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Franz Jung - Arbeitsfriede (1922)
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Das Gewitter zieht auf

Ein paar Wochen vergingen. Der Sommer verging. Die Zeit war schon im September. Von keiner Seite war man an den Verein bisher herangetreten, der Verfallstermin war schon lange vorbei. Aber auch sonst rührte sich nichts. Die Werkstätte arbeitete zwar flott. Die Schule dehnte sich immer weiter aus. In einer gemeinschaftlichen Sitzung der Ausschüsse war die Verschmelzungsfrage der Kolonien besprochen worden. Weißbach hatte Wort gehalten und drängte selbst auf den Vertrag. Alle waren auch überzeugt, dass man den Gutshof übernehmen würde. Aber schließlich hatte doch jeder seiner eigenen Arbeit nachzugehen. Vielleicht dachten viele, es genügt, wenn man die ersten Vorbereitungen über den Berg hat, das andere entwickelt sich von selbst. Vielleicht zogen sich auch die Besprechungen mit den Organisationen so lange hin. Es ist leicht sozusagen  eine grundsätzliche Bereitwilligkeit erklärt, wie aber anfassen, dass auch alles wirklich durchgeführt wird. Das ist ein schwieriger Weg. Aber man hatte weder Angst noch Misstrauen, war doch jeder, wie schon gesagt, in seinem Betriebe mit seiner eigenen Arbeit vollauf beschäftigt. Da waren die Streitigkeiten über Akkord und Lohn. Da war der Aufmarsch für den politischen Endkampf. Die Meinungen standen hart gegeneinander, auch in der Arbeiterschaft. Dabei will jede Behauptung bewiesen sein. Und ehe man sich entschließt, selbst mit Hand anzulegen und als Mitstreiter in den politischen Kampf zu treten, muss der Weg ganz klar und schon das Ziel deutlich sichtbar sein. Das gibt harte Auseinandersetzungen, die den Kopf ausfüllen. Und dann die Not, überhaupt sich durchzuschlagen, die knappen Verhältnisse zu Hause, die Familie bürdet immer neue Sorgen auf — wie soll das alles auf einmal geändert werden. Man hat gerade zu tun, dass man den Garten mit in der Hand hält. Und sie beschäftigen sich mit all diesen Dingen nur eben soweit, als sie bereits hineingesetzt worden waren. Es schien nicht vorwärts zu gehen. Der Pächter Weißbachs war zwar mal im Ort gewesen und hatte mit dem oder jenem gesprochen. Er sei zu alt; und wenn Weißbach nach der Stadt zieht, geht er auch. Er sei eigentlich von Beruf Ziegelmeister und hätte nur eine kleine Wirtschaft so nebenbei gehabt. Jetzt habe er das Wirtschaften gründlich satt, und wie er gehört hätte von dem Aufschließen des neuen Geländes und alles das, so dächte er, es wäre das beste, sie sollten die Gebäude und den Hof gleich mit übernehmen. Verwendung dafür hätten sie doch genug, ob sie daran schon gedacht hätten und so. Man sprach mit ihm hin und her und ließ ihn dann schließlich unverrichteter Sache wieder gehen. Das wird alles zu seiner Zeit schon geregelt werden, natürlich wollen wir das und jenes damit anfangen, sagte manch einer. Aber es kümmerte sich vorläufig niemand weiter drum, wie die Sachen standen. Später, dachten sie, vorläufig ist wenigstens alles schon eingeleitet. Es wird schon in Fluss kommen. Damit war die Zeit vergangen. Neue Streiks kündigten sich an. Weitere Einschränkung der Arbeit war angedroht. Der Staat schien bereits in allen Fugen zu krachen. Aber man täuscht sich nur zu oft. Der kapitalistische Staat ist zäher, als viele meinen. Er bricht nicht so ganz von sich selbst allein zusammen. Da heißt es mit anfassen, ihm den Rest zu geben. Da muss man mit stoßen. Sonst verwest er über Generationen und saugt jeweils noch die Arbeiterschaft in seinem Verfall mit hinein. Das Leichengift ist noch das gefährlichste Gift. Es zermürbt und schwächt, entblättert die Hoffnung und macht gleichgültig und müde, nur immer abzuwarten, wann wohl der Zusammenbruch kommt. Die Not allein treibt nicht. Obwohl sie allein im Augenblick alle gemeinsam umfasst. Aber, sagt ihr, was kann der einzelne schließlich tun — Wir haben doch zuerst unsere Brotarbeit, und ob ich mit Wut oder mit Gleichmut arbeite, das bleibt der Drehbank gleich. Vielleicht wenn alle so denken, ist das richtig, aber der Staat wird dadurch gerettet. Darauf baut er sich überhaupt nur allein auf. Vielleicht ist es aber auch notwendig, dass jeder über den engen Kreis seiner Hände Arbeit hinausdenkt, sich mit den andern, die eben so sind wie er, verbindet, gemeinsam denkt, gemeinsam daran arbeitet, einen Schritt weiterzukommen. Nicht warten, bis die andern einen rufen und den Karren weiter schieben, sondern jeder selber schon von vornherein mit anfassen. Die andern alle, die so wichtig sind, ehe überhaupt etwas getan wird, auf die man zählt als Vorbedingung, bis einer mittun will, fallen denn die als Block vom Himmel? — Nein, du selbst musst sie mit entstehen helfen. Jeder einzelne hat schon mit seiner Existenz seine Aufgabe. Wer sagt euch das, dass sich einer immer hinter den anderen verstecken muss? Dann ist es leicht, jeden einzelnen hervorzuholen und klein zu kriegen. Das ist nicht mal Verteidigung. Aber nur der Angriff kann uns nützen.
Aber der Staat greift an. Das ist sicher. Und so kam eines Tages der Brief in den Ort, der diese dumpfe Stille aufscheuchte. Der alles in Flammen setzte, als hätte der Blitz eingeschlagen. Die Kreisverwaltung als Hypothekengläubigerin berief sich auf eine Regierungsverordnung und die eigenen Statuten des Vereins. Sie kündigte ganz nüchtern an, dass sie von ihrem Rechte
Gebrauch mache, die Wohnungen von sich aus zu vergeben. Mit der Regierung wäre ein Abkommen bereits getroffen. Sie ersuche um Mitteilungen, wie viele Häuser zum nächsten Termin zur Verfügung gestellt werden können. Die Regierung werde die Lage der Bewohner möglichst berücksichtigen. Sie werde sich vorerst nur ein größeres Einflussrecht sichern. In der nächsten Umgebung plane die Regierung die Anlage einer militärisch-technischen Versuchsanstalt. Zum Oktober müssten für Militärbeamte und ihre Familien, die in der Anstalt beschäftigt werden, einige Wohnungen bereits frei gemacht werden. Auch etwa für fünfzig Mannschaften müsste bis auf weiteres Unterkunft geschaffen werden. Über eine spätere eingehende  Regelung der Wohnungs- und Siedlungsverhältnisse könne noch später verhandelt werden. Soviel sei aber zu sagen, dass in absehbarer Zeit, etwa bis Mitte nächsten Jahres mindestens 50 Wohnungen zur Verfügung der Verwaltung stehen müssten. Das war fast die Hälfte. Der Kaufmann hatte guten Wind gehabt.
In Arbeitsfriede wollte man erst im Anfang das Ganze gar nicht glauben. Das zerstörte mit einem Schlage alle Hoffnungen. Es zeigte, wie machtlos und wie arm sie waren. Es war alles aus. Und es schien wirklich, dass die Leute sich wieder schlafen legen wollten und sich in ihr Schicksal bescheiden. Wirklich wäre es auch noch so gekommen, wenn nicht die sofortige Räumung der geforderten zehn Stellen auf Schwierigkeiten gestoßen wäre. Auch mit der Einquartierung hatte man sich schließlich abgefunden. Aber die Wohnungen kamen nicht zusammen. Es wurden nur sechs. Zwei wurden an sich frei, darunter Merkels, zwei wollten freiwillig ziehen und einige wären bereit gewesen, zusammenzuziehen, so dass noch zwei weitere frei wurden. Das hatte sich der Kaufmann, der von Haus zu Haus gelaufen war, schon überschlagen. Aber weiter kam er nicht und er fand auch keinen Ausweg, der nicht die düster gewordene Stimmung zum Explodieren kommen ließ. Und sie explodierte. Man ließ sich noch drei Tage Zeit, ehe der Bewohnerausschuss sich schlüssig machen wollte. Der Vorstand hielt sich vorsichtig im Hintergrund. Zwar hatten die Organisationen, mit denen die Verhandlungen noch schwebten und die man schnell angerufen hatte, nur einen ausweichenden Bescheid gegeben. Es stand doch fest, dass ihre Pläne verwirklicht würden, aber man braucht dafür Zeit, das ging nicht von heute auf morgen zu bestimmen. Aber sie wollten ihr Möglichstes tun. Sie sagten aber nicht bestimmt, was die Arbeitsfrieder tun sollten. Auch die Nachbarkolonien kamen zusammen und berieten. Neue Leute wurden zu Verhandlungen in die Stadt geschickt. Man hörte nichts Genaues.
Das war die Zeit, die die Arbeitsfrieder brauchten, sich zurechtzufinden. Dann brach die Wut los. Der Kaufmann hatte sie schon lange kommen sehen und sie ging auch ihm zuerst an den Kragen. Man setzte ihm schlankweg den Stuhl vor die Tür. Er solle als erster machen, dass er fortkomme. Sie ließen nicht mit sich reden. Das wurde beschlossen und ihm gedroht, er solle erst weiter keine Schwierigkeiten machen. Der verstand. Sie beschlossen in einer stumpfen  Erbitterung, ohne viel Lärm, sich um den Brief nicht zu kümmern. Wer ziehen wolle, könne ja ziehen, der Regierung würden sie aber noch eine ganz andere Antwort geben. Es war ja noch drei Wochen hin. Partei und Gewerkschaften mussten in Bewegung gesetzt werden. Die schleunige Vereinigung mit den anderen Siedlungen wurde beschlossen, und für nächsten Sonntag eine große öffentliche Versammlung festgesetzt. Es stimmte niemand dagegen, aber einige enthielten sich doch der Stimme. Darauf achtete niemand. Sie hatten jetzt jeder alle Hände voll zu tun. Noch am gleichen Abend nach der Sitzung gingen einige zu den Nachbarorten, andere fuhren noch mal nach der Stadt. Es brannte.


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