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William Dudley Haywood - Unter Cowboys und Kumpels (1930)
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Drittes Kapitel
Heimstätte und schwere Zeiten

Das alte Fort war in der Art angelegt, wie man es damals oft im Westen sah. Es erstreckte sich im Viereck rings um einen gut gehaltenen Rasen, der als Paradeplatz diente. Wenn man durch das große Tor der Schutzwehr aus Stacheldraht trat, lagen die Scheunen und Ställe zur Rechten, ein großer Kornboden, der auf Pfählen über dem Boden errichtet war, zur Linken. Auf jedem Pfahl lag unmittelbar unter den Querbalken ein Zinnkessel mit der Wölbung nach oben, um Ratten und Mäuse vom Speicher abzuhalten. Die Soldatenbaracken lagen auf der einen, die Offiziershäuser auf der anderen Seite des Paradeplatzes. Es waren kleine, aber nette, solide, aus Holz gebaute Wohnungen. Die Offiziere hatten für Schutz gegen den Winterfrost gesorgt und große Stöße von Mahagoniholz angeschafft, das vierzig bis sechzig Dollar pro Klafter kostete und von weither mit Maultieren über die Bergpfade herangeschleppt werden musste.
Wir richteten uns in dem früheren Haus des Kommandanten ein. Unser Mobiliar war bescheiden; es gab weder Jalousien, noch Vorhänge an den Fenstern, noch einen Teppich auf dem Fußboden. Ein großes Bett, ein Tisch
und ein paar Stühle bildeten zusammen mit dem Küchengerät unseren ganzen Hausrat.
Meine Frau war eifrig mit dem Nähen von Kinderwäsche beschäftigt. Eines Morgens, früher als wir erwartet hatten, sagte sie mir zu meinem Schrecken, die Geburtswehen hätten eingesetzt. Wir waren allein und hatten beabsichtigt, die zehn Meilen entfernt wohnende Mrs. Vance zu holen, die unter den Nachbarn Hebammendienste leistete. Meine Frau glaubte, es wäre noch Zeit hinzufahren und die alte Frau zu holen. Also schirrte ich an und fuhr in halsbrecherischem Tempo um Hilfe zur Farm der Vances, wo die alte Dame gleich Hut und Mantel nahm und in den Wagen stieg. Ich brauchte nicht einmal zwei Stunden, um die zwanzig Meilen zurückzulegen.
In der Zwischenzeit waren auch Vater und Mutter meiner Frau aus Willow Creek angelangt. Mrs. Vance eilte ins Haus, während ich erst das Gespann zur Scheune zurückfuhr, meinem Schwiegervater das Abschirren überließ und der Hebamme nachlief. Dort erwartete mich ein toller Anblick: Meine Schwiegermutter war ohnmächtig geworden, als sie das Stöhnen ihrer Tochter gehört und begriffen hatte, was vor sich ging. Da lag sie nun am Fußboden, und als Mrs. Vance in das Zimmer kam, fiel auch sie in Ohnmacht. Ich machte kehrt, holte einen Eimer voll Wasser, das ich ihnen in aller Eile übers Gesicht schüttete, und ließ sie dann liegen, wie sie hingefallen waren.
Ich habe mich in mancher verzweifelten Lage gesehen, aber keine erforderte so viel Ruhe und Kaltblütigkeit von mir, wie diese. Ich wusste nicht, was zu tun war, und fürchtete, meine Frau würde sterben. Sie schien fürchterliche Schmerzen auszustehen. Ich sagte ihr einige Worte der Ermutigung, und während sie stöhnend mit zunehmenden Schmerzen dalag, griff ich nach dem medizinischen Handbuch und las in aller Eile darin nach, was ich über Geburtshilfe finden konnte. Ein Mädchen wurde geboren. Ich hatte bereits die Nabelschnur abgebunden und abgeschnitten, als Mrs. Vance wieder zur Besinnung kam. Ich war bis dahin zu beschäftigt gewesen, um von ihr weiter Notiz zu nehmen; und gerade als ich die Nachgeburt beseitigte, erwachte auch meine Schwiegermutter aus ihrer Ohnmacht. Schließlich hatten sich die beiden alten Frauen so weit beruhigt, dass sie etwas Wasser aufsetzen und meine Frau und das Neugeborene waschen konnten. Die Kleine war hübsch und gesund, obwohl sie keine fachmännische Geburtshilfe, sondern nur die unerfahrene Hilfe ihres Vaters gehabt hatte.
Meine Frau kam gut über alles hinweg. In der ganzen Verwirrung, die durch das unerklärliche Verhalten der alten Damen entstanden war, benahm sie sich ruhiger als irgendeiner von uns. Solange sie noch im Bett lag, kam Old Jim Horsehead, ein Piute-Indianer, jeden Morgen, drückte seine Nase gegen die Fensterscheibe und fragte:
„Was machen Frau und Baby?"
Er zeigte das größte Interesse für die Fortschritte des Kindes. Die Behauptung von der Grausamkeit der Indianer rührt nur aus einem Vorurteil gegen diese her; ich habe viele Indianer kennen gelernt und habe gefunden, dass sie liebevoller und treuer zu ihren Freunden sind, als so manche andere Leute.
Im Frühling arbeitete ich bei einer Vermessungsgruppe der Regierung, die den Landstrich um Black Rock und Quin River Sink vermaß. Moran, der Feldvermesser, hatte seine Leute für die Arbeit gut ausgewählt. Im ersten Monat richteten wir Pfähle her, sägten sie in der richtigen Länge ab, spitzten sie zu und zogen provisorische Linien. Im April allein vermaßen wir neunhundert Meilen, einen Durchschnitt von dreißig Meilen pro Tag, einschließlich der Sonntage. Nach Beendigung der Vermessungsarbeiten wandte ich mich nach Paradise Valley, wo ich während der Heuerntezeit für die Brüder Reese arbeitete. Aaron Reese war ein vierschrötiger Walliser mit braunrotem Gesicht und rotem Bart. Auf seiner Ranch waren ein paar prächtige Burschen, die in den Mußestunden aus einem großen Vorrat von interessanten Geschichten auszukramen pflegten.
Wenn auf dieser Ranch die wilden Pferde an das Geschirr gewöhnt wurden, konnte man alle Sensationen eines Ben-Hur-Wagenrennens durchkosten. Wir pflegten ein sanftes, folgsames Pferd vor eine Mähmaschine zu spannen, nachdem wir die Sichelstange aufgehoben und festgebunden hatten, und das wilde Pferd daneben. Kaum wurde es losgelassen, so versuchte es mit einem verzweifelten Ruck, sich von dem ungewohnten Ding zu befreien, aber die Maschine ratterte und klapperte hinter ihm her. Man brauchte weiter nichts zu tun, als die Pferde laufen zu lassen. Das zahme und an das Geschirr gewöhnte Pferd leistete dabei die beste Hilfe, da es, wenn man am Zügel zog, in die gewünschte Richtung lenkte und den wilden Kameraden zwang, in großen Kreisen mitzulaufen. Nach zwei bis drei Übungen dieser Art konnten wir das Tier schon beim Grasschneiden verwenden.
Nach der Heuernte arbeitete ich noch mit einer Dreschermannschaft. Es gab eine Menge kleiner Farmer, die Korn zu dreschen hatten. Wir waren eine gute Arbeitsgruppe und droschen mit unserer Maschine mehr Getreide aus, als in diesem Tal jemals vorher gedroschen worden war. Es stellte sich aber heraus, dass der Boss der Gruppe uns fünfundzwanzig Cent am Tag weniger auszahlen wollte als in der vorhergehenden Saison. Darauf warfen alle Leute die Arbeit hin und ließen die Dreschmaschine allein auf dem Felde stehen. Bis zu dieser Zeit hatte ich niemals viel getrunken und auch nur selten gespielt. Doch an dem Tage, als wir die Dreschmaschine stehenließen, gingen wir alle in die Stadt in Gillinans Wirtschaft, in der gerade ein Würfelspiel im Gange war. Ich begann mitzuhalten, und bevor die Nacht vorbei war, hatte ich alles, bis auf den Schlüssel zu der Eingangstür der Wirtschaft, gewonnen. Gillinan borgte sich Geld und gewann seinen Besitz zum größten Teil von mir zurück. Was mir verblieb, schickte ich heim.
Von Paradise Valley kehrte ich nach Eagle Creek zurück und arbeitete in der Caledonia-Grube. Hier erhielt ich von meinem Schwager die Nachricht, dass das bisher abgesperrte Gebiet von McDermitt zur Besiedlung freigegeben worden sei. Jeder Siedler konnte bis zu einhundertsechzig Acres, etwa 65 Hektar, Land in Besitz nehmen. Das so genannte Heimstättengesetz verlangte, dass der Ansiedler ein Haus bauen und das Land fünf Jahre hindurch beackern müsse, dann würde es ihm gehören.
Es war schon spät in der Nacht, als ich diese Nachricht erhielt, aber ich sprang dessen ungeachtet sofort aus dem Bett und ritt hinüber nach Fort McDermitt. Ich erinnere mich noch an die vielerlei Gedanken an ein eigenes Heim, die mir während meines Rittes durch den Kopf gingen. Die Ländereien des Forts betrugen nicht mehr als fünf- bis sechshundert Acres, auf denen wir unsere Heimstätten abgrenzen konnten. Wir waren unser zwei, mein Schwiegervater und ich, also war kein Platz mehr für andere Ansiedler, außer auf dem Wiesenland der Regierung im tiefergelegenen Gebiet, wo mein Schwager Jim sein Heim aufschlagen sollte. Obgleich wir wussten, dass sich die Nachricht über die Freigabe des Landes noch kaum verbreitet haben konnte, verloren wir keine Zeit, als erste dort zur Stelle zu sein, da die Farmen ein lohnendes Objekt waren. Wir erreichten McDermitt früh am nächsten Morgen und begannen gleich nach dem Frühstück unsere Grenzen abzustecken. Meine Farm befand sich gerade hinter dem alten Militärlager, an der breitesten Stelle des Tales. Wir legten auf unseren drei Siedlungsstellen die Grundsteine, dann machte ich mich nach Winnemucca auf, um Bauholz zu holen. Ich baute ein Holzhaus mit einem Raum und angebauter Küche. Die Wände und Decke des Zimmers tapezierte ich mit grober Leinwand, die ich wie ein Trommelfell spannte und weiß tünchte. Dann schaffte ich meine Frau und das Kind hinunter in das neue Haus. Das Leben bekam nun ein neues Gesicht; jeder Handgriff, den ich tat, ob ich Zäune baute oder Gräben zog, alles diente dem Aufbau eines eigenen Heims. Vielerlei Fragen tauchten auf und wurden besprochen: wo wir die Scheune bauen sollten, wo der Hühnerhof und wo der Platz für die Pferde liegen sollte, welche Bäume gepflanzt werden sollten. Es war sehr guter Boden, der Lehm reichte tief, und es ließ sich dort alles anbauen. Es gab viele Dinge, die wir anschaffen mussten und für die unbedingt Geld benötigt wurde. Ich fuhr nach Tuscarora, einem ungefähr einhundertfünfundzwanzig Meilen entfernten Grubenort.
Dort machte ich mich sofort zu den Bergwerken auf, um mich nach einer Arbeit umzusehen, und übernahm schließlich eine Pachtstrecke in der Navajo-Grube, die am Abhang des Mount Blitzen gelegen war. Um die Pachtstrecke abzubauen, musste das Erz erst mit einem Seil in den Tunnel, der zum Hauptschacht führte, hinuntergelassen und von dort aus an die Oberfläche gebracht werden. Das bedeutete, dass wir jeden Sack mehrfach zu schleppen hatten. Über Tage trugen wir die Säcke mit dem Erz entweder zur Schüttelsiebmaschine oder direkt an den Sortierer. Die Grubengesellschaft zahlte für das geförderte Erz. Rings um das Schachtgebäude lagen, bergehoch aufgestapelt, Bündel von Salbeigestrüpp; auf dieser Zeche wurden die Kessel noch mit diesen Liliputeichen geheizt. Das Kraut wurde angefeuchtet, bevor man es mit Forken in den Feuerraum warf. Meine nächste Arbeitsstätte war die Commonwealth-Grube. In dem Stollen, in dem ich arbeitete, lernte ich Jay Pollard kennen, den ich erwähne, weil ich ihn viele Jahre später in Cripple Creek, Colorado, wieder sah. Er nahm auch als Delegierter am Gründungskongress der Industriearbeiter der Welt, der IWW, in Chicago teil. Tuscarora war ein interessanter alter Grubenort. Es gab Gruben mitten in der Stadt. Die Gesellschaften unterhielten keine Pensionen oder Läden. Die Bergarbeiter lebten gewöhnlich zu Hause, aßen in Restaurants oder mieteten sich bei Privatfamilien ein. Die stark in Anspruch genommenen Wirtshäuser waren typisch für einen Grubenort. Gewöhnlich nahm ein langer Schanktisch die eine Längsseite ein, davor standen zwei oder drei Tische. Weiter hinten lag ein Spielzimmer, in dem vorzugsweise Faro oder Poker gespielt wurden. Eines Nachts stand ich gerade an der Bar in Louis Engels Wirtschaft, als der Wirt sich zu mir wandte: „Bill, sieh dir doch einmal die Gruppe am Farotisch an." Es waren acht Männer und eine Frau. Jeder von ihnen hatte schon ein bis sechs Leute umgebracht. Die Frau, Molly Forshay, hatte ihren Liebhaber getötet, hatte vor
Gericht gestanden und war zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt worden. Nach ungefähr zweijähriger Haft rückte sie mit der Überraschung heraus, dass sie ein Kind erwarte. Um den Skandal zu vertuschen, in den der Gefängnisdirektor verwickelt war, wurde sie vom Gouverneur begnadigt.
Dann war da noch ein Fuhrmann, der Frachten auf der Straße von Tuscarora nach Elko transportierte. Man sah ihn ständig in den Wirtschaften herumlungern und spielen und rauchen, aber niemals trank er; er hatte geheiratet, aber die Frau ließ sich bald wieder scheiden. Später zog dieser Fuhrmann Frauenkleider an, heiratete zum zweiten Mal, diesmal einen Mann, und bekam viele Kinder! Man nannte sie die „Was-ist-es von Tuscarora". Sie hatte Männerkleidung angezogen, um mehr Geld zu verdienen, als für Frauenarbeit bezahlt wurde. Trinken, Spielen und Tanzen waren nicht unsere einzigen Vergnügungen. Wir hatten auch einen Lyzeum-Klub, in dessen Studien- und Diskussionszirkeln den jungen Leuten Gelegenheit geboten wurde, etwas Geschichte, Literatur und anderes zu lernen. Tom Minor, der zur selben Zeit auf der „P-bench"-Ranch in der Nähe von Tuscarora arbeitete, kam eines Tages in die Stadt. Wir beschlossen, nach Hause auf Besuch zu fahren. Tom hatte natürlich seine eigene Ausrüstung. Ich lieh mir Pferd und Sattel.
Wir ritten beizeiten los und kamen am frühen Nachmittag des nächsten Tages daheim an. Die Familie freute sich, uns zu sehen, und ich war überglücklich, wieder bei meiner Frau und dem Baby zu sein. Aber unser Glück wurde durch den Zustand meiner Frau gestört, die gerade einen neuerlichen Anfall ihres, wie die Ärzte behaupteten, rheumatischen Leidens bekommen hatte. Als Mädchen war sie von einem Pferd gestürzt und hatte eine Verletzung der Wirbelsäule davongetragen, die auf ihre Gelenke zurückwirkte. Diese schwollen an und verursachten ihr große Schmerzen, unter denen sie ihr ganzes Leben zu leiden hatte. Ich beschloss sofort, ein letztes Mittel zu versuchen und sie zu den Kyle-Quellen zu bringen, die hundertvierzig Meilen entfernt lagen. Unser Bettzeug, Proviant und eine Lagerausrüstung lud ich auf einen Wagen, und wir machten uns auf den Weg. Das Baby ließen wir bei der Großmutter. Nach dreitägiger Fahrt erreichten wir die Kyle-Quellen. Die heilkräftige Wirkung des Wassers war weit und breit bekannt, aber jetzt lag der Ort verlassen da, weil die Gruben in diesem Teil des Landes erschöpft waren. Auf einem unfruchtbaren, öden Fleck, nicht weit vom Berge Cinnabar, stand ein Haus mit vier oder fünf Zimmern. Unionville und andere alte Bergwerksorte lagen acht bis zehn Meilen entfernt in den Bergen jenseits des Tales. Hier und da gab es kleine Farmen und Ranches.
Drei oder vier Wochen lebten wir hier allein, nur einmal kampierten ein paar Indianer einige Tage an den Quellen. Meine Frau war hilflos, damals sogar unfähig zu gehen, so dass ich sie überall hintragen musste. Nicht einmal selbst ankleiden konnte sie sich. Des Morgens fütterte ich die Pferde, reinigte den Stall, brachte, auf dem einen Tier reitend und das andere am Zügel führend, die Pferde zur Tränke, da es nur weiter oben am Canyon, ungefähr eine Meile weit entfernt, frisches Wasser gab. Nach der Rückkehr wusch und kochte ich, brachte meiner Frau das Frühstück und spülte das Geschirr. Dann rollte ich die Kranke in eine Decke und trug sie an die Quellen. Hier grub ich eine Mulde in den Schlamm, legte sie hinein und bedeckte den Körper bis zum Halse mit feuchtem, warmem Schlamm. Von dem
Schlammloch, das im Freien lag, trug ich sie zum Bade, spülte den Schlamm ab, wickelte sie in eine Decke und brachte sie wieder zurück ins Haus. Am Nachmittag trug ich sie aufs neue an die Quellen, diesmal, um sie in Alaunbäder zu tauchen. Diese lagen in einem Loch, das so schmal war, dass ich Acht geben musste, damit die Kranke sich nicht an den Steinen verletzte. Darauf folgte noch ein Dampfbad und ein Tauchbad. Nachdem wir fast einen Monat an den Quellen zugebracht und die verschiedenen in der Nachbarschaft gelegenen Ranches besucht hatten, stellte ich eines Tages bei der Durchfahrt durch Unionville meine Frau auf eine Waage und entdeckte, dass sie nur noch achtundachtzig Pfund wog. Sie hatte fünfundzwanzig Pfund oder mehr abgenommen. Wir ersahen daraus, dass die Kur an den Quellen zu anstrengend für sie war, und beschlossen, nach Hause zurückzukehren, obwohl ihr Zustand sich noch nicht gebessert hatte. Dort versuchten wir es dann mit Schlangenöl, Salbeibädern und anderen Heilmitteln der Indianer.
Nach unserer Rückkehr von den Kyle-Quellen arbeitete ich auf meiner Farm, baute das Eingangstor fertig, schnitt Pfosten für den Zaun zurecht und hob Gräben aus. Als das alte Grubenfieber wieder erwachte, ging ich in die Berge und übernahm einige Vermessungsarbeiten. Ich vermaß die Wild-Deer-Grube am Flat Creek und zwei andere neu entdeckte Gruben jenseits des Bergrückens am Granite Creek. Dort wurden später außerordentlich reiche Golderzlager entdeckt und National City, ein großer Grubenort, gegründet. Damals herrschte eine schwere Wirtschaftskrise, die sich zu einer wahren Panik auswuchs. Es war sehr schwer, Arbeit zu finden. Mein Schwager Jim und ich gingen nach Delamar. Dort gab es genug Arbeitslose, und wir erfuhren nur, dass für die nächste Zeit keine Aussicht auf Beschäftigung bestehe. Also machten wir uns auf den Heimweg. Die erste Nacht blieben wir bei Billy Beers, der auf einer großen Ranch mit einer großen Familie und einer großen Menge Vieh hauste. Alles war groß an Billy Beers, und er selbst war ein großer, gutherziger Bursche, der große Mahlzeiten liebte. Als wir uns an den Tisch setzten und die Bratenschüssel nicht so reich gefüllt war, wie sie es seiner Meinung nach sein sollte, sagte er in gutmütigem Tone:
„Mama, können wir keinen ordentlichen Braten kriegen? Gott verdamm mich, können wir keinen Braten haben? Hier haben wir tausend Köpfe gottverdammter Rinder und einen gottverdammten Chinesen, der sie jederzeit schlachten kann, und wir können keinen gottverdammten Braten kriegen? Gott verdamm mich, Mama, können wir wirklich keinen Braten haben?"
In diesen Tagen der Sorgen und Not erhielt mein Schwiegervater die amtliche Mitteilung von der Regierung, dass das Land, auf dem wir uns angesiedelt hatten, für die Indianer reserviert bleiben solle. Meinen Schwager Jim berührte das nicht, da er seine Siedlung im Wiesenland gegründet hatte. Aber für den alten Mann und für mich war die Botschaft ein furchtbarer Schlag. Es schien, als sei ein schwarzer Vorhang vor die Zukunft gefallen; es gab keinen Hoffnungsstrahl. Da kam eine verzweifelte Entschlossenheit über mich, und ich schwor, dass wir nicht verhungern würden, solange ich noch das alte Springfieldgewehr hätte und Vieh in der Gegend zu finden wäre. Kurz nachher brachte ich meine Frau und das Kind nach Winnemucca. Nichts war uns übrig geblieben; nicht einmal eine Entschädigung für die Arbeit, die ich an die Siedlung gewandt hatte, für das Haus, das ich gebaut, die Gräben, die ich gezogen, die Bäume, die ich gepflanzt hatte. Mein Geld war völlig aufgebraucht. Es bestand keine Aussicht, in diesem Teil von Nevada Arbeit zu finden, und so machte ich mich nach Angels Camp in Kalifornien auf. Bis Auburn schlug ich mich durch, nur, um zu erfahren, dass ein Feuer in der Stadt gewütet habe und auch dort eine Menge Leute arbeitslos seien. In Reno, Nevada, begegnete ich einem Trupp Männern von Coxeys Arbeitslosenarmee, der nach dem Osten marschierte. Durch die Schneefelder von Truckee fuhr ich zusammen mit einem anderen Burschen in einem geschlossenen Güterwagen, in dem es so kalt war, dass Eiszapfen von der Decke und von den Wänden herunterhingen. Wir mussten im Wagen auf und ab gehen und ständig in Bewegung bleiben, um nicht zu erfrieren.
Von Reno aus wanderte ich mit einem Trupp der „Armee" nach Wadsworth. Einige der Männer erzählten, dass sie in die Bundeshauptstadt Washington gingen, um Arbeit zu verlangen, und dass andere Trupps von Arbeitslosen aus dem Süden und Osten zum gleichen Zweck anmarschierten. Einer sagte, dass „General" Coxey vom Kongress verlangen wolle, ein Gesetz über die Inangriffnahme von Straßenbauten zu beschließen, ein, anderer sprach etwas von „zinsenfreier Staatsanleihe". Mir schien es, als marschierten sie alle als lebende Petition nach Washington, um Arbeit zu fordern oder zu verlangen, dass die Regierung Beschäftigung für die Arbeitslosen schaffen solle. Es war eine der größten Arbeitslosendemonstrationen in den Vereinigten Staaten, obwohl schließlich nur eine geringe Zahl Washington erreichte. Die verschiedenen „Armeen" durchzogen das Land in Frachtzügen; manchmal zwangen sie die Eisenbahngesellschaften, sie weiterzubefördern. Die Bürgermeister der Städte, in denen sie in Scharen erschienen, mussten, um sie wieder loszuwerden, alle verköstigen und ihnen die Weiterfahrt ermöglichen. In Wadsworth sah ich mich um und entdeckte, dass ein Viehtransport nach Chicago abgehen sollte. Es glückte mir, neben vier oder fünf anderen Leuten eine Anstellung als Zugbegleiter zu bekommen. In Winnemucca verließ ich den Zug und ging nach Hause, niedergeschlagener, als ich jemals in meinem Leben gewesen war. Ich verstand das Problem der Arbeitslosigkeit nicht und konnte mir nicht erklären, warum Tausende von Menschen den Kontinent durchqueren mussten, um in Washington Arbeit zu fordern. Meine Gedanken wanderten mehr und mehr zurück zu den Gesprächen, die ich mit Pat Reynolds geführt hatte. Er hatte mir erklärt, dass diese Krisen, in denen die Arbeiter die Hauptleidenden waren, eine Folge des kapitalistischen Systems seien. Aber ein Heil- oder Vorbeugungsmittel fiel mir nicht ein. Ich mühte mich ab in geistiger Dunkelheit.
Plötzlich durchbrach ein starker Lichtstrahl das Dunkel: der Streik der Eisenbahner im Jahre 1894. Lastzüge, beladen mit leicht verderblichem Obst, das für die östlichen Märkte bestimmt war, wurden auf Nebengeleise gefahren, ebenso Waggonladungen mit Kohle und anderen Produkten, die nach dem Westen gehen sollten. Der Streik des Amerikanischen Eisenbahnerverbandes breitete sich aus. Die Gouverneure mehrerer Staaten hatten die Miliz einberufen. In Sacramento, Kalifornien, beantworteten die Milizionäre den Feuerbefehl damit, dass sie die Bajonette in den Boden steckten und nicht schossen.
Die Miliz von Winnemucca weigerte sich, dem Mobilisierungsbefehl Folge zu leisten. Die meisten Milizionäre waren selbst Eisenbahner, die die Miliz als eine Institution im Interesse der Allgemeinheit ansahen. Sie hatten keine Lust, die Waffen auf die Schulter zu nehmen, um das Eigentum der Eisenbahngesellschaften zu schützen. Die Stadt war mit Orangen und anderen Gütern aus den abgestellten Zügen überschwemmt; aber es war besser, sie zu essen, als sie verderben zu lassen. Man brauchte Kohle für den Winter, und die Burschen dachten nicht daran, jemand umzubringen, weil er sich einen Kohlevorrat für das kalte Wetter anlegte. Die Mitglieder der Eisenbahnergewerkschaft hatten sich gegen die Interessen der Eisenbahngesellschaften erhoben. Präsident Cleveland hatte die Bundessoldaten nach Chicago gegen die Arbeiter geschickt, die in den Pullmann-Schlafwagenbetrieben streikten. Eugene V. Debs und andere waren verhaftet und einer „Verschwörung zum Mord" angeklagt worden, und als diese Anklage fallengelassen werden musste, wurden sie wegen Missachtung des Gerichts ins Gefängnis geschickt. Vielen heißen Diskussionen über diese offene Ungerechtigkeit hörte ich zu und nahm an ihnen teil. Hier, das fühlte ich, war eine große Macht. Es handelte sich nicht darum, dass Waren aus den Waggons fortgenommen wurden; die Streikenden standen hoch über diesen Dingen. Das Große an ihnen war, dass sie die Züge zum Stillstehen bringen konnten. Es war die Lehre der „Ritter der Arbeit", ein Echo der Stimmen der Märtyrer von Chicago.
Zu dieser Zeit erkrankte unser kleines Mädchen an typhöser Lungenentzündung. Viele Tage und Nächte lang wachte ich ununterbrochen an seinem Bett. Als die Krise überstanden war und es sich zu erholen begann, glaubte ich nicht, dass ich jemals wieder zu schlafen vermöchte. Ich wanderte durch das Haus, ich wanderte durch die Stadt, kehrte nach Hause zurück, dunkelte das
Zimmer ab und trank Whisky. Endlich schlief ich ein und wachte erst nach vierundzwanzig Stunden wieder auf.
Als meine Frau, die damals umhergehen konnte, eines Nachmittags von einem Ausgang zurückkam, entdeckte sie, dass ein Einbruch verübt worden war. Der Verlust einiger kleiner Andenken schmerzte uns nicht so sehr, wie uns die Tatsache des Einbruchs selbst aufbrachte. In den Grubenorten und auf den Ranches war es niemals nötig gewesen, abzuschließen. Wir pflegten die Wohnungen tagelang zu verlassen und den Schlüssel an den Türpfosten zu hängen. Wenn ein Fremder vorüberkam, ging er vielleicht hinein, nahm sich etwas zu essen oder schlief im Hause, räumte nachher wieder auf, hing den Schlüssel an seinen Platz und ging weiter. Niemand hatte uns jemals bestohlen. Im Gegensatz zu den Geschichten, die von ihnen erzählt werden, nahmen die Indianer nicht einmal etwas aus den verlassenen Gruben orten, wo doch Töpfe, Pfannen und Tische herrenlos umherlagen. Einmal verließ ich das Haus bei der Ohio-Grube auf mehrere Monate; als ich zurückkam, stand die Tür offen, aber die Revolver und Betten, für die Indianer so wertvoll, waren unberührt geblieben. Ein Goldfieber brach aus, als man an einem Orte namens Kennedy auf Gold stieß. Zusammen mit Al Richardson machte ich mich auf, mietete eine Hütte und bekam Arbeit bei der Imperial-Bergbaugesellschaft. Ich erinnere mich, dass ich eines Abends zu Bett ging und beim Aufwachen am nächsten Morgen entdeckte, dass über Nacht vier neue Häuser an der Straße aufgestellt worden waren. Später übernahmen wir einen Vertrag zum Bau eines hundert Fuß langen Tunnels. Wir mussten selbst unser Werkzeug schleifen, den Schutt wegfahren und das Pulver beschaffen.
In Kennedy adoptierte mich „Jerry der Penner". Jerry war ein stichelhaariger Skyeterrier. Nachdem er in mein Häuschen eingezogen war, machte ich es ihm so bequem wie möglich, und er folgte mir, wohin ich auch ging, auf Schritt und Tritt. Die Leute in der Stadt sagten: „Du meinst wohl, du hast jetzt einen Hund, nicht wahr? Aber der bleibt nicht bei dir. Jerry der Penner ist schon mal so."
Aber Jerry schien mich ebenso gut leiden zu können, wie ich ihn. Eines Tages, als ich unten in der Stadt beim Postamt war, vermisste ich ihn. Auf dem Heimwege sah ich ihn auf dem Bock eines Frachtwagens sitzen und rief ihm zu:
„Hallo, Jerry, was tust du da?"
Er schien mich nicht zu hören. Ich ging näher heran.
„Komm, wir wollen nach Hause gehen."
Jerry wendete seinen Kopf ab.
„Na schön", sagte ich, „wenn du so darüber denkst, dann auf Wiedersehen!"
Jerry war etwa zwei Wochen fort, als ich ein Kratzen an der Tür hörte, öffnete, und er hereinkam, mit dem Schwanzstummel wedelnd, gerade als ob nichts geschehen sei. Er bekam zu fressen und bezog aufs neue seine alte Ecke. Er verließ mich niemals wieder, solange ich in Kennedy blieb.
Die Arbeit in Kennedy wurde eingestellt und der Ort geräumt, sogar noch schneller, als er aus dem Boden aufgeschossen war. Wieder musste ich nach Winnemucca zurück und arbeitete dort kurze Zeit als Kutscher. Dann ließ ich meine Familie wieder zurück und ging nach Washburn, wo sich mein Schwiegervater erneut angesiedelt hatte, um die Grenzen seiner Farm zu vermessen. Wir transportierten mein kleines Haus von unserer alten Heimstätte dorthin und machten daraus einen
Anbau zu dem Haus, das sich mein Schwiegervater auf seiner neuen Siedlung errichtet hatte. Ich beschloss, mein Glück in Silver City, Idaho, zu versuchen, und gab einigen Männern, die zu dem dortigen Rennen wollten, meine Decken mit. Ich rechnete damit, vor ihnen dort einzutreffen, da sie langsam reiten mussten, um ihre Pferde in guter Form zu erhalten. Noch einmal schaute ich in das Tal zurück, über die wundervollen, salbeibewachsenen Ebenen hinweg auf die Berge, in denen ich so viele Jahre geweilt und in denen ich mein Leben zu verbringen gedacht hatte. Dann verließ ich Nevada und sollte es erst viele Jahre später wieder sehen.

 

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