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Franz Jung - Arbeitsfriede (1922)
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Wie eine und dieselbe Sache verschieden beurteilt werden kann

An einem der nächsten Sonntage stapften fünf Arbeitsfrieder durch die Heide nach dem Gutshofe zu. Der Sand, in den sie mit jedem Schritt bis an die Knöchel versanken, war schon in den Vormittagsstunden glühend heiß. Eine flammende Wolke von Staub und Sonne lag über den weiten Äckern jenseits der Chaussee. Das Korn stand spärlich, es schien kaum hochzukommen und wies große weiße Flocken auf. Wie ein Teppich, den die Motten zerfressen haben. Der Kaufmann streckte die Hand aus, die er ein paar Mal in der Schwebe rumdrehte und rief: Es wird wieder heiß. Die andern sagten ja. Sie keuchten sich vorwärts. Es wird verdammt heiß. Von dem alten Weißbach hatten sie noch nicht viel Gutes gehört. In welchem Zustande bloß die Äcker waren. Genau genommen hörte man überhaupt nichts von ihm, er ließ sich nirgends sehen und seine Leute schienen nicht viel anders. Die Arbeiter waren mehr neugierig einmal zu sehen, was da auf dem Hof los war. Sie kamen ja nicht als Bettler. Wollten auch keine Arbeit, obwohl sie sich vorgenommen hatten, auch die Werkstätte in Empfehlung zu bringen. Man konnte ja nie wissen, vielleicht war der da gar nicht so schlimm, wie man sagte. Der Kaufmann war noch am ängstlichsten, denn er hatte wohl schon mit ihm zu tun gehabt. Und von dem guten Willen des Alten hing jetzt viel ab. Etwas ängstlich waren selbstverständlich die andern auch. Sie hatten nämlich keine Ruhe gegeben, diesen Gang zu beschleunigen. Andere hatten vorgeschlagen, erst mal hintenrum zu hören, vielleicht erst einen vorzuschieben, der noch nichts Bestimmtes sagt. Aber das „gleich aufs Ganze" hatte schließlich gesiegt. Besser war es schon, gleich zu wissen, woran man ist. Sie berieten zum so und so vielten Male, wie sie sich verhalten wollten. Das Beste wäre, sagten sie anschließend, dem Mann nicht zu sehr zu widersprechen, und ihn ruhig reden zu lassen. Wir besprechen uns dann nachher unter uns, was wir daraus machen können. Und nicht mit der Tür ins Haus fallen. So einer ist im Stande und schmeißt uns schon raus aus Eigensinn und schlechter Laune. Viel wird er sowieso von uns nicht wissen wollen, dachten sie. Der Kaufmann muss den Sprecher machen und wenn Fragen gestellt werden, werden sie selbst schon antworten. Ob er wohl weiß, dass so eine Gewerkschaft über größere Gelder verfügt, als dieses ganze Land hier wert ist, meinte einer, wir wollen ja auch nichts geschenkt haben, bekräftigten sie. Der Kaufmann aber hieß sie davon stille sein. Sie mussten damit operieren, dass sie pachten wollten oder überhaupt nur die Erlaubnis ein paar Morgen Heide zu bebauen. Der kann doch froh sein, wenn das Land kultiviert wird. Und hat man ihn soweit, dann können wir schon ein anderes Mal weiter zufassen. Wir werden ja sehen, sagten sie, und damit bogen sie in den Gutshof ein.
Der alte Weißbach sah recht verdrießlich aus, wie er sie empfing. Er blieb in seinem Sorgenstuhl am Fenster sitzen, die Füße hatte er mit Tüchern umwickelt, und wie er die Eintretenden dann aufforderte Platz zu nehmen, wussten die erst nicht recht, sollten sie sich setzen oder nicht. In der Mitte dieses dunklen Zimmers, ein Baum dicht vorm Fenster nahm ihm jedes Licht, stand ein breiter Tisch, ein schweres protziges Stück Möbel. Um den setzten sie sich. Hier muss es ziemlich feucht sein, dachten sie, es riecht auch so muffig, und dabei scheint der noch die Gicht zu haben. Und ihre hellen luftigen Wohnungen, in denen die Sonne war, erschienen wieder vor ihnen. Der Kaufmann hatte in den allgemeinsten Worten das, was sie zunächst wollten, gerade auseinandergesetzt und der Alte hörte bedächtig zu. Jetzt hieß es aufpassen. Sie hatten keine Zeit mehr nachzudenken über die alte Frau, die ihnen die Tür geöffnet hatte, ob sie wohl überhaupt noch zur Arbeit zu gebrauchen war, so krumm und klapprig hatte die ausgesehen — auch nicht über den Zustand der Baulichkeiten, die sie gerade mit dem ersten Blick überflogen hatten. Das Wohnhaus, so schmutzig und baufällig es auch von außen erscheinen mochte, war doch das protzige Herrenhaus, wie solche auf dem Lande noch stehen. Efeu und Wein rankten dran empor und haben die Fassade unter sich längst begraben. Mit dem Haus hätten sie nichts anzufangen gewusst. Der ganze Hof war so unheimlich still. Hatten denn die kein Vieh, na man wird ja hören, trösteten sie sich. Die Stille schärft das Misstrauen. Sie hörten sehr aufmerksam zu. Ein Teil hielt den Kopf vorgebeugt, als dürfe ihm auch kein Wort entgehen, als warteten sie nur auf das Zeichen loszulegen. Der andere Teil saß in sich versunken, bedächtig und weise, als ließen sie das, was der Kaufmann vorbrachte, noch einmal prüfend genau vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen. Und sie wogen dabei fortwährend den Stand ihrer Aussichten und gaben sich auch verstohlen manchmal einen Blick.
Aber der Alte schien seltsamerweise gar nichts dagegen zu haben. Er ließ sich erklären, wie sie das Land bebauen wollten und fragte nach Einzelheiten aus der Siedlung und sagte schließlich, man könne ja über die Benutzung des Geländes einen Vertrag ausarbeiten, verdienen wolle er daran nichts. Das ging alles besser wie man erwarten konnte. Der Alte machte sich sehr verständig. Und es trat eine kleine Pause in der Unterhaltung ein. Der Kaufmann hatte bisher bis auf wenige Zwischenbemerkungen verschiedentlich nach einem schicklichen Abgang gesucht. Der Alte kaute an seinem Schnurrbart. Man sah ordentlich, wie der Mann von Tag zu Tag verfiel und eintrocknete. Der Kaufmann sah sich nach den andern um. Er hätte vielleicht gern gesehen, die wären aufgestanden. Aber sie blieben sitzen und schienen gar nicht daran zu denken, das Feld zu räumen. So musste er das Gespräch noch einmal wieder aufnehmen. Und allmählich, man fühlte deutlich, mit welcher Unlust, nur getrieben durch die hinter ihm Sitzenden tastete er sich zu ihren eigentlichen Absichten durch. Er kam darauf, dass man den Gedanken aufnehmen könne, wieder neu zu bauen, und dass man dann vielleicht auf jene Grundstücke rechnen könne, wenn man zu einer entsprechenden Erweiterung ihres ersten Vertrags käme. Warum denn nicht, sagte der Alte, schließlich kommen Sie gerade noch zur rechten Zeit, denn ich bin die längste Zeit hier gewesen. Da erst horchten die andern auf, und sie begannen mit dreinzusprechen vom Bau und der Zusammenfassung der Kolonien, und der Kaufmann rückte mehr und mehr in den Hintergrund. Weißbach war vielleicht überhaupt froh, von seinen Dingen sprechen zu können. Er wurde jetzt ganz gesprächig. Er fing davon an, dass er noch gar nicht wisse, ob er nicht selbst bald rausgesetzt würde. Es sei schon Zwangsverwaltung beantragt, aber noch einmal abgewiesen worden. Er gäbe mehr aus für Rechtsanwälte als für die ganze Wirtschaft. Die ist auch nichts mehr wert. Ich habe es satt. Das waren immer wiederkehrende Redensarten. Und er sähe das jetzt selbst ein, das beste wäre, das ganze zu bebauen. Das Land ist durch die Stadt verpestet, sagte er, es gedeiht da nichts mehr. Aber er bekam auch andere Antworten darauf zu hören. Die Verabredung war vergessen, und sie stritten ihm ziemlich so alles ab. Der Alte nahm es aber nicht weiter übel. Jetzt erst erinnerte sich der Kaufmann.
Der Alte lebte in Unfrieden mit seinem Bruder und der war jetzt gestorben. Der Alte hatte das Gut vom Vater übernommen, und sich verpflichten müssen dem Bruder Nießbrauch zu bezahlen. Die Brüder hatten sich auch immer gut verstanden. Sie lebten zusammen auf der Wirtschaft viele Jahre lang. Der eine als gelernter Landmann arbeitete, der andere, der irgend etwas studiert hatte, aber anscheinend nicht fertig geworden war, denn er tat nichts, saß so herum. Das ging so lange, bis dieser Bruder auch noch heiratete und sich immer mehr auf dem Gut häuslich einrichtete. Der ältere blieb unverheiratet. Was Geld ausgeben hieß, da hatten sich schließlich beide nichts vorzuwerfen, denn auch der Alte hatte seine Maitressen in der Stadt und sich eine Zeit mal in den Kopf gesetzt, Pferde zu züchten. In Sportkreisen hatte er aber, wie noch das Gerücht ging, keinen guten Eingang gefunden, denn man hielt ihn für einen Bauer. Er war weder Offizier, noch hatte er studiert. Er hatte wohl nicht mal gedient aus irgend einem Grunde. So steckte er die Zuchtversuche bald auf, da sie zudem noch riesige Summen verschlangen. Da war der Bruder glücklicher gewesen. Der hatte großen Verkehr in der Stadt, und bald kamen auch die ersten Wechsel, die der ältere einlösen musste. So ging das weiter und schnell bergab. Es kam Zank und Streit und schließlich zog der Bruder mit Frau und Kindern ab nachdem er noch eine größere Abfindung erpresst hatte. Das war noch alles vor der Zeit, ehe Arbeitsfriede gegründet wurde. Das Gut verfiel immer mehr, der Alte ging nur noch selten aus dem Haus. Der größte Teil der Äcker war verpachtet, und der Pächter wohnte mit im Haus und besorgte die Wirtschaft mit. Alles verfiel. Der Pächter verlor auch die Lust, er war gleichfalls schon alt. Leute zum Arbeiten wurden immer weniger angenommen. Es wurde nur noch das Allernotwendigste gemacht. Da war jetzt der Bruder gestorben, der Kaufmann hatte es irgendwo gelesen. Und die Erben machten Schwierigkeiten, erzählte der Alte seinen Besuchern. Sie möchten ihn am liebsten entmündigen lassen. Der Antrag war schon gestellt. Dabei hat der Bruder Hunderttausende geschluckt, weit mehr als ihm überhaupt zukam. Sie spionieren mir auf Schritt und Tritt nach. Stecken sich hinter meine Leute. Sie passen auf, ob ich mir mit weißem oder gelbem Papier den Arsch wische und was ich auch mache, alles wird aufgeschrieben und spricht für irgend etwas, wie's gerade sein soll. Ich hab’s ihnen noch mal heimgezahlt, aber wer weiß, wie lange. So erzählte der Alte in einem fort. Und die Arbeiter freuten sich darüber. Sie sahen nur ihren Vorteil darin. Das Alte wurde morsch und machte den neuen Ideen Platz. Da war kein Raum für Mitleid, wenn sie auch mit ernster etwas ehrfürchtiger Miene zuhörten. Sie hätten viel lieber laut losgelacht, nicht über den Alten, aber aus Freude darüber, wie gut die Sachen standen. Auch der Kaufmann hatte jetzt wieder den Faden in der Hand. Er fand sich geschickt in die neue Lage. Er verstand sich darauf, dem Alten Mut zu machen. Er solle doch in die Stadt gehen und seinen Lebensabend in Ruhe verbringen. Die Sorgen reiben ihn auf und so weiter. Weißbach sagte darauf, daran hätte er schon lange gedacht. Es fände sich nur kein Pächter mehr. Vom Verkaufen wolle er nichts wissen, viel käme zudem nicht heraus, aber von so einer Pacht könne er vielleicht auskömmlich leben. Da antworteten die andern nicht darauf. Das Wort erstarb ihnen ordentlich im Munde. Daran hatte überhaupt niemand zu denken gewagt, und was sie jetzt bewegte, das behielten sie still für sich. Der Alte war so aufgekratzt, dass er aufstand, um ihnen die Gebäude und den Garten zu zeigen. Damit Sie sehn, dass ich nicht übertreibe, sagte er, es ist alles am Ende, nichts mehr wert. Damit humpelte er voran.
Die Ställe waren leer und wollten bald zusammenstürzen. Die Steinpflasterung wies große Löcher auf. Nun, wissen Sie, krähte Weißbach, Vieh zu halten ist jetzt unlohnend geworden. Für wen denn, ja, hält man so was — da kommen die mit ihren Verordnungen und nehmen einem alles weg. Man ist nicht mehr Herr im Hause. Dass die andern auch Fleisch wollen und Butter, Eier und Milch, daran dachte der Alte nicht. Das wäre ihm auch nie in den Sinn gekommen. Dagegen verbreitete er sich über die Landwirtschaft, die nur im Großen betrieben werden könne. Der Landwirt muss aus dem Vollen schöpfen können, meinte er. Da darf nicht alles berechnet werden, wie viel das und jenes tragen muss. Heute, wo alles abgeliefert werden soll, kommt der Landwirt nicht mehr vorwärts. Wie die Jahre sind, man kann nicht alle Jahre gleich arbeiten. Es verdirbt viel, es wächst aber auch zu. Der Landwirt muss freie Hand behalten und den Überschuss selbst verwirtschaften können. Sonst geht alles zu Grunde. Sie sehen ja. Aber die Arbeiter schwiegen dazu. Nur einer, dessen Vater noch ein kleiner Bauer gewesen war und der noch von der Landwirtschaft eine dunkle Ahnung hatte, gab hin und wieder eintönige Antworten, dass er nur merkte, sie hörten zu. Weißbach schaffte schon seit Jahren nichts mehr an. Das Ackergerät war in einem schlimmen Zustande. Die Pferde für die Frühjahrs- und Herbstbestellung lieh er aus der Stadt. Die Stadt frisst uns noch alle auf, seufzte er. Und er führte sie im Garten herum, dessen zahlreiche Obstbäume vernachlässigt waren und kaum Früchte tragen würden. Er habe keine Lust mehr, sich drum zu kümmern. Weite Reihen Gemüsebeete lagen brach. Den andern kam ordentlich die Wut. Sie mussten sich auf ihren schmalen Streifen wer weiß wie quälen und hier lag alles nutzlos und verkam. Dann verabschiedeten sie sich und gingen voneinander im besten Einvernehmen.
Kaum hatten sie den Hof indessen im Rücken, sprachen alle auf einmal. Jeder hatte schon was Bestimmtes gesehen, was in Angriff genommen werden könnte. Es war allzu klar, dass ihr erster Plan das Gut gemeinschaftlich zu bewirtschaften, der Verwirklichung nahe war. Mit einer geregelten Viehzucht könnte man jetzt anfangen, die Äcker noch in Pacht lassen, aber zu anderen Bedingungen und gegen Naturallieferung. Man sollte keinen Tag damit warten. Es kam allen vor, als hätten sie großes Glück gehabt. Wir sind noch gerade zurecht gekommen — und sie lachten über das ganze Gesicht. Das ist, was uns noch gefehlt hat. Und sie spürten die Hitze gar nicht. Sie hatten es mächtig eilig in den Ort zu kommen, denn die glückliche Botschaft, wenn sie auch nur eine Aussicht war, brannte allen auf der Zunge.


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