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William Dudley Haywood - Unter Cowboys und Kumpels (1930)
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Zweiundzwanzigstes Kapitel
Im Zuchthaus

Eines Tages wurde uns mitgeteilt, dass wir nach Leavenworth übergeführt würden. Ich befand mich damals in einer Zelle an der Rückwand des Gefängnisses. Ich hörte das Knarren der Schlüssel und das Zuschlagen der Zellentüren, als die Männer herausgeholt wurden. Außerdem drangen die Rufe der zurückbleibenden Gefangenen bis in meine Zelle: „Auf Wiedersehen, viel Glück!" Ich wusste gar nichts über den Ort, wohin ich nun kommen sollte, aber ebenso wie die anderen war ich froh, das düstere, moderige Bezirksgefängnis von Cook verlassen zu können.
Mich ließ man bis zuletzt. Jim Rowan ging gerade vor mir, und als wir zum Büro des Gefängnisvorstehers kamen, legte uns Davies, der Kerkermeister und Henker, Handschellen an. Mein Blut begann fast zu sieden, als seine Finger meine Gelenke berührten. Ich dachte in diesem Augenblick unwillkürlich an die vielen Unglücklichen, die er aus dem Leben befördert hatte. Seine Hände hatten achtundfünfzig Menschen den Strick um den Hals gelegt.
Als ich den Gefangenenwagen bestieg, sagte ein danebenstehender großer, kräftiger Polizist: „Diesem Burschen möchte ich gern eine Kugel in den Wanst jagen." Ich hatte diese Bemerkung nicht selbst gehört, aber einer der Genossen erzählte mir davon später im Zuge. Die lange Reihe der Wagen setzte sich zum Bahnhof La Salle Street in Bewegung. Wir fuhren an der Rückseite des Gebäudes vor und wurden in einen Sonderzug verladen. Die vielen Gefangenen und eine starke Bewachungsmannschaft wurden in die Waggons verteilt. Jerry Soper, der kräftigste Mann in unserem Wagen, wurde von den Handschellen befreit, um als Läufer zu dienen. St. John wurde an mein linkes Handgelenk gefesselt.
Der Posten, der unseren Wagen bewachte, wollte Jim Rowan, mit dem ich zusammengefesselt war, an den Sitz festketten. Auf diese Weise hätte ich mein rechtes Handgelenk freibekommen. Aber St. John protestierte. Er erklärte dem Wächter, dass ein Mann, der an den Sitz gekettet sei, im Falle eines Eisenbahnunglücks gar keine Möglichkeit hätte, sich zu retten. Das war wohl richtig, aber so blieb ich an zwei Kameraden angeschlossen. Der Wärter erwiderte nur kurz: „Nun, wenn Sie es so aushalten können, ich kann es."
Während der Fahrt inszenierte Ben Fletcher zum Zeitvertreib eine Gerichtsverhandlung. Die Art, wie er Richter Landis nachahmte, war äußerst komisch. Er saß auf der Bank zurückgelehnt, ernst dreinschauend und Tabaksaft spuckend. Er hatte seine Schuhe, seinen Kragen und seine Krawatte abgenommen und auch Rock und Weste, soweit er sich von ihnen freimachen konnte. Er griff nach seinen Hosen, um sie vor dem Herunterfallen zu bewahren, wie es der Richter einmal im Gerichtssaal getan hatte. Denn Richter Landis war nicht ein so feierliches, in Schwarz gekleidetes Individuum, wie man es sich oft unter einem Richter vorstellt. Während des heißen Sommers, in dem unser Prozess stattfand, war er so wenig bekleidet, als es der Anstand eben noch gestattete. Fletcher ahmte gut die Gebärden der Richter nach. Er nahm einigen Gefangenen den Geschworeneneid ab; dann rief er die Gefangenenwärter und Detektive zu sich und verurteilte sie ohne weitere Umstände zum Tode durch den Strang oder die Kugel oder zu lebenslänglichem Gefängnis.
Nachdem wir die ganze Nacht und den größeren Teil des folgenden Tages durch die Prärien gefahren waren, konnten wir in der Ferne das Zuchthaus von Leavenworth sehen. Als wir dort ankamen, fuhr der Zug in einen geräumigen, von Mauern aus roten Ziegelsteinen umschlossenen, lang gestreckten Korridor ein. Das große eiserne Gitter gegen die Außenwelt wurde geschlossen.
Wir stiegen aus und wurden in Reih und Glied gestellt; die Handschellen und Ketten wurden uns abgenommen und auf einen Haufen geworfen, alle zusammen hätten gut einen Schubkarren gefüllt.
Wir marschierten durch das innere Tor zur Kapelle. Zu unserer Linken lagen das Lazarett und die Zellenhäuser, die die eine Seite eines etwa zehn Acres großen Platzes füllten. Zur Rechten lagen die Tischlerwerkstätte, das Kessel- und Maschinenhaus. Rechts in der Ecke eine Ziegelei und ein Hof, auf dem Steine geschlagen wurden.
In der Kapelle führte mich der Gefängnisdirektor zu den Zeitungsreportern aus Kansas City. Ich hatte ihnen nicht viel zu sagen.
Der Direktor richtete dann eine Ansprache an uns und erklärte, dass jeder von uns im Zuchthaus als Individuum gelte, dass jeder als Häftling erster Klasse gelte und dass wir darauf bedacht sein sollten, diese Vergünstigung zu bewahren. Nach diesen Worten wurden wir den Kerkermeistern übergeben, die uns alles aus unseren Taschen nahmen und ein Verzeichnis der bei jedem einzelnen vorgefundenen Wertsachen anlegten. Viele von uns ließen ihre Zigaretten und den Tabak zu Boden fallen, da wir wussten, dass andere Gefangene sie gern aufheben würden.
In Zweierreihen marschierten wir darauf in den Speisesaal, eine große, geräumige Halle mit vielen Fenstern und langen Gängen, die zwischen den Sitzreihen an den kleinen schmalen Tischen hindurchführten. Vor jedem Tisch standen drei Klappsitze. Alle Gefangenen saßen mit dem Gesicht zum Musikpodium und zur Küche. Der Speisesaal sah mit seinen reingeschrubbten Tischen, mit den Tassen und Tellern aus weißem Porzellan, mit Messern und Gabeln und zwei roten Tomaten auf jedem
Platz recht anziehend aus. Das Ganze hatte Farbe, ein Anblick, den wir eigentlich nicht erwartet hatten. Wir wurden alle zum Zellenhaus „B" geführt. Auf dem Wege dahin kamen wir am Zellenhaus „D" vorbei. Die dort untergebrachten Gefangenen konnten uns von ihren Fenstern aus sehen und sandten uns einen kräftigen Willkommensgruß hinunter. Ich hörte eine Stimme: „Hallo, Bill!" rufen. Als wir das Zellenhaus „B" betraten, klang die Melodie der „Internationale" an unser Ohr. Ein Sozialist, Mitglied der Musikkapelle des Zuchthauses, hatte sein Instrument, eine Flöte, in die Zelle mitgenommen und begrüßte uns damit. In der ersten Nacht hauste ich zusammen mit Charles Ashleigh in einer Zelle im fünften Stockwerk. Wir waren müde, da wir in der vorangegangenen Nacht nicht geschlafen hatten, und wollten uns eben niederlegen, als ein Mann über das Geländer vor unserer Zelle geklettert kam und uns fragte, ob wir etwas zu rauchen wollten. Nichts hätte ich mir in diesem Augenblick mehr gewünscht. Er steckte uns etwas Tabak und Zigaretten zu und sagte: „Ich wäre beinahe erschossen worden, als ich versuchte, hier heraufzukommen." Später erfuhr ich, dass „erschossen" soviel bedeutete wie erwischt und angezeigt werden; die Folge ist in einem solchen Fall, dass der Erwischte am nächsten Morgen eine „Vorladung" bekommt, sich beim Vizedirektor melden muss und gewöhnlich ins „Schwarze Loch" gesteckt wird; außerdem verliert er einige Tage seiner „guten Zeit" als Gefangener erster Klasse. Am Morgen nach unserer Ankunft wurden wir nach einem Frühstück aus einer Hafergrütze, Brot, Sirup und Kaffee in die Kleiderkammer geführt. Dort wurden uns Schuhe und Kleider anprobiert und das Maß unserer Kopfweite genommen. Im Badehaus wurden unsere Kleider in separate Bündel gepackt. Nach einer Dusche wurde uns vom „Schwarzen" Chase, einem Kalfaktor, eine große Büchse mit blauer Salbe gereicht: „Schmiert euch damit unter den Armen, auf der Brust und zwischen den Beinen ein." Es war ein Mittel gegen Läuse und anderes Ungeziefer.
Dann zur nächsten Station: zum Barbier, um, noch immer nackt, rasiert zu werden. Erst dann erhielten wir unsere Gefängniskleider: Unterwäsche aus rauem Baumwollflanell, ein gestreiftes Hemd und ein paar blaue Overalls; außerdem zwei Paar Socken, zwei Taschentücher, einen Winteranzug aus grauem Stoff und einen Mantel mit Messingknöpfen. Dazu eine Kappe aus demselben Material. Man gestattete uns, unsere eigenen Schuhe zu tragen. Mit unseren Reservekleidern über dem Arm gingen wir dann ins Büro des Vizedirektors. Dort sollten wir unsere Zellen und unsere Arbeit zugewiesen bekommen.
Dieser Beamte fragte mich: „Haywood, die Zellen sind klein und würden für zwei große Leute ein allzu enges Quartier abgeben; gibt es unter den kleinen Männern einen, den Sie gern als Zellengefährten hätten?" Ich sagte: „Gut, ich werde mir einen aussuchen." „Lassen Sie mich seinen Namen sobald als möglich wissen."
Wladimir Losjew saß mir gerade gegenüber. Ich fragte ihn, wie es ihm gefallen würde, die nächsten zwanzig Jahre mit mir zusammen zu leben. Er erwiderte: „Das wäre fein!"
Wir saßen gerade im Korridor, als ich wieder in das Büro des Vizedirektors gerufen wurde. Er fragte mich: „Haben Sie sich einen Zellengefährten ausgesucht?" Ich erwiderte: „Jawohl, Wladimir Losjew." „Sie bekommen Zelle Nr. 200 im Zellenhaus ,D'."
Der Direktor erkundigte sich nach meiner früheren Beschäftigung, eine Frage, die ich ihm mit dem Hinweis beantwortete, dass ich während der letzten siebzehn Jahre hauptsächlich im Büro oder auf der Rednertribüne zugebracht hätte. Er wies mir daraufhin die Arbeit eines Schreibers in der Kleiderkammer zu. Meine Aufgabe sollte von nun ab sein, über alle Kleider, die den Gefangenen zugeteilt wurden, Buch zu führen. Die Zellen waren wirklich klein. In unserer Zelle, in der wir fast ein Jahr lang eingesperrt waren, konnte ich mich mit der Schulter an die eine Wand lehnen und mit ausgestrecktem Arm über die ganze Breite hinweg die gegenüberliegende Wand mit den Fingerspitzen berühren. Das Loch war ungefähr zehn Fuß lang. Ich schlief auf der oberen Pritsche.
Um 9 Uhr abends blies ein Hornist Zapfenstreich, und die Lampen wurden gelöscht. Des Morgens wurden wir um 6.30 Uhr durch das Reveillesignal eines Trompeters geweckt. Zur Mittagsstunde mussten wir in langen Reihen antreten, um in den Speisesaal zu gehen. Man kann sich unser Erstaunen vorstellen, als wir dabei die Klänge einer Musikkapelle zu hören bekamen. In langen Reihen marschierten wir die Gänge hinunter, wobei die ersten die rückwärtigsten Sitze einnahmen. In einigen Minuten hatten sich alle, die Gesichter der Musikkapelle zugekehrt, gesetzt. Dann kamen die Speiseausträger mit mächtigen Brettern voller Brot, wovon jeder soviel nehmen konnte, wie er wollte. Andere folgten mit Suppe; gekochte Kartoffeln gab es reichlich. Die Küche war mit großen Kupferkesseln ausgestattet, und fast das ganze Essen, außer dem Brot, wurde mit Dampf zubereitet, eine Methode, bei der alles gleich schmeckte. Auf unseren Gefängniskleidern waren schon an der Schulter des Hemdes und über beide Knie unsere Gefängnisnummern gestempelt. Meine war 13 106. Damit waren die Aufnahmeformalitäten allerdings immer noch nicht ganz erledigt. Am zweiten Tage nach unserer Einlieferung wurden wir mit unseren Nummern fotografiert, unsere Schädel gemessen und nach dem Bertillonsystem Fingerabdrücke von beiden Händen genommen. Dieser Prozedur folgte eine Unterredung mit dem Kaplan. Während meiner kurzen Unterhaltung mit diesem Himmelspiloten des Gefängnisses erklärte ich ihm, dass drei Institutionen in diesem Lande Gitter und Schlösser verwendeten: die eine sei das Gefängnis, um des Menschen Leib einzusperren; die zweite die Kirche, um seine Seele gefangen zu halten, falls er eine habe; und dann die Bank, die einem das Geld aufbewahre. Unsere fast einheitliche Opposition gegen jegliche Kirche oder Religion führte dazu, dass ein Befehl herauskam, dass Männer, die am Sonntagmorgen nicht in die Kapelle kommen wollten, in den Zellen zu bleiben hätten. Die meisten, wenn sie auch nicht an der Predigt des Kaplans interessiert waren, wollten unbedingt aus ihren Zellen herauskommen, und so gingen sie in die Kirche. Am folgenden Tage wurden wir alle ins Lazarett geführt. Wir mussten uns auskleiden, wurden gewogen, geimpft und von einem Zahnarzt untersucht. Nun, so kann man sagen, begann unser Gefangenendasein.
Eine große Gruppe von Männer arbeitete am Zellengebäude „A", das noch nicht fertig gestellt war. Jim Thompson erhielt den Posten eines Vorarbeiters über eine Gruppe von Betonarbeitern, von denen viele Mitglieder der IWW waren.
Eines Tages fragte ein farbiger Gefangener einen unserer Kameraden, ob dieser große Kerl Thompson ein IWW sei. Diese Frage wurde bejaht.
Aber der Farbige erwiderte: „Ich glaube nicht, dass e
ein IWW ist; er benimmt sich nicht wie ein IWW. Warum beeilt er sich die ganze Zeit? Ich sag dir, Kamerad, ich habe eine kleine schlaue Katze oben in meiner Zelle, und wenn dieser Bursche Thompson nicht aufhört, so anzutreiben, dann lasse ich diese Katze auf ihn los." (Anm.: Mit dieser „Katze" ist die Drohung mit Sabotage umschrieben; darum auch „sab cat" (Sabotagekatze) genannt. Die Red.) Eines Morgens marschierten Thompson und seine Gruppe in das Zellenhaus zur Arbeit. Am Abend vorher hatten sie eine Form ausgegossen und diese mit Schrauben zusammengehaltene Form zum Festwerden über Nacht stehen lassen. Aber als sie jetzt zu ihrem Arbeitsplatz kamen, waren die Muttern nicht mehr auf den Schrauben, und die Betonmasse hatte die Bretter auseinandergedrückt und sich über den Fußboden ergossen. Sie war während der Nacht so hart geworden, wie nur Beton werden kann.
Der Aufseher berichtete den Vorfall dem Vizedirektor, der Thompson vorladen ließ. Dieser meldete sich am nächsten Tage im Büro. Der Direktor verlas ihm das Gesetz über Sabotage und informierte ihn, was es in Bezug auf Geldstrafe und Haftstrafe zu bedeuten habe. Dann fragte er Thompson: „Gibt es jemand in Ihrer Gruppe, der Ihnen diese Sache eingebrockt haben könnte?" Thompson antwortete, dass er es nicht glaube. Darauf fragte der Direktor: „Nun, wie ist dann diese Sache geschehen?"
Thompson konnte nur erwidern, dass er es nicht wisse. Ziemlich niedergeschlagen ging er zur Arbeit zurück. Einer der Kameraden fragte ihn: „Warum wolltest du auch die Pflichten eines Vorarbeiters auf dich nehmen? Deine Arbeit ist nicht besser als meine, du bekommst nicht mehr Geld als ich, nämlich gar keines. Gib lieber
diesen Posten auf." Thompson gab ihn auf. Ein Neger übernahm den Posten, und es gab keine weiteren Ärgernisse mit der Sabotagekatze.
Eine Gruppe von IWW-Gefangenen arbeitete als Steinhauer. St. John war der Vorarbeiter dieser Gruppe. Aber er hatte es durchaus nicht eilig. Der Wärter war es, der zu meinen schien, es werde nicht genug Arbeit geleistet, und der begonnen hatte, seine Autorität geltend zu machen. Als er eines Tages in einem ziemlich lauten Ton einen der Burschen anfuhr, schlug ihn ein anderer mit einem Hammer über den Kopf. Er sackte bewusstlos hin. Eine Untersuchung wurde wohl eingeleitet, aber da keiner jemanden zuschlagen gesehen hatte, wurde die Sache fallengelassen, jedoch nicht vergessen. Der Sklaventreiber erholte sich wieder und spürte keine weiteren Beschwerden als etwas Kopfschmerzen. Eines Tages erhielt die Gruppe, die alle Gelegenheitsarbeiten zu verrichten hatte, den Auftrag, zwei Wagenladungen voll Kohle auszuladen. Die Männer hatten gerade an diesem Morgen gebadet. Durch das Kohleschaufeln wären sie sofort wieder schmutzig geworden und hätten eine ganze Woche so umherlaufen müssen. Sie protestierten dagegen und verlangten, man solle sie zum Direktor führen. Dieser schickte sie sofort in ihre Zellen und erklärte ihnen, sie würden entweder Kohlen schaufeln oder bei Wasser und Brot in ihren Zellen bleiben und während der Arbeitsstunden stehend an das Gitter angekettet werden.
Das Zellenhaus „C" war einigen hundert Negergefangenen eingeräumt. Unter ihnen waren einige, die zu lebenslänglichen Gefängnisstrafen wegen so genannter Meuterei im Heer in Houston, Texas, verurteilt waren. Ich wurde mit vielen dieser ehemaligen Soldaten bekannt, die früher in Brownsville, Texas, stationiert gewesen waren und von denen eine Anzahl bei der Niederschlagung des Streiks in Coeur d'Alene im Jahre 1899 mitgewirkt hatten. Sie waren ehrlich genug zu bedauern, dass sie sich seinerzeit hatten zwingen lassen, die Bergarbeiter zu bewachen, die im „Bullenstall" eingesperrt waren.
Die Sehkraft meines einen Auges wurde mit der Zeit so schlecht, dass ich nicht mehr bei den Büchern arbeiten konnte; so wurde mir die Leitung der Einkleidungsabteilung übertragen. Das war die Stelle, wo die Gefangenen, die ihre Zeit abgesessen hatten und entlassen wurden, ihre neuen Kleider bekamen. Jeder Mann, der das Gefängnis verließ, erhielt in der „glücklichen Ecke" - den Namen gab ich meinem Arbeitsplatz - einen Anzug, einen Hut, Schuhe, Unterwäsche, Hemd, Kragen, Krawatte und ein neues Taschentuch. Die ganze Ausstattung kostete weniger als dreizehn Dollar. Die „glückliche Ecke" war der letzte Ort, den die Gefangenen passierten, bevor sie das Zuchthaus verließen - der einzige Platz im ganzen Zuchthaus, wo man ein wirklich frohes Lächeln sehen konnte.
Es gab verhältnismäßig wenig Wärter in dieser großen Anstalt. Alle Arbeiten wurden von den Gefangenen selbst geleistet. Die Führung der Akten im Büro des Hauptgebäudes, die Erledigung aller damit zusammenhängenden Arbeiten, wie Fotografieren, Schädelmessen, die Besorgung der Fingerabdrücke nach dem Bertillonschen System, alles wurde den Gefangenen zugewiesen. Die Archivare waren Gefangene. Die Buchhalter und Maschinenschreiber waren Gefangene. Die Druckerei, die Schusterei, die Schneiderei, die Tischlerei, der Steinbruch, die Wäscherei, die Ziegelei, der Maschinenraum, die Küche, der Speisesaal und das Lazarett, alles wurde von den Gefangenen selbst geführt.
Neben den Wärtern waren noch einige Zivilbeamte in dem Zuchthaus beschäftigt: der eine, ein Mitglied des Justizministeriums, hatte die Aktenführung zu überwachen; ferner ein Arzt, der Küchenmeister, der Leiter der Schneiderwerkstätte, der Kaplan und vielleicht noch ein oder zwei andere.
Während meiner Haftzeit entwichen mehrere Gefangene. Sobald nach der Abzählung entdeckt wurde, dass ein Gefangener fehlte, ließen sie die „Wildkatzensirene" am Kesselhause ertönen. Sobald die „Wildkatze" zu heulen begann, stimmten die Gefangenen in den verschiedenen Zellenhäusern einen tollen Lärm an. Obwohl noch niemand von ihnen wusste, wer nun wieder entkommen war, schrieen sie mit lauter Stimme: „Leb wohl! Viel Glück, viel Glück! Komm nicht zurück! Lauf! Lauf, du Hundesohn!"
Das Zuchthaus Leavenworth unterschied sich ein wenig von anderen. Die Gefangenen trugen hier nicht die sonst übliche schwarz-weiß-gestreifte Sträflingskleidung. Au­ßerdem war hier nicht das furchtbare Schweigesystem eingeführt. Aber es blieb genug übrig, um auch dieses Zuchthaus, wie alle Kerker, zu einem furchtbaren Ort zu machen. Man hat die Gefängnisse „Universitäten des Verbrechens" genannt. Leavenworth war eine solche Universität mit vielen Absolventen.
Der Speisesaal war der einzige Ort, wo absolutes Schweigen herrschen musste. Wenn jemand dort zum Beispiel ein Stück Brot wollte, musste er die Faust in die Höhe halten; wenn er Zucker wollte, musste er eine Bewegung machen, als wolle er einen Löffel voll in seinen Tee oder Kaffee tun; um Salz musste man die Hand schütteln, um Pfeffer mit dem Finger schnippen.
Eines Tages wurde der Speisesaal fast der Schauplatz eines Aufruhrs. Das Gefangenenorchester lieferte uns
Musik, aber aus der Küche hatte man uns nun schon den dritten Tag gedämpfte Pastinakenwurzeln geschickt. Viele Gefangene riefen: „Nehmt die verdammte Musik fort und gebt uns etwas zu essen!" Jemand hatte gewagt, laut im Speisesaal zu sprechen! Der Klang der zornigen Stimmen verursachte einige Aufregung unter den Wärtern. Schon drohte offene Meuterei; man hörte das Krachen von zerbrochenen Tellern, die auf den Fußboden geschleudert wurden. Als der Direktor kam, flogen ihm einige Teller und Tassen an den Kopf. Er beorderte die Negergefangenen, die vorne saßen, in ihre Zellen. Seinem ersten Befehl folgten sie nicht, dann aber standen sie doch auf und marschierten hinaus, gefolgt von uns anderen. Am nächsten Morgen ergingen viele Vorladungen. Eine ganze Anzahl wurde mit Einzelhaft bestraft. Am Abend wurden zwei Neger mit Baseballmasken geschützt und mit Knüppeln bewaffnet in die Einzelzellen geschickt, um „den Halunken die Hölle heiß zu machen". Niemand wurde getötet, keine Knochen gebrochen, aber die Jungens wurden schmählich misshandelt. Zwei weiße Gefangene, wegen Unterschlagung verurteilte Bankiers aus Süddakota, äußerten nachher, die IWW hätten nur erhalten, was sie verdienten.
Während der Wintermonate wurde der Speisesaal jeden Abend in einen Schulraum verwandelt. Vierunddreißig Mitglieder der IWW waren Lehrer verschiedener Klassen, in denen alles mögliche, vom Autofahren bis zu Fremdsprachen, gelehrt wurde.
Vorladungen waren nichts Außergewöhnliches, da täglich Übertretungen der Anstaltsordnung vorkamen und entdeckt wurden. Aber es gab auch viel, was die Wärter nicht sahen oder hörten, obwohl überall Angeber steckten.
An verschiedenen Stellen des Zuchthauses wurden geheime Whiskybrennereien betrieben. Aus der großen Menge der Vorräte an Nahrungsmitteln, die in einer solchen Anstalt liegen, war es leicht genug, Kartoffeln, Roggen oder Mais und oftmals sogar Rosinen in genügenden Mengen zu erlangen, um eine gute Portion „Mondscheinwhisky" herzustellen. Wurde doch einmal sogar in einem Rauchfang eine Destillation entdeckt, die noch in vollem Betrieb stand. Wie lange diese Schwarzbrennerei in Funktion gewesen war, wusste keiner.
Die Stadt Leavenworth wurde eine Zeitlang mit Falschgeld überschwemmt. Die behördliche Untersuchung ergab, dass die falschen Münzen von Gefangenen aus dem Zuchthaus stammten. Innerhalb der Zuchthausmauern wurden dann auch tatsächlich zwei Münzschlägereien entdeckt; eine davon befand sich unten im Abzugskanal. Einige Gefangene hatten dort alles Nickel, Kupfer und Messing, das sie auftreiben konnten, geschmolzen und daraus Geldstücke fabriziert. Die Vorzugsgefangenen, die außerhalb arbeiteten, hatten Gelegenheit, das Falschgeld auszugeben und brachten dafür jeden Tag nach der Arbeit ihre Einkäufe ins Gefängnis. Eines Tages verlor Charlie Plahn, ein zu fünf Jahren verurteilter Mann aus unserer Gruppe, der mit einer Straßenbauabteilung außerhalb der Mauern arbeitete, den Anschluss an den Trupp. Es war gerade Feierabend, und die anderen waren schon ins Zuchthaus zurückgegangen. Plahn sah sich um. Er konnte keinen von ihnen sehen. Als er an das Tor kam, fand er es zugesperrt. Nicht zufrieden damit, ausgesperrt zu sein, klopfte und rief er, bis man ihn hereinließ. Als die Geschichte bekannt wurde, zogen ihn die Gefangenen alle weidlich wegen dieses genialen Streiches auf: ein Gefangener, der darauf bestand, in das Zuchthaus einzudringen - das war noch nicht dagewesen.
Eines Tages erhielten wir Befehl, uns hinunter in das Meldezimmer zu begeben.
Ich sagte zum „Roten" Spain: „Das geht auf uns." Er antwortete: „Ich glaube auch." Wir gingen hinaus, und alle in der Kleiderkammer, dem Lagerraum und dem Einkleideraum beschäftigten Gefangenen wurden in Reih und Glied aufgestellt, ins Meldezimmer geführt und blieben dort, ohne zu wissen, was in unseren Arbeitsräumen vorging. Man ließ uns über eine Stunde warten.
An der Tür stand ein Wärter, und auf irgendeine Weise, ich weiß nicht wie, verbreitete sich die Nachricht, dass Revolver in meiner Abteilung gefunden worden seien. Kurz nachher kehrten wir zu unserer Arbeit zurück. Der Ort sah aus, als hätte ein Orkan in ihm gewütet. Alle Fächer waren aufgerissen worden. Taschen, Koffer und Bündel waren geöffnet, die Anzüge lagen verstreut umher. Wir brauchten einige Zeit, um wieder Ordnung zu schaffen. Dann erfuhr ich, dass einige sechsschüssige Revolver mit Munition in dem Schrank gefunden worden waren, der von „Blacky", dem „Roten" Spain und mir benutzt wurde. Ich konnte mir die Sache nicht erklären. Für die anderen Gefangenen war es ausgemacht: „Die Burschen kommen ins Loch."
Ich hatte „Die Zwangsjacke" von Jack London gelesen und konnte mir vorstellen, wie leicht es war, einen Gefangenen in eine Spitzelmache zu verwickeln; oder wie leicht ein gedankenloser Mensch ein Wort über Dynamit fallenlassen konnte. Es wäre ebenso leicht gewesen, Dynamit ins Gefängnis zu bringen wie Revolver. In der Tat, der Gedanke an Explosivstoffe war den Wärtern schon gekommen. Während sie die Schränke ausleerten, ließ - so wurde uns erzählt - einer eine Tasche aus einiger Höhe auf den Boden fallen. Ein anderer rief erschreckt: „Um Gottes willen, wirf die Sachen nicht so herum! Du weißt nicht, was diese Burschen vielleicht hier versteckt haben."
Am nächsten Morgen wurde ich zum Vizedirektor gerufen. Er begann das Gespräch mit der Bemerkung, dass es etwas gebe, was die Beamten von den Gefangenen jederzeit erwarteten, und zwar, dass sie zu entkommen versuchten. Dabei stand er auf, ging in die Ecke des Zimmers und hob eine Schaufel mit kurzem Griff in die Höhe.
„Wir haben eben herausgefunden, dass einige der Gefangenen versuchten, sich unter der Mauer durchzugraben. Sie wissen, dass Revolver in Ihrem Schrank gefunden wurden."
„Jawohl", sagte ich, „ich habe davon gehört." „Haben Sie sie dorthin getan?" fragte er. „Nein, ich habe es nicht getan", erwiderte ich und versuchte, ihm dabei in die Augen zu sehen. Das war nicht leicht, denn Vizedirektor Fletcher war ein Mensch, der die Augen niemals stillhielt. „Wissen Sie, wer es getan hat?" „Nein, ich weiß es nicht", war meine Antwort. „Nun, das ist für heute alles."
Ich machte mir viel Gedanken über die in meinem Schrank vorgefundenen Revolver, bis eines Tages der Mann, der sie wirklich dorthin getan hatte, mir davon erzählte und mit einem Grinsen auf dem Gesicht sagte: „Als ich sie über den Hof trug, riss das Packpapier, und ich verlor bei jedem Schritt einige Patronen; ich musste zurückgehen und sie wieder aufklauben. Ich weiß wirklich nicht, wieso man entdeckt hat, dass ich diese Revolver hatte. Es gibt eben Spitzel in jeder Ecke."
Das Zuchthaus von Leavenworth war alles in allem eine Hölle; die Mitglieder der IWW wurden bis aufs Blut gemartert. Einige von uns befanden sich gleichsam in einem Gefängnis innerhalb des Gefängnisses, in den Isolierzellen und im „Schwarzen Loch". Andere wieder wurden jeden Tag während der Arbeitsstunden an das Gitter gefesselt. Viele wurden grausam geprügelt. In dieser Stunde der Not erhoben die mexikanischen Delegierten auf der Panamerikanischen Arbeiterkonferenz in Laredo, Texas, ihre Stimmen für die Freilassung aller politischen Gefangenen. Samuel Gompers, unterstützt von einigen Funktionären der AFL, darunter Charles H. Moyer, ehemals Präsident der Bergarbeiterföderation des Westens, wies die Forderung der mexikanischen Arbeiter zurück.

 

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