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William Dudley Haywood - Unter Cowboys und Kumpels (1930)
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Sechstes Kapitel
Telluride

Der Kongress wurde im Oddfellow-Saal in der Champa-Straße abgehalten. Es liefen Gerüchte um, dass der Bergarbeiterverband Nr. 1 von Butte Klagen über die Kassenführung der Organisation geäußert habe. Daraufhin setzte Boyce alle sieben Mitglieder der Delegation von Nr. 1, zur größten Erheiterung aller übrigen Delegierten, in das Kontrollkomitee, das die Bücher für das vergangene Jahr zu überprüfen hatte. Das war jedes Mal eine schwere Arbeit, aber in jenem Jahre ganz besonders, vor allem wegen der Kasseneingänge und Zahlungen in Verbindung mit dem Streik von Coeur d'Alene. Auf diesem Kongress empfingen wir auch Vertreter der AFL. Der Vorsitzende verkündete ihre Ankunft. Boyce ernannte eine Ehreneskorte, und als die Brigade der Zylinderhüte erschien, klopfte er dreimal stark mit dem Präsidentenhammer auf. Wir alle warteten stehend, bis sie das Podium erreicht und sich gesetzt hatten. Wieder dreimaliges Klopfen, und auch wir setzten uns. Die Redner der AFL wurden der Reihe nach vorgestellt. Nach Beendigung der Ansprachen ertönte wieder das dreimalige Klopfzeichen, wir erhoben uns, und die Vertreter der AFL verließen den Saal. Man hatte ihnen aufmerksam zugehört. Nicht ein Wort war zu hören, kein Applaus, kein Antrag, den Rednern den Dank der Versammlung auszusprechen. Als die Türen sich hinter ihnen geschlossen hatten und die Zeremonie damit ihr Ende gefunden hatte, ging ein Schmunzeln über die Gesichter der Delegierten; viele brachen in Lachen aus. Nachdem wieder Ruhe eingetreten war, fuhren wir in unserer Tagesordnung fort.
Während dieses Kongresses fragte mich Boyce, ob ich für das Amt eines Hauptkassierers kandidieren wolle. James Maher sollte den Posten verlassen, da er als Kassierer für den Bezirk Silver Bow, Montana, gewählt worden war. Ich erwiderte ihm, dass mich sein Vorschlag freue, dass ich aber fürchte, ich werde nicht fähig sein, diesen Posten auszufüllen. Er antwortete: „Ich habe dich bei der Arbeit beobachtet und würde dich nicht fragen, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass du dafür taugst."
„Nun", sagte ich, „wenn ich gewählt werde, so werde ich mein Bestes tun."
Johnson und Williams, die Delegierten aus Silver City, waren mit der Kandidatur einverstanden und erklärten ebenfalls, sie seien überzeugt, dass ich den Posten ausfüllen könne, wenn es auch eine schwere Aufgabe sei. Ich wurde dann auch gewählt.
Vom Kongress wurde beschlossen, die Zentrale der Föderation von Butte, Montana, nach Denver, Colorado, zu verlegen, da Denver für den Bergbau zentraler gelegen sei. Tausende von unorganisierten Arbeitern waren in den Eisen- und Kupferbezirken von Minnesota und Michigan tätig. Dann waren da noch die Hüttenarbeiter von Kansas und die Bleigrubenarbeiter von Missouri, die wir ebenfalls für die Organisation gewinnen wollten.
Nach Beendigung des Kongresses saßen Ed Boyce, Dave Coates und ich zusammen in einem Restaurant und diskutierten die Lage in Idaho. Boyce war der Ansicht, dass der Begnadigungsausschuss sehr bald in Boise, wo Corcoran eingekerkert war, zusammentreten würde und dass ich vielleicht, wenn ich dort wäre, eine Begnadigung für Paul Corcoran durchsetzen könnte. Er fügte hinzu: „Du wirst sicher auch gleich deiner Familie bei der Übersiedlung helfen wollen; warum nicht beides auf einer Reise erledigen? Könntest du heute Abend abreisen?" „Ich muss bloß meine Tasche packen", erwiderte ich. In Boise traf ich Tom Heney und John Kelly, der an meiner Stelle in die Exekutive gewählt worden war. Beide arbeiteten für die Befreiung von Paul Corcoran, Heney war im Besitz einer Petition, welche von neun der Geschworenen, die Corcoran verurteilt hatten, unterschrieben war. Die drei anderen Geschworenen hatten inzwischen den Staat verlassen.
Am folgenden Tage, am 4. Juli, ging ich zu dem etwa eine Meile von Boise entfernt liegenden Zuchthaus. Die abstoßend aussehenden Gebäude waren von einer hohen Mauer mit einem Turm an jeder Ecke umgeben. Über dem Tor stand geschrieben: „Eintritt 25 Cent." Dem Direktor trug ich mein Anliegen vor: ich wollte Paul Corcoran sprechen. „Heute ist zwar kein regulärer Besuchstag, aber das macht nichts", erwiderte er und ließ Paul vorführen.
Corcoran, dem ich mich vorstellte, war hoch erfreut. Er war ein gut aussehender Mann mit hoher Stirn, starkem Schnurrbart und klaren großen Augen. Durch das Jahr Haft hatte er allerdings schon die typische Gefängnisfarbe bekommen. Er arbeitete in der Schusterwerkstatt. Wir setzten uns nebeneinander an den Tisch im Büro des Direktors, der hinausging und uns allein ließ. Ich verbrachte fast den ganzen Tag mit dem gefangenen Genossen. Er hatte davon gehört, dass John Williams und ich seine Frau und Kinder besucht hatten. Für unseren letzten Kongress und für alles, was die Organisation betraf, interessierte er sich sehr. Ich berichtete ihm, dass ich gekommen sei, um den Begnadigungsausschuss zu sprechen, und dass ich mich schon für den nächsten Tag beim Gouverneur angemeldet hätte. „Ver-
lass dich nicht allzu sehr darauf, aber wir wollen unser Möglichstes tun!" sagte ich ihm beim Abschied. Als ich beim Fortgehen zurücksah auf diese düsteren Gebäude mit ihren Gittern und Riegeln, hatte ich noch keine Ahnung von den Umständen, unter denen ich mit diesen dunklen Räumen noch besser bekannt werden sollte. Am nächsten Morgen suchte ich Gouverneur Hunt in seinem Privatbüro auf. Er begrüßte mich freundlich und äußerte im Verlaufe unseres langen Gesprächs, dass „Zuchthäuser nicht für Männer wie Paul Corcoran gebaut seien".
„Sie haben noch nicht Jules Bassett aufgesucht?" fragt er. Der Begnadigungsausschuss bestand aus Bassett, Frank Martin und dem Gouverneur. Ich verneinte die Frage. „Sie brauchen ihn auch nicht aufzusuchen; mit Bassett ist alles in Ordnung. Aber Frank Martin kann ich nicht verstehen." Ich glaubte bemerken zu müssen, Martin fürchte sich vielleicht vor einer ungünstigen Kritik. Der Gouverneur erwiderte, es gäbe manches, was noch schlimmer sei als feindliche Kritik. Bei der Zusammenkunft mit Heney und Kelly wiederholte ich ihnen, was der Gouverneur über Corcoran geäußert hatte, und die Bemerkung, die er über Jules Bassett und Martin gemacht hatte. Mein Eindruck sei, dass Corcoran begnadigt werden würde, falls nicht etwas Unvorhergesehenes einträte; und wenn nicht auf dieser Sitzung des Begnadigungsausschusses, dann auf nächsten.
Da sich sonst nichts weiter tun ließ, fuhr ich direkt nach Silver City, das nur sechzig Meilen entfernt lag. Meiner Frau und den Kindern war es während meiner Abwesenheit gut gegangen.
In wenigen Tagen waren meine Angelegenheiten geordnet und alles gepackt, was wir mitnehmen wollten.
Das Haus und die Einrichtung ließen wir unter der Aufsicht eines Freundes zurück, da wir noch nicht wussten, ob wir nach dem nächsten Kongress zurückkommen würden oder nicht. So verließ ich mit meiner Frau, die damals so weit gesund war, dass sie gehen konnte, unserer kleinen Tochter Vernie und dem Baby Henrietta Silver City, um für einige Zeit in Denver zu leben. Wir mieteten eine möblierte Wohnung in der Nähe der Münze. Sie lag nicht weit von dem neuen Büro der Bergarbeiterföderation des Westens, das im Gebäude der Bergbaubank in vier ausgezeichneten Räumen im sechsten Stock untergebracht war. Dadurch, dass das Büro per Fracht von Butte nach Denver überführt worden war, hatte sich sehr viel Arbeit angehäuft. Die Post war fast drei Monate ungeöffnet liegen geblieben, und auch die Abrechnungen für diese ganze Periode waren nicht gebucht worden. James Maher, mein Vorgänger, hatte mir einige gute Ratschläge gegeben, aber nun lag die ganze Arbeit auf einmal vor mir aufgetürmt. Hunderte von Briefen waren zu beantworten. Wir nahmen zwei Stenotypistinnen, und in kurzer Zeit hatten wir die Korrespondenz größtenteils aufgearbeitet. Kurz nachher reisten Boyce und seine Frau nach Irland ab. Ich sandte ihrem Schiff folgendes Telegramm nach: „Paul begnadigt." Mir schien dies ein guter Anfang. Da Boyce abwesend war, gab es noch mehr Arbeit als sonst. Nacht für Nacht blieb ich bis in die frühen Morgenstunden im Büro. Neben meiner eigenen Korrespondenz hatte ich noch die von Boyce zu erledigen und Artikel für das „Miners' Magazine" zu redigieren und zu schreiben. Vor allem aber musste ich die Bücher führen, und das alles zu einer Zeit, da ich mit dem scharfen Blatt eines Spatens Größe 2 vertrauter war, als mit der Feder
Als die Boyces von ihrer Fahrt zurückkamen, wohnten sie bei uns. Ed nahm die Arbeit in der Organisation wieder mit aller Energie auf. Wenn wichtige Fragen zu diskutieren waren, setzten wir uns an seinen oder meinen Schreibtisch und besprachen sorgfältig jede Einzelheit. Waren wir dann zu gegenseitigem Einverständnis gekommen, pflegte er gewöhnlich zu sagen: „Also, wir sind uns einig" oder „Wir wollen uns also darauf einigen." Und dabei blieb es. Ich brauchte mir niemals Sorgen zu machen, dass er es sich anders überlegen Würde. Niemals wurden unsere gemeinsam entworfenen Pläne oder die Grundzüge unserer Strategie ohne gegenseitiges Einverständnis abgeändert. Eleanor Boyce war früher Schullehrerin in Coeur d'Alene gewesen und unterstützte immer noch ihren Vater und ihre Brüder, die in Herkules auf eigene Rechnung nach Erz gruben. Eines Tages erhielt sie ein Telegramm, dass sie eine Erzader entdeckt hatten! Später wurde daraus eine der größten und ertragreichsten Gruben des Westens. Über Nacht war Eleanor nunmehr Millionärin geworden. Boyce sagte damals wenig oder gar nichts über seine Zukunftspläne. Er hatte schon früher die Absicht geäußert, den Vorsitz bei der nächsten Wahl niederzulegen.
In einer Unterhaltung im Büro setzte ich Boyce eines Tages auseinander, dass Denver als Sitz unserer Zentrale zwar ausgezeichnet gelegen sei, dass wir aber trotzdem nicht bleiben könnten, wenn wir nicht die vielen Tausende von unorganisierten Hüttenarbeitern in Denver und in den benachbarten Städten für die Organisation gewännen. Es sei notwendig, diesen Teil der schon früher beabsichtigten Organisationsarbeit sofort auf energischste in Angriff zu nehmen. Für den Staat Colorado war seinerzeit gerade ein Achtstundentaggesetz,
in den Einzelheiten ähnlich dem Gesetz von Utah, angenommen worden, aber der Oberste Gerichtshof des Staates hatte es für „verfassungswidrig" erklärt. Nun gingen die Bestrebungen der Föderation und anderer Arbeiter dahin, eine Verfassungsänderung durchzusetzen, die auch mit der überwältigenden Mehrheit von 47 714 Stimmen erreicht wurde. Die American Smelting and Refining Company, die United Reduction Company und andere Hütten und Werke im Staate ignorierten aber einfach diese Bestimmung und ließen die Leute weiter elf Stunden Tagesschicht und dreizehn Stunden Nachtschicht machen. So beschäftigte ich mich außerhalb der Bürostunden viel mit der Organisierung der in den Globe-, Argo- und Grant-Hüttenwerken beschäftigten Arbeiter.
Im Jahre 1901 wurde der Kongress der Föderation in Denver abgehalten. Eugene V. Debs und Thomas Hagerty waren anwesend, die in einer für die Kongresswoche organisierten Versammlung im Coliseum sprechen sollten. Hagerty war ein katholischer, mit dem Sozialismus sympathisierender Priester, hochgewachsen, ein guter Theoretiker und ziemlich guter Redner. Wir hofften, er werde auf seine Glaubensgenossen großen Eindruck machen.
Debs war den Delegierten gut bekannt, da er der Bergarbeiterföderation des Westens als Redner und Organisator geholfen hatte, als der Bergarbeiterverband von Cloud City im Jahre 1896 in Leadville im Streik stand. Wir alle kannten ihn als einen der besten Redner der Arbeiterbewegung. Wir kannten aber auch seine Schwächen, und einige wussten auch von seinem pathetischen Brief an John D. Rockefeller, in dem er um Geld zur Finanzierung seines Kolonisationsplanes bat. Nichtsdestoweniger war er unter uns sehr beliebt. Er war ein umgänglicher Mensch, und wir bewunderten den Kampf, den er für den Amerikanischen Eisenbahnerverband geführt hatte.
Debs war schon seit einigen Jahren Sozialist; Boyce und ich waren erst in diesem Jahre nach dem Kongress in Indianapolis der Sozialistischen Partei in Denver beigetreten und hatten uns zu den Prinzipien des Sozialismus bekannt. Auf dem Kongress der Bergarbeiterföderation setzten wir uns für eine energische Bildungskampagne und Schaffung eines Büros für Bildungsarbeit ein. Unsere erste Arbeit in dieser Richtung sollte in der Veranstaltung von Versammlungen mit Debs und Hagerty in den Grubengebieten bestehen. Ich hatte mit beiden unsere Pläne zur Fortsetzung der Achtstundentagkampagne besprochen.
Charles H. Moyer, ein Hüttenarbeiter aus Süd-Dakota und Mitglied des Exekutivkomitees, wurde auf diesem Kongress an Stelle von Boyce zum Präsidenten der Bergarbeiterföderation des Westens gewählt. Vizepräsident wurde John C. Williams. Ich blieb Hauptkassierer. Der Kongress wurde durch den Bericht Vincent St. Johns, des Präsidenten des Bergarbeiterverbandes von Telluride, belebt, in dem er die Arbeitsbedingungen in der Smuggler-Union-Grube schilderte, wo zum 1. Mai ein Streik erklärt worden war. Bemerkenswert waren ferner die Beschlüsse, das „Miners' Magazine" in eine Wochenschrift umzuwandeln und auch einen Rechtsanwalt in den regulären Angestelltenstab der Organisation aufzunehmen. Nach dem Kongress bestimmte die Exekutive John M. O'Neill, einen Bergarbeiter aus Cripple Creek, zum Redakteur der Zeitschrift. O'Neill entwickelte sich zu einem flotten, begabten Journalisten, und das Magazin gewann durch ihn an Popularität. Es gelang ferner, uns die Mitarbeit John H. Murphys, des
Rechtsanwalts der Bruderschaft der Lokomotivheizer, zu sichern. Er behielt diese Funktion und übernahm gleichzeitig die Bearbeitung der juristischen Fälle der Bergarbeiterföderation des Westens. In Erwartung der Ausgaben, die ein energischer Kampf für den Achtstundentag mit sich bringen musste, brachte ich ein Rundschreiben heraus, in dem das Leben der Schmelzarbeiter, Hüttenarbeiter und Bergarbeiter und die Arbeit der Organisation um die Durchsetzung des Achtstundentaggesetzes beschrieben wurden. Jetzt, da wir um den Achtstundentag kämpfen müssten, würde ein Streik dem anderen folgen, und manche würden sehr hart werden. Auf dieses Rundsdireiben hin flossen der Kasse zwanzigtausend bis fünfundzwanzigtausend Dollar zu.
Telluride ist einer der wichtigsten Silber- und Goldgrubenorte im Bergbaugebiet San Juan in Colorado. Zu den großen Gruben zählte dort die Smuggler Union. Der Leiter dieser Gesellschaft, Arthur Collins, führte das Akkordsystem im Bergbau ein. Er hatte den Bergarbeitern einen Kontrakt aufgezwungen, nach dem sie zu einem bestimmten Preis für den Klafter Erz zu sprengen hatten. Um die Abschaffung dieses Kontraktsystems durchzusetzen, verhängte der Bergarbeiterverband von Telluride, der unserer Föderation angehörte, am 1. Mai 1901 den Streik über die Werke der Smuggler Union. Obwohl der Verband sich erbot, für die Bewachung der Werkanlagen aufzukommen, und der Gesellschaft jeden Schutz garantierte, erwiderte Direktor Collins mit der Einstellung von Streikbrechern. Schließlich wurde ein Abkommen zwischen Collins und dem Verband erzielt, nach dem das Kontraktsystem so geändert wurde, dass der Bergarbeiter zumindest den gewerkschaftlichen Lohnsatz für die Zeit seiner Beschäftigung erhielt und
den Kontrakt jederzeit lösen konnte. Diese Regelung kam aber erst zustande, nachdem ein heftiger Kampf zwischen den Mitgliedern des Verbandes und den Streikbrechern stattgefunden hatte. Charles Becker, der Oberaufseher der Grube, wurde erschossen, zwei Streikbrecher wurden getötet und mehrere verwundet. Die übrige Sippschaft wurde über die Berge eskortiert. Auch ein Mitglied des Bergarbeiterverbandes, John Barthell, kam bei diesem Kampf ums Leben. Die Zeitung von Telluride, „Telluride Journal", führte eine heftige Kampagne gegen den Verband, bis dieser einen geschlossenen Boykott gegen das Hetzblatt organisierte. Direktor Collins gelang es jedoch, eine Vereinigung der Geschäftsleute zustande zu bringen, um das Blatt zu erhalten. Aus dieser Organisation wurde später der Bürgerbund, die treibende Kraft bei allen Terroraktionen gegen die Verbände der Bergarbeiterföderation des Westens. Arthur Collins sollte diese Zeit aber nicht mehr miterleben. Als er einmal nahe beim Fenster stand, feuerte jemand eine Schrotladung auf ihn ab und tötete ihn.
Gouverneur Orman schickte eine Kommission, bestehend aus David Coates, dem damaligen Gouverneur-Stellvertreter des Staates, Senator Buckley und John H. Murphy, dem Anwalt der Bergafbeiterföderation des Westens, nach Telluride. Der Bericht dieser Kommission stellte fest, „dass in Telluride alles ruhig sei und dass die Bergarbeiter die Gruben auf friedliche Weise besetzt hätten". Dieser Bericht rief große Erregung unter der Ausbeuterklasse in Colorado hervor. Die kapitalistischen Blätter, besonders der „Denver Republican", brachten Leitartikel mit heftigen Angriffen gegen die Bergarbeiter.
Am 20. November ereignete sich im Bullion-Tunnel der
Smuggler-Union-Grube eine der entsetzlichsten Tragödien in der Geschichte der amerikanischen Erzbergwerke. Das Stationshaus am Eingang des Stollens geriet in Brand. Kurz vorher war eine Wagenladung gepressten Heues am Ende des Stollens abgeladen worden, das gleichfalls vom Feuer erfasst wurde. Das brennende Heu und das in Flammen stehende Holz verursachten einen dichten Rauch, und der Schacht, der in Verbindung mit der Oberfläche stand, bildete einen ausgezeichneten Rauchfang. Edgar Collins, ein Verwandter des Leiters und Oberaufseher der Grube, versuchte krampfhaft, die Ausbreitung des Feuers zu verhindern und veranlasste, dass die Winchester-Gewehre und Munitionsvorräte aus einem nahe gelegenen Lagerraum weggeschafft wurden. Waffen und Munition waren ihm wichtiger als das Leben der Männer in der Grube.
Das Feuer hatte schon stark um sich gegriffen, bevor der Versuch unternommen wurde, die in der Tiefe der Grube arbeitenden Kumpels zu warnen. Der Bote, der schließlich hinuntergesandt wurde, versuchte, die Kameraden auf dem gleichen Wege, auf dem er gekommen war, nach oben zu führen. Alle, die ihm folgten, und einige Versprengte kamen ums Leben; die Mehrzahl der Arbeiter entkam zu ihrem Glück durch andere Ausgänge. Das Feuer wütete noch immer, als eine Gruppe von Bergarbeitern aus der Tomboy-Grube auf dem Schauplatz erschien. Der Vorarbeiter Billy Hutchinson, der diese Rettungsmannschaft führte, gab sogleich Befehl, den Eingang des Tunnels in die Luft zu sprengen. Wäre dies sofort geschehen, so wäre kein Menschenleben verloren gegangen. Die erste Rettungsmannschaft, die dann in die Grube eindrang, wurde durch die entwickelten Gase und den Rauch zurückgetrieben; im Laufe der weiteren Rettungsarbeiten wurden fünfundzwanzig Männer gefunden, die von der Katastrophe überrascht worden waren und den Erstickungstod erlitten hatten. Am Tage des Begräbnisses feierten die Belegschaften aller Gruben dieses Lagers, und auch aus den benachbarten Orten kamen Delegationen. Etwa dreitausend Mann standen Spalier, als ihre Arbeitskameraden begraben wurden. Jeder Bergarbeiter trug - ein alter Brauch - ein Reis Immergrün, das er als letzten Gruß in das offene Grab warf.
Am 28. Februar des folgenden Jahres zerschmetterte eine schreckliche Schneelawine in Telluride einen Teil des Schlafhauses von Liberty Bell und tötete siebzehn Leute. Die ungeheuren Schneemassen hatten alles auf ihrem Wege ins Tal mitgerissen: Felsen, Baumstümpfe, Gebüsch. Eine Zeitung in Denver brachte in Verbindung mit der Katastrophe einen Bericht, in dem Generaladjutant Gardner die Behauptung aufstellte, die todbringende Lawine sei „ein Beweis für den Zorn Gottes gegen die verbrecherischen Bergarbeiter des Bezirks San Miguel". Diese dumme Bemerkung sollte eine Beleidigung der Bergarbeiter sein. Sie verursachte tiefste Erbitterung bei der Bevölkerung, die ohnehin schon durch die Leiden der Streiks, des Brandes und der Lawine gereizt war. Nur selten kommt es vor, dass Organisationen ihre Monumente schon errichtet vorfinden, aber bei der Bergarbeiterföderation des Westens war es so. Das Monument musste nur noch einen Namen erhalten. Einer der erbittertsten Kämpfe der Föderation wurde mit der riesigen Guggenheim-Gesellschaft und den anderen Schmelzwerk- und Hüttenunternehmungen in Denver wegen der Arbeitszeit der Schmelzwerkarbeiter geführt. Mehr als zwei Jahre lang musste eine hartnäckige Agitationsarbeit geleistet werden, um eine genügend starke Organisation aufzubauen, die auf Einhaltung des gesetzlich beschlossenen Achtstundentages im Bundesstaat dringen konnte.
Am Abend des 3. Juli 1903 wurde in der Stadthalle von Globeville eine allgemeine Versammlung der Hüttenarbeiter, die auf Tagschicht arbeiteten, abgehalten. Diese Versammlung sollte den Ausschlag geben; sie sollte endgültig über den Streik entscheiden. Moyer war in Butte, Montana. Ich hatte ihm über die immer stärker werdende Forderung der Schmelzarbeiter nach dem Streik und über die Versammlung, die abgehalten werden sollte, telegrafiert. Zu meinem Erstaunen drahtete er zurück: „Aktion verschieben bis zu meiner Rückkunft." Ein Aufschub schien mir aber nicht ratsam, ja unmöglich. Ich sagte den Arbeitern nichts von Moyers Telegramm, und die Tagesordnung wurde ohne jede Schwierigkeit abgewickelt. Plötzlich erschien Moyer, gerade noch zur Zeit, um Verwirrung in die Versammlung zu tragen. Die Arbeiter meinten es aber ernst und waren voller Begeisterung. Von Aufschub wollten sie nichts wissen. Sie waren bereit, in den Streik zu treten, und wollten sofort beginnen. Man hörte manche heftige Rede über die schlechte Behandlung, die sie erdulden mussten, über die Unerträglichkeit der langen Arbeitszeit, die endlose Dauer der „langen Wechselschicht", des Übergangs von einer Schicht zur anderen, bei dem die Arbeiter alle vierzehn Tage einmal vierundzwanzig Stunden durcharbeiten mussten.
Die allgemeine Stimmung der Versammlung zeigte das Erwachen der Geister, die unter dem Druck der unmenschlich langen Arbeitszeit und der schweren Arbeit lange geschlafen hatten. Das ließ eine aktive Stimmung während des Streiks und eine schwierige Lage für die Hüttengesellschaft erwarten.
Es wurde beschlossen, dass niemand vor Schluss der Ver-
Sammlung den Saal verlassen sollte. Um Mitternacht wurde einstimmig eine Resolution für den Streik angenommen. Um die gleiche Stunde dröhnten draußen Kanonenschüsse, Pfeifen schrillten, Feuerwerk knatterte: es war der 4. Juli. Mit diesem Lärm und Getobe setzte wie alljährlich die Feier der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ein.
Der Streik sollte ohne Verzögerung beginnen, sobald die Schicht, die gerade arbeitete, verständigt werden konnte. Die Gesellschaft sollte den Ausbruch des Streiks erst erfahren, wenn die Schmelzarbeiter die Arbeit niederlegten. Sie sollte nicht erst Zeit finden, sich vorzubereiten. Die Arbeiter verließen den Saal in drei Abteilungen: zuerst die Leute von Argo, weil sie den weitesten Weg hatten, dann die von Globe und zuletzt die Arbeiter der Grant-Schmelzwerke. Auf allen drei großen Werken sollte der Streik gleichzeitig ausgerufen werden. Keine Rede mehr von Verhandlungen. „Legt die Arbeit nieder! Sofort! Streikt!" Das war die Parole. Sie wurde auf der Stelle befolgt. Die Meister gerieten in große Aufregung. „Haltet das Feuer in Gang! Die Schmelzöfen erkalten!" Aber ihre Befehle wurden nicht befolgt. Die Arbeiter rannten im Flammenschein umher und riefen: „Streik! Streik! Es wird gestreikt! Schlagt zu, solange das Eisen noch heiß ist!"
Die Hüttenwerke lagen in den Vororten der Stadt. Es dauerte einige Zeit, bis die Streifenwagen der Polizei von Denver auf dem Schauplatz erschienen, und als sie ankamen, konnten sie nicht mehr viel tun. Die Leute hatten die Arbeit niedergelegt, der Streik war ausgebrochen - der Kampf hatte begonnen. In den Globe- und Argo-Werken gelang es den Meistern, Büroangestellten und Beamten, die soweit als möglich telefonisch herbeigerufen wurden, das Feuer halbwegs
in Gang zu halten; aber auf dem Grant-Werk erkalteten die Hochöfen, das Feuer erlosch, das Metall und die Schlacke erstarrten. Diese Hochöfen wurden niemals wieder angeblasen. Der Schornstein des Grant-Hochofenwerks ist einer der höchsten in Amerika. Seit dem 4. Juli 1903 raucht er nicht mehr. Er steht da, ich möchte sagen, als ein Monument des Achtstundentages, für den die Bergarbeiterföderation des Westens so tapfer gekämpft hat.
Auf einer Versammlung des Bergarbeiterkomitees schilderte ich die Arbeitsbedingungen der Leute in den Schmelzwerken. Die Häuser, in denen sie leben mussten, verglich ich mit dem Palast des ehemaligen Gouverneurs Grant, eines der Hauptaktionäre der Grant-Werke, über dessen Wohnpalast und seine wunderbare Ausstattung in den Zeitungen eine Beschreibung erschienen war. Sie forderte geradezu zu dem Vergleich heraus, dass ein einziges Stück von Grants Einrichtung ein Dutzend solcher Häuser und Einrichtungen wert war, wie sie die Streikenden besaßen. Außerdem sprach ich noch ausführlich über die Kindersterblichkeit, die im Hüttenbezirk höher war als in jedem anderen Teil des Staates. Nach dem Ende der Rede trat Grant mit Tränen, die ihm über die Wangen liefen, an mich heran und erklärte, dass er selbst wohl bereit sei, die Verfassung des Staates einzuhalten, und dass er gern die Lebensbedingungen der Hüttenarbeiter verbessern würde, die Gesellschaft ihn aber abgehalten habe, individuelle Schritte zu unternehmen. Ich hatte eben mein Gespräch mit Grant beendigt, als Direktor Guiterman von der zum Guggenheim-Konzern gehörigen American Smelting and Refining Company hinzukam und sagte:
„Mr. Haywood, wir waren überrascht, als der Streik in unserem Werk ausgerufen wurde, da Mr. Moyer mir zugesichert hatte, dass kein Streik ohne vorherige Verständigung der Gesellschaft stattfinden werde." Darüber war ich sehr verwundert, denn ich hielt es nicht für möglich, dass Moyer beabsichtigt hatte, als Verräter an der Organisation zu handeln. Er wusste, dass er als Präsident der Bergarbeiterföderation des Westens nicht berechtigt war, ein solches Versprechen, sei es Guiterman, sei es jemand anderem, zu geben. Weiter wusste er, dass die Gesellschaften keine Benachrichtigung erhalten sollten, wenn die Arbeiter es nur irgendwie im Interesse der wirkungsvollen Einleitung des Streiks vermeiden konnten. Ich nahm daher Guitermans Behauptung nicht ernst; sie schien unhaltbar, und ich tat sie als eine Verleumdung ab.
Am 1. August trat die Jahreskonferenz der Bezirksorganisation San Juan der Bergarbeiterföderation zusammen und nahm eine Resolution an, in der das Inkrafttreten des Achtstundentages für Hütten- und Schmelzarbeiter entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen spätestens am 1. September 1903 verlangt wurde. Ein Komitee der Hüttenarbeiter des Bergarbeiterverbandes von Telluride formulierte diese Forderungen und legte sie dem Bergwerksbesitzer-Verband von Telluride vor. Der Unternehmerverband antwortete, dass ein Teil der Arbeiter, die in diese Forderungen einbezogen waren, unter einem Kontrakt ständen, der noch über ein Jahr liefe, und dass die vom Komitee geforderten Tageslöhne für einen Achtstundentag die gleichen seien, die bisher für zehn und zwölf Stunden gezahlt wurden. Daraufhin wurden auf einer Versammlung der Gewerkschaft die Forderungen umgeändert. Alle kontraktlich verpflichteten Arbeiter sollten wie bisher arbeiten. Es wurde einer allgemeinen Herabsetzung der Löhne um fünfzig Cent am Tag zugestimmt. Drei Dollar täglich sollte der Mindestlohn sein. Ein Komitee unserer Organisation trat mit einem Komitee des Unternehmerverbandes zusammen, dem Bulkeley Wells (der nach dem Tode von Arthur Collins Leiter der Smuggler-Union-Grube geworden war), Cooper Anderson von der Nellie-Grube und A. C. Koch von der Alta-Grube angehörten. Wells, der Wortführer, erklärte, er werde die Forderungen dem Unternehmerverband übermitteln. Dieses Komitee schien zu glauben, dass ein Übereinkommen auf Grund der vom Bezirksverband vorgelegten Bedingungen erzielt werden könne; aber wir erhielten niemals eine Antwort. Es sei denn, dass die kurz darauf folgende Bildung der San Juan Mining Association, die alle Bergbaubetriebe erfasste, als eine Antwort betrachtet wird.
Die im Bergarbeiterverband von Telluride organisierten Hüttenarbeiter beschlossen, am 1. September in den Streik zu treten. Die Bergarbeiter feierten bereits alle, mit Ausnahme einer Mannschaft für die Notstandsarbeiten in der Tomboy-Grube und den Werken der Smuggler Union, wo die Hütte mit Hilfe von Bürokräften und einigen Streikbrechern in Betrieb blieb. Der Betriebsleiter Wells selbst zog einen Arbeitskittel an und stellte sich an einen Arbeitsplatz. Nach einigen Tagen wies die Amerikanische Arbeiterunion die Köche und Kellner der Smuggler-Union-Werke an, die Arbeit niederzulegen. Die Notstandsarbeiter wurden ebenfalls abberufen, so dass der Ausstand nun vollkommen war. In der Tomboy-Grube wurden die Maßregelungen fortgesetzt, bis am 21. Oktober der Streik über sie verhängt wurde. Alle Arbeiter leisteten Folge. Sogar die Schichtmeister und Vorarbeiter legten die Arbeit nieder. Bei Conns Laden wurden Streikposten aufgestellt, um die Gruben zu beobachten. Mitglieder des Bürgerbundes und Sheriffs versuchten, einen Kampf zu provozieren.
Sie warfen Steine auf den Laden und schössen auf einen der Streikposten. Am nächsten Tag wurden die Streikposten in einen anderen Laden von Conn in der Nähe der Smuggler-Union-Grube verlegt. In der folgenden Nacht wurden die Mitglieder des Bürgerbundes in Telluride mobilisiert und standen an den wichtigsten Straßenecken mit Jagdflinten und Winchesters. Bulkeley Wells schleppte aus der Redaktion höchst eigenhändig einen Sack voll Gewehre für die Provokateure heran. Sie drangen in eine Reihe von Wohnungen ein und entwaffneten die Gewerkschaftsmitglieder. Viele Arbeiter wurden festgenommen und wegen „Übertretung der öffentlichen Ordnung", nämlich Überschreitung einer Straße, die seit fünfundzwanzig Jahren ständig benutzt wurde, in Haft gehalten. Erst gegen Bürgschaften, die bis zu tausend Dollar betrugen, wurden sie freigelassen. Die Bergwerksbesitzer bezeichneten den Streik als eine Verletzung des Kontrakts, der am 28. November 1901 für drei Jahre abgeschlossen worden war. Die Gewerkschaft hatte aber schon gegen die Verletzung des Kontrakts durch die Gesellschaft protestiert; der Abzug für die Verpflegung war von neunzig Cent auf einen Dollar erhöht worden, schwarze Listen und Maßregelungen waren bei der Tomboy-Gesellschaft an der Tagesordnung. Der Streik wurde fortgesetzt. Anfang Oktober fanden in Denver zwischen den Direktoren und den Vertretern der Bergarbeiter Besprechungen statt. Die Direktoren Chase, Wells und Atchison trafen in dem Büro von John H. Murphy, dem Anwalt der Bergarbeiterföderation, mit Miller, Murphy und mir zusammen. Die Grubendirektoren schienen bereit, alle Forderungen der Gewerkschaft zu bewilligen; wir einigten uns schließlich auf den achtstündigen Arbeitstag in den Hütten und Gruben und einen Mindestlohn von drei
Dollar täglich. Der stellvertretende Oberstaatsanwalt Melville, der bei dieser Konferenz den Gouverneur vertrat, stellte Bulkeley Wells die Frage, ob er bereit sei, einem Arbeiter denselben Betrag für eine Achtstundenschicht zu zahlen, den er ihm für eine Zwölfstundenschicht gezahlt hatte. Wells erwiderte: „Gewiss. Ich weiß, ich kann meine alten Arbeiter nicht für weniger als dreieinhalb Dollar pro Tag zurückbekommen." Nach dieser Besprechung herrschte der Eindruck, dass der Streik in Telluride nun endgültig beigelegt sei. Die Unternehmervertreter waren jedoch kaum nach Telluride zurückgekehrt, als dort eine Versammlung des Bürgerbundes stattfand, durch die alles wieder ins Wanken kam; Wells äußerte nach der Versammlung, wenn die Sache nur ihm, Chase und Melville für die Bergwerksbesitzer und Miller, Murphy und Haywood für die Bergarbeiter überlassen worden wäre, so hätte die ganze Angelegenheit in einer Stunde geregelt werden können. Es wurde aber nicht einmal der Versuch gemacht, die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Der Bürgerbund sandte vielmehr eine Delegation der Bergwerksbesitzer an den Gouverneur mit der Bitte, Truppen zu stellen. Gouverneur Peabody beorderte sofort die Miliz nach Telluride. Die Nachricht traf uns wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ich benachrichtigte Oscar Carpenter, den Sekretär des Bergarbeiterverbandes von Telluride, dass Miliz eintreffen werde, so schnell der Sonderzug sie hinbringen könne. Da die „Zinnsoldaten" Burschen ohne Verantwortungsgefühl seien, sei größte Vorsicht geboten, um einen Konflikt zu verhindern. Nach dem Eintreffen des Militärs begannen sofort die Verhaftungen. Achtunddreißig Arbeiter wurden alle zugleich wegen „Landstreicherei" festgenommen; bald darauf weitere achtzehn Arbeiter. Darunter befanden sich auch Oscar M. Carpenter und J. C. Barnes von der Amerikanischen Arbeiterunion. Carpenter trug bei seiner Verhaftung den von mir geschriebenen Brief in der Tasche. Er zerriss und verschluckte ihn, um zu verhindern, dass die Soldaten ihn lasen. Mir wäre lieber gewesen, sie hätten den Brief gelesen, weil Carpenters Handlungsweise sie glauben ließ, dass er etwas Besonderes zu verstecken habe. So wurden denn diese beiden in einem Sonderzug nach Montrose gebracht und dort ins Gefängnis geworfen.
So viel erfuhren wir telegrafisch. Unmittelbar darauf, am 3. Januar 1904, folgte die Verkündung des Ausnahmezustandes. Telluride wurde durch Einführung der Zensur für Presse, Telegraf und Telefon von der Außenwelt abgesperrt. Den Pressekorrespondenten wurde mitgeteilt, dass sie ihre Berichte dem Bürgerbund zur Begutachtung vorzulegen hätten. Diese Anordnung fand natürlich nicht den Beifall der Reporter, und so drangen allerhand Gerüchte in die Blätter von Denver. Wir hatten J. C. Williams, unseren Vizepräsidenten, nach Telluride geschickt, um die Finanzierung des Streiks im Bezirk San Juan zu leiten, außerdem General Engley von Cripple Creek, einen Veteranen aus dem Bürgerkrieg, um für die verhafteten Streikenden zu sorgen. In Telluride fand gerade ein Literaturabend im Gewerkschaftslokal statt, als eine Abteilung Soldaten in den Saal marschierte und die Verordnung über den Ausnahmezustand bekannt gab. In derselben Nacht noch wurden General Engley und J. C. Williams zusammen mit einunddreißig anderen Männern in die Stadt Ridgeway abgeschoben. Unter ihnen befand sich auch Guy Miller, Präsident des Bergarbeiterverbandes von Telluride. Nach der Ankunft in Ridgeway mussten sie sich in Reih und Glied auf der Straße aufstellen. Man erklärte
ihnen, sie seien aus dem Bezirk San Miguel abtransportiert worden, weil sie dort unerwünscht seien. Das Heitere an der Sache war, dass sie nicht dort blieben, wohin man sie abgeschoben hatte, sondern dass sie nach Telluride zurückkehrten, bis sie schließlich wieder fortgeschafft wurden. Williams berichtete uns selbst in Denver, wie Joe Barnes sich in einem Fass nach Telluride hatte zurücktransportieren lassen.
Williams berichtete ferner, dass die Gewerkschaft vom Bezirksstaatsanwalt Howe die Schließung der Spiellokale für die Dauer des Streiks verlangt habe. Die Bergarbeiter, das hatte die Erfahrung gelehrt, würden in den Spielhöllen eine Masse Geld verlieren; die Gewerkschaft aber wäre stärker, wenn das Geld in der Tasche der Arbeiter bliebe und nicht in die Hände der berufsmäßigen Spieler wanderte.
Bei einem Trupp von Deportierten war auch der Leiter der Arbeiter-Konsumgenossenschaft in Telluride, A. H. Floaten. Er kam nach Denver in unser Büro mit zerrissenen Kleidern und blutbeflecktem Hemd und erzählte, dass Soldaten und bewaffnete Strolche spät abends sein Haus überfallen hätten, als er sich eben niederlegen wollte, dass sie ihn halbangekleidet, mit den Schuhen in der Hand, herausgezerrt hätten. Am Kopf hatte er eine zollgroße, klaffende Wunde, die ihm ein gewisser Walter Kinley mit dem Gewehrkolben beigebracht hatte.
Nach diesen Deportationen ereignete sich nichts von besonderem Interesse bis zum l. März, als wieder vierunddreißig Arbeiter wegen „Landstreicherei" verhaftet wurden. Siebenundzwanzig davon wurden zu fünfundzwanzig Dollar und Zahlung der Gerichtskosten verurteilt und vor die Wahl gestellt, bis um zwei Uhr des nächsten Tages entweder ihre Strafen zu zahlen und den Bezirk zu verlassen oder Arbeit anzunehmen. Sechzehn über nahmen Arbeit bei der städtischen Kanalisation. Einer der Leute, der Finne Harry Maki, weigerte sich. Er wurde mit Handschellen an eine Telegrafenstange gefesselt und dort viele Stunden lang in der Kälte stehen gelassen. Danach wurde er sechsunddreißig Stunden ohne Nahrung ins Gefängnis gesperrt. Wir hatten nach Engleys Deportation den Anwalt Edmund H. Richardson aus Denver nach Telluride geschickt, um Murphy in der Erteilung der Rechtshilfe zu unterstützen. Seine hohe Meinung von Recht und Gesetz war erschüttert, als er zurückkehrte, obwohl er eine Revision der Beschlüsse in den „Landstreicherei"-Fällen erwirkt hatte. Er erzählte, die Bergarbeiter hätten alle zusammen elfhundertachtundvierzig Dollar besessen, all sie dem Gericht vorgeführt wurden, und außerdem hatten sie die Gewerkschaft hinter sich. Die Gefangenen wurden freigesprochen, aber Richardson saßen die Vorderzähne nur mehr locker im Mund. Walter Kinley, der Raufbold, hatte sich aus Rache für das strenge Kreuzverhör, dem er von dem Anwalt unterzogen wurde, auf ihn gestürzt, als er den Gerichtssaal verlassen wollte. Der Organisationsanwalt John Murphy appellierte an den Bezirksrichter Stephens, um eine Verfügung zum Schutz der nach Hause zurückkehrenden Bergarbeiter vor dem Terror der Mitglieder des Bürgerbundes zu erreichen. Diese Verfügung wurde gewährt, aber die Militärbehörden kümmerten sich nicht um gerichtliche Verordnungen. Murphy sagte, es sei eine bemerkenswerte Gerichtsverfügung gewesen, die vom Richter Stephens an dem Tag erlassen wurde, als er beschloss, den für Mai festgelegten  Gerichtstermin  wegen  Missachtung des Gerichtshofes seitens des Bürgerbundes und des Militärs, das den Bezirk überfallen hatte, zu verschieben. Der
Richter hatte erklärt: „Es wäre einfach eine Farce, zu versuchen, in diesem Bezirk das bürgerliche Gesetz anzuwenden."
Der Kampf zog sich noch durch den ganzen Sommer. Dann wurde die Miliz abberufen und der Streik beigelegt. Gegen Ende November veröffentlichten die Gruben Bekanntmachungen, dass ab 1. Dezember der Achtstundentag gelte, bei Lohnsätzen, wie sie der Verband vor fünfzehn Monaten gefordert hatte. In diesen Tarifvertrag waren auch die Köche, Bäcker, Aufwartefrauen und Geschirrspüler einbezogen.
Während der langen Dauer des Streiks waren von den vielen hundert Mitgliedern der Gewerkschaft im Bezirk San Juan nur siebzehn desertiert. Auch nach der Beilegung des Streiks fuhr der Bürgerbund fort, Strolche wie Runnels, Meldrum und Kinley zu beschäftigen. Diese versuchten fortgesetzt, die Bergarbeiter zu bedrohen und einzuschüchtern. Durch die Drohung, dass niemand, der gegen den Gouverneur Peabody spreche, im Bezirk San Miguel bleiben dürfe, vertrieben sie schließlich viele Arbeiter.

 

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