Zwanzigstes Kapitel
Die IWW-Prozesse
Als das Gesetz gegen verbrecherischen Syndikalismus in Kalifornien angenommen wurde, unterzeichnete Jack Gaveel, ein Holländer, einer unserer fliegenden Organisatoren, die im ganzen Lande herumfuhren, einen Aufruf zur Aktion gegen das infame Gesetz. Die Parole lautete „Füllt die Gefängnisse!" Gaveel gehörte zu den ersten, die Zuchthausstrafen von einem bis zu vierzehn Jahren erhielten. Der Besitz eines Mitgliedsbuches der IWW oder eines Liederbuches genügte als Belastungsmaterial, um einen Mann in die Staatsgefängnisse zu schicken, entweder nach Folsom oder San Quentin. Die fürchterliche Verfolgung brachte über hundert Männer und auch mehrere Frauen in die Gefängnisse Kaliforniens.
Andrew Furuseth, der Präsident des Seeleuteverbandes, und weitere Führer der AFL taten sich mit anderen Reaktionären zusammen, um die IWW zu vernichten, die sie die „Rote Gefahr" zu nennen beliebten. Die Behörden hatten einige reisende Zeugen in Sold genommen, die von einem Ort zum anderen fuhren, um belastende Aussagen gegen die IWW zu machen. Diese Spitzel, Verbrecher mit langjährigen Strafen, traten in
vielen Prozessen auf, und ihr Zeugnis genügte, um die IWW-Anhänger ins Zuchthaus zu schicken. In einigen Fällen wurde nicht einmal ein Schuldbeweis für notwendig erachtet. Leute, die vorgeladen waren, für ihre unter Anklage stehenden Arbeitskollegen als Zeugen aufzutreten, wurden sofort verhaftet und verurteilt, wenn sie zugaben, dass sie selbst Mitglieder der IWW waren. Ihre Verfolgung hörte nicht auf, wenn sie mit Urteilen von einem bis vierzehn Jahren Gefängnis oder gar mit einem doppelten Urteilsspruch von zwei bis achtundzwanzig Jahren vor dem Gefängnistor landeten. Noch im Gefängnis verfolgte sie bitterer Hass. Die Gefängnisdirektoren gaben ihnen die härteste und schmutzigste Arbeit, die sie nur finden konnten. Diese Behandlung führte zu vielen Revolten und langen Hungerstreiks, die mit Einsperren im „Schwarzen Loch" bei Brot und Wasser bestraft wurden.
Da war zum Beispiel der Fall Tom Connors, Sekretär des Verteidigungskomitees für das Gebiet von Kalifornien. Connors hatte einen Aufruf zugunsten von Mitgliedern, deren Prozess bevorstand, im ganzen Staat verbreiten lassen. Zufällig erreichte einer dieser Aufrufe einen Bürger, der später als Geschworener bestimmt wurde. Connors wurde nun verhaftet und wegen Versuchs, Geschworene zu beeinflussen, mit einem bis vierzehn Jahren Gefängnis bestraft. Im Gefängnis von San Quentin wurde eines unserer Mitglieder ermordet. Die Gefangenen marschierten gerade einer hinter dem anderen im Gefängnishof; einer von ihnen wollte sich niederbücken, vielleicht um etwas vom Boden aufzuheben. In diesem Moment wurde er von einem der Wärter erschossen.
Auf Grund des Gesetzes gegen verbrecherischen Syndikalismus wurden auch in vielen anderen Staaten, besonders in Washington, Idaho, Oregon und Kansas viele Männer ins Gefängnis geworfen.
In der Zentrale wurden wir fortwährend von Vertretern der Regierung wegen der Zeichnung von Kriegsanleihescheinen, den so genannten „Liberty Bonds", belästigt. Plakatkleber wollten an den Fenstern unseres Büros ihre Propagandaplakate für den Kauf von Kriegsmarken und Liberty Bonds sowie andere Kriegspropaganda anschlagen. Sie bemühten sich vergebens. Ich gab eine Sorte von Freiheitsanleihescheinen und Verteidigungsmarken heraus, an denen wir viel mehr interessiert waren. Mittlerweile waren fünf Gruppen auf Grund einer richterlichen Verfügung oder in Erwartung einer solchen in fünf verschiedenen Städten im Gefängnis, in San Diego, Sacramento, Omaha, Wichita und Chicago. Die Gefangenen von Wichita und Sacramento waren am schlimmsten daran; der Zustand der Gefängnisse spottete jeder Beschreibung. Im Gefängnis von Sacramento wütete die spanische Influenza. Mehrere Mitglieder der IWW starben während der Untersuchungshaft. Die mangelnde ärztliche Behandlung und Pflege, das Fehlen genügender Medikamente und die unzureichende Kost waren zweifellos die Ursache für den Tod dieser Männer, von denen einige auch durch lange Hungerstreiks geschwächt waren.
Die Influenzaepidemie herrschte noch zur Zeit des Prozesses. Der Richter, die Staatsanwälte, die Wärter, die Polizisten und die Zuhörer - alle trugen Masken zum Schutze gegen die Krankheit. Den Angeklagten aber wurden keine Masken zur Verfügung gestellt, und sie würden wahrscheinlich auch keine Masken benutzt haben, wenn man sie dazu aufgefordert hätte. Denn sie hatten sich zu einer Art der Verteidigung entschlossen, die ohne Beispiel war.
Die Angeklagten von Sacramento lehnten es ab, sich zu verteidigen, Aussagen zu machen oder überhaupt ein Wort zu äußern. Diese „schweigende Verteidigung" war eine schonungslose, durch Worte nicht wiederzugebende Bloßstellung des ganzen Prozesses. Erst als das Urteil gesprochen war und sie zu langen Freiheitsstrafen verurteilt worden waren, brachen sie ihr Schweigen im Gerichtssaal durch den brausenden Gesang der „Internationale".
Die Regierung gab sich nicht damit zufrieden, uns wegen angeblicher Verletzung der Kriegsmaßnahmen aufs härteste zu verfolgen. Es wurde alles mögliche getan, um uns an der Sammlung von Verteidigungsfonds zu hindern. Die Aufrufe, die wir durch die Post oder die Expressgesellschaften sandten, wurden beschlagnahmt und vernichtet. Unsere Redner wurden verhaftet, unsere Versammlungen gesprengt.
Am 15. Dezember 1917 fanden die ersten Vernehmungen zum Chicagoer Prozess statt. Wir versammelten uns alle im Bundesgebäude, sowohl die aus dem Bezirksgefängnis, wie diejenigen, die gegen Kaution vorläufig freigelassen worden waren. Ettor, Flynn und Tresca kamen von New York herüber, aber der Prozess gegen sie wurde aus irgendeinem Grunde eingestellt und wurde niemals verhandelt. Arturo Giovannitti verlangte Auskunft, warum sein Name vom Schreiber nicht verlesen worden sei, worauf auch ihm mitgeteilt wurde, der Prozess gegen ihn sei eingestellt worden. Er protestierte heftig und verlangte, jedoch vergeblich, mit den übrigen Angeklagten zusammen vor Gericht zu kommen. Alle übrigen von uns erklärten sich für „Nicht schuldig". Der große Prozess begann am 1. April 1918. Der Richter Kenesaw Mountain Landis war der Obmann des Landesgerichts für das nördliche Gebiet von Illinois, Abteilung Osten. Man hatte ein wahres Aufgebot juristischer Talente gegen uns mobilisiert, darunter Charles F. Clyne, den Staatsanwalt von Chicago, Frank K. Nebeker, den früheren Anwalt der Utah Machinery Co. in Salt Lake City, und Claude R. Porter aus Iowa. Als unsere Verteidiger fungierten George F. Vanderveer aus Seattle, der geschickt und erfolgreich die Verteidigung im Prozess von Everett geführt hatte, Otto Christensen aus Chicago, William B. Cleary aus Bisbee, Arizona, und Caroline Lowe, die schon als Verteidigerin im Prozess von Wichita aufgetreten war.
Der Gerichtssaal, in dem unser Prozess stattfand, war mit weißem Marmor und Goldstukkatur geschmückt. Die Richterbank stand auf einer erhöhten Plattform rechts der Tür, durch die wir in den Saal traten. Alle übrigen überragend, hinter einem hohen Pult, saß Richter Landis. Zu seiner Linken war der Zeugenplatz und die Bank der zwölf Geschworenen. Die Staatsanwälte saßen an einem Tisch in der Nähe des Richters, die Verteidiger hatten einen Tisch unmittelbar hinter ihnen. Ein anderer langer Tisch stand jenseits der Barriere, die den Zuschauerraum abtrennte. An diesem Tisch saßen Zeitungs- und Zeitschriftenreporter aus verschiedenen Teilen des Landes sowie einige ausländische Berichterstatter. Am Ende des Tisches in der Nähe der Staatsanwälte saß ein Subjekt namens Karm, dem Namen nach ein Arbeiterreporter, der seine Hauptaufgabe aber darin sah, unseren Anklägern Dokumente in die Hände zu spielen und Informationen in die Ohren zu blasen.
Die Angeklagten saßen hinter dem Pressetisch an der Barriere und einige von uns an Tischen mit unseren Anwälten. Die Liste der Geschworenen wies nicht weniger als zweihundert Namen auf, von denen zwölf ausgewählt werden mussten.
Drei Geschworene waren bereits von beiden Seiten angenommen worden. In diesem Augenblick schienen die Dinge nicht ungünstig für die IWW zu liegen. Ganz überraschend wurden wir jedoch des Versuchs, die künftigen Geschworenen zu beeinflussen, beschuldigt. Es wurde behauptet, dass ein Mitglied namens Russell eine Unterredung mit einem Verwandten eines der vorgeschlagenen Geschworenen gehabt habe. Der Richter setzte kurzerhand nicht nur die bereits ausgewählten Geschworenen ab, sondern auch alle übrigen noch auf der langen Geschworenenliste verzeichneten Personen. Dies geschah meiner Meinung nach nicht allein durch die persönliche Initiative des Richters, sondern auf Veranlassung des Generalstaatsanwalts Gregory in Washington, der briefliche Anweisungen gegeben hatte, welche Eigenschaften die Geschworenen in diesem Prozess unter allen Umständen aufweisen mussten. Einer der Geheimagenten erbot sich sogar, uns das betreffende Schreiben für die Summe von tausend Dollar zu beschaffen. Da die Geschworenen bereits abgesetzt worden waren, verzichteten wir auf das Angebot, denn von irgendwelchem Nutzen schien uns die Enthüllung dieser Intrige nicht mehr.
Der Prozess erwies sich als eine höchst langwierige Propagandaversammlung von fast sechsmonatiger Dauer. Als die neue Geschworenenliste zusammengestellt war, wurde der Staatsanwalt Clyne sang- und klanglos abgesetzt. Nebeker übernahm nun die Führung der Anklagevertretung. Das Duell zwischen ihm und Vanderveer bei der Auswahl der Geschworenen war sogar noch heftiger, als es zwischen Vanderveer und Clyne gewesen war.
Nebeker fragte die vorgeschlagenen Geschworenen: „Haben Sie irgendwelche Sympathie für eine Organisation, die die Einrichtungen dieses Landes zu stürzen oder seine Gesetze zu verletzen sucht?" „Glauben Sie, dass die Redefreiheit jemand das Recht gibt, die Übertretung der Gesetze zu befürworten?" „Anerkennen Sie das Recht der Individuen, Besitz zu erwerben?" „Erkennen Sie irgendeiner Körperschaft von Männern oder einer Organisation das Recht zu, diesen Besitz durch Gewalt oder andere ungesetzliche Mittel fortzunehmen?" „Glauben Sie, dass jemand das Recht hat, eine Rebellion oder eine Revolution anzustiften?" „Anerkennen Sie das Lohnsystem und das gesellschaftliche System, wie es gegenwärtig organisiert ist?" Und weiter fragte er: „Waren Sie aus vollem Herzen für die Kriegserklärung an die kaiserliche deutsche Regierung?" „Billigen Sie die verschiedenen Maßnahmen, die zur erfolgreichen Beendigung dieses Krieges getroffen wurden?" Und dann kam Vanderveer, der Hauptverteidiger, mit seinen Fragen:
„Billigen Sie das Streikrecht?" „Anerkennen Sie. das Recht der friedlichen Streikpostentätigkeit?" „Sind Sie für die Redefreiheit?"
Nach diesem eingehenden Examen, in dem sich der Klassenkampf deutlich widerspiegelte, lastete die Verantwortung bei den Geschworenen. Nebeker, der Hauptstaatsanwalt, war der erste, der sich an die Geschworenen wandte. Er erzählte fünf Stunden lang, was er über die IWW wusste und was er nicht wusste. Er legte uns Verbrechen zur Last, von denen wir nie geträumt hatten. Aber er kannte die Struktur der Organisation, berichtete über den Werbeverband, die Betriebsgruppen, die Gruppen der Industrieverbände und über die Art, wie die Industrieverbände mit der zentralen Leitung verbunden waren. Er behauptete, Bill Haywood sei der ungekrönte König im Schreibtischsessel, unterstützt vom Exekutivkomitee, und wir seien darauf aus, eine Regierung innerhalb der Regierung aufzubauen. Er erzählte, wie die Organisation mit ihren zweihunderttausend Mitgliedern (Anm.: Die IWW hatten 1916 sechzigtausend Mitglieder. Das ist wahrscheinlich die größte Zahl, die sie jemals aufzuweisen hatten. Die Red.) die Kupferbergwerke von Arizona und Montana stillgelegt und wie sie versucht habe, einen Streik in den Blei- und Kupfergruben von Utah auszurufen. Nebeker berichtete von den Anstrengungen, die seitens der IWW gemacht worden seien, um die Holzindustrie lahm zu legen, von den Versuchen der finnischen Arbeiter, die Eisenbergwerke zu schließen, und fügte noch hinzu, dass es unsere Absicht gewesen sei, die Farmer bei den Erntearbeiten in Schwierigkeiten zu bringen.
Außer vielen Leitartikeln aus der „Solidarity" las Nebeker aus dem IWW-Liederbuch mit vibrierender Stimme die Parodie auf die bekannte religiöse Hymne „Vorwärts, Gottes Krieger" vor:
„Vorwärts, Gottes Krieger, frisch und unverzagt! Unter euren Stiefeln Menschenwürde klagt. Preist den Herrn, sein Dollar segnet unser Land, Fremde Lumpen, ehret unsern Gnadenstand."
Als Nebeker mit der Verlesung des nächsten Liedes beginnen wollte, schlug Staatsanwalt Porter ihm vor, er solle es vorsingen. Nebeker bedauerte, diesem Wunsche nicht entsprechen zu können, da er nicht bei Stimme sei.
Dieses und viele andere von Nebeker vorgetragene Lieder waren eine ausgesprochene Erholung nach den Hunderten von Geschäftsbriefen und Bulletins, die den Geschworenen vorgelesen worden waren. Nebeker er-
wähnte im Laufe seines Vortrags auch, dass die finnischen Bergarbeiter von Mesaba einen Streik gegen die militärische Einberufung erklärt hätten. Es stimmte, dass die finnischen Bergarbeiter einen harten Kampf gegen den Krieg und gegen die Einziehung als Soldaten geführt hatten. Auch diese Tatsache wurde als belastend vorgetragen.
Die ersten Zeugen für die Regierung waren die Stenotypistinnen, die Archivare und die Buchhalter aus dem Büro unserer Zentrale. Sie berichteten über die tägliche Arbeit der Organisation. Dann wurden die amtlichen Bücherrevisoren der Regierung aufgerufen, die unsere Kassen und Bücher durchgesehen hatten und die bezeugten, dass die Abrechnungen gut geführt wurden und dass die IWW niemals deutsches Geld erhalten hatten. Die nächsten Belastungszeugen waren Sheriffs und Revolverhelden aus dem Kohlenrevier von Pennsylvanien, die über die Verhaftung der IWW nähere Angaben machten und bezeugten, dass sie Versammlungen der IWW ohne Vollmacht gestört hätten, manchmal auf Verlangen der Vereinigten Bergarbeiter Amerikas, in anderen Fällen auf Grund mündlicher Aufträge vom Gericht. Dann kamen andere Sheriffs und Revolverhelden aus Arizona, Montana und Washington, einige Farmer, die aussagten, dass sie ihre Beschäftigten 16 Stunden am Tag arbeiten ließen, Holzhändler, Grubenbesitzer und ein oder zwei Renegaten der IWW mit einer Horde von Agenten der Geheimpolizei. |
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