerfen, um nicht mehr daran zu denken. Es waren zu viele da, ja alle, die dann daran dachten. Ein solcher hätte sich müssen glatt aufhängen. Es gab nichts, wohin er sich sonst flüchten konnte. Diese Anspannung, nicht besonders mehr können als dabei zu bleiben, diese immer wieder vorschießende Hoffnung, jetzt mit dem nächsten Schlag den Feind endgültig niederzuwerfen, diese tiefe Verzweiflung, wenn es nicht vorwärts damit gehen wollte, alles dies zusammen brachte eine kaum mehr erträgliche Erbitterung und gereizte Stimmung hervor, die jedem auf dem
Gesicht geschrieben stand und die er nach Herzenslust den andern entgelten ließ. Sie blieben darum nicht weniger eifrige Kämpfer für die Sache. Man ist sogar versucht zu sagen, eher im Gegenteil, sie wurden noch eifriger.
Die Revolution und die Befreiung der Arbeiterklasse geht aber ihren eigenen Weg. Sie saugt die Kräfte derer, die darauf hoffen, auf und setzt sie als neue Kräfte der Gesamtbewegung um, kein noch so winziger Schlag, den der einzelne führt, geht verloren. Aber die einzelnen Menschen gehen daran noch zugrunde, was liegt daran. Die meisten Menschen sterben aus Verlegenheit. Sie wissen nicht mehr, wozu sie leben sollen. Und viele sterben gern. Für die andern nur, die Überlebenden wirkt das so schrecklich.
Arbeitsfriede hatte auch Tote zu verzeichnen. Das erste Mal waren bei einem Straßenkampfe, der in der inneren Stadt aus einer auseinander gesprengten Demonstration sich entwickelt hatte, zwei Leute aus der Kolonie, deren Betriebe geschlossen an dem Aufmarsch teilgenommen hatten, dem Maschinengewehrfeuer der wie toll gewordenen Sicherheitssoldaten, die aus Angst blindwütig in die Menge hineinschossen, erlegen. Der eine war auf der Stelle getötet worden, der andere, am Arm verwundet, war nach Monaten im Gefängnis, wohin man ihn nach oberflächlichster Heilung gebracht hatte, noch seiner Verletzung erlegen. Er sollte noch wegen Aufruhrs verurteilt werden. Das zweite Mal lag vom Gang dieser Erzählung gesehen erst eben hinter ihnen. Die Streikwelle, die schon seit Monaten im Ansteigen war, allerdings die wirtschaftliche Widerstandskraft des Arbeiters restlos erschöpft hatte, war überraschend in einen Generalstreik über das ganze Land hin ausgelaufen. Diesmal musste der Sieg kommen, dachten alle. Mit unerhörter Zähigkeit und Erbitterung hielten die Arbeiter den Streik durch. Als dann Truppen eingriffen, die sich anfangs neutral verhielten, Gerüchte gingen sogar, sie würden auf Seiten der Streikenden treten, zum wenigsten große Teile davon, schien das Maß voll und der Zeitpunkt gekommen. Wer noch Waffen hatte, zog sie hervor, an einzelnen Stellen wurden sogar Waffendepots der Regierung gestürmt und in den Außenbezirken die Polizei entwaffnet. Auch in der Kolonie fanden sich noch Waffen genug. Die Leute traten, da keine Verkehrsverbindung mehr nach dem Stadtzentrum war, ganz
von selbst zusammen, wählten ohne Streit und Misstrauen Führer und sonstige Beauftragte, setzten sich mit den Nachbarkolonien Freudenthal und Waldheim in Verbindung, wo die Verhältnisse entsprechend ähnlich lagen. Auch dort waren die Leute unter Waffen und warteten dringend darauf, endlich einzugreifen. Die neu gewählten Befehlshaber der drei Kolonien traten zusammen, richteten eine dauernde Verbindung durch Radfahrer untereinander ein und setzten einen einheitlichen Verteidigungsplan fest für den Fall, dass sie von Truppen angegriffen würden. Leute, die sich längst nicht mehr angesehen hatten, arbeiteten einträchtiglich nebeneinander. Die Verpflegung musste für alle sichergestellt werden, eine Gemeinschaftsküche wurde eingerichtet und alle schossen etwas dazu zusammen. Fast die gesamte männliche Bewohnerschaft war im Wach- und Kundschafterdienst tätig. Eine Versammlung aller Kolonisten war bereits einberufen, die sich mit der Übernahme des Gutes hinter dem Berg oben beschäftigen sollte. Die Meinungen waren geteilt, die einen wollten parzellieren, die andern es als Landwirtschaft gemeinsam bewirtschaften. Rechnungen waren aufgestellt, dass alle drei Kolonien davon bequem hätten ernährt werden können. Man war noch nicht einig, und eine Versammlung sollte darüber entscheiden. Da wurden die ersten Truppen gemeldet. Die Versammlung kam nicht mehr zustande. Ohne direkte Verbindung mit der Stadt wussten die Leute nicht, wie die Gesamtlage war. Nur dass ihre Betriebe noch stillagen, das konnte man sozusagen mit den Augen sehen. Sie folgten daher der Aufforderung einer Militärabteilung, die Waffen niederzulegen, nicht, sondern machten sogar Anstalten, die Soldaten anzugreifen und zu entwaffnen. Der Versuch misslang. Die Sachlage schien sich geändert zu haben, und der Trupp hatte scheint’s eher den Charakter einer Strafexpedition. Trotzdem kämpften die Arbeiter weiter. In Waldheim wurden zwei Häuser regelrecht von dem Militär in Brand gesteckt, als sie die ersten Toten hatten. In Arbeitsfriede musste das Verwaltungsgebäude, in dem sich ein ansehnlicher Trupp Arbeiter verschanzt hielt, unter ziemlichen Verlusten und unter Anwendung von Minen gestürmt werden. Dann brach der Widerstand zusammen. Die Soldaten hatten an zwanzig Tote, die Arbeiter insgesamt sechs, wovon zwei auf Arbeitsfriede fielen. An fünfzig wurden aber als Gefangene weggeführt. Es war gut, dass die Regierung, die sich mit knapper Not noch im Sattel gehalten hatte und einen neuen Stoß fürchtete, schleunigst mit einer Amnestie herauskam. So wurde nach einigen Tagen der größte Teil entlassen, nachdem sie in einem Militärlager zwar wie Kriegsgefangene behandelt, mit Gewehrkolben und anderen Dingen aber halbtot geprügelt worden waren. Der Rest von zehn Mann konnte nicht mehr zurückkehren, da schon an der Bahnstation, eine Viertelstunde von der Siedlung weg, der kommandierende Major herausgefunden hatte, dass die Zahl der Bewachungsmannschaften, die er ohne sich selbst zu gefährden abgeben konnte, in keinem entsprechenden Verhältnis zur Zahl der Gefangenen stand, so dass er am Bahnhofsgebäude kurz entschlossen diese Überzähligen einfach niederschießen ließ.
In der nächsten Woche wurde zwar die Arbeit wieder aufgenommen. Es ging auch alles sonst wieder seinen alten Gang. Die Leute wichen genau wie vorher einander aus. Daher diese Wut von Hans Merkel, der sich die Wirkung anders gedacht hatte. Trotzdem beschäftigten sie sich jetzt mehr miteinander. Es ging eben langsam. Hans sah das nicht. Aber sie waren dennoch fester miteinander verbunden. Sie sahen sich mit anderen Augen an. Sie übten schonungsloseste Kritik. Es sah aus, als wollten sie sich selbst gegenseitig auffressen. Wenn man nur den Tonfall hörte, in dem der eine von dem andern sprach. Aber man muss eben tiefer hineinhören als nur die bloßen Worte. Das was bisher zufällig zusammen war, bildete sich unmerklich zu einem mehr organischen Ganzen. Es wuchs an diesem Baum Woche für Woche ein neuer Zweig an. Noch unter Kälteschauern und grimmigem Wind, anders geht es nun einmal nicht. Das ist die Luft einer Werkstatt, die von den Flüchen der um den Hungerlohn Fronenden angefüllt ist, die zum Ausbruch kommt, auch draußen in der so genannten Freiheit. Daran soll man sich nicht stoßen. Ein paar böse und missmutige Worte wirken wie gutes Salz. Erst war die Frage zu entscheiden, sollen die Gefallenen auf dem Gelände der Genossenschaft gemeinsam beerdigt werden. Der Gedanke drang zwar nicht durch, dazu war der Platz doch zu beschränkt und die Heide auf dem Berg gehörte ihnen nicht, obwohl sie das Nutzungsrecht hatten, aber sie begruben sie auf allgemeine Kosten im Friedhof der nächsten Station. Dann ergab sich die
Frage, sollen die Familien unterstützt werden und wie, das heißt wie lange und gleich die weitere, müssen die Familien ihre Häuser räumen, und wenn ja, zu welchem Termin. Das waren auf einmal eine Summe von Entscheidungen, wie sie in dieser präzisen Schärfe noch nie vor ihnen gestanden hatten. Denn der Konflikt mit der Kreisverwaltung, die Regierungsgeld vorgestreckt hatte, und mit dem privaten Bankkapital, das noch bei weitem nicht abgetragen war, war unvermeidlich. Es war klar, dass die Genossenschaft dann ihren finanziellen Verpflichtungen nicht mehr nachkommen konnte. Beschlossen sie das, so konnten sie noch Monate brauchen, wenn der Zusammenbruch kam und die Regierung einschreiten würde. Aber sie beschlossen es trotzdem. Ohne allzu lange Erörterungen. Es war ja auch ihre höchsteigenste Not, das hatte jeder begriffen. Das war der Anfang. Erst von diesem Gesichtspunkt aus sahen sie sich gegenseitig mit neuem Misstrauen an. Wird er aushalten oder davonschleichen. -


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