Sechzehntes Kapitel
„Artikel II, Abschnitt 6"
Donnernder Beifall begrüßte mich in New York anlässlich einer Solidaritätskundgebung für Ettor und Giovannitti, in der ich auch ausführlich über den Streik in Lawrence sprach.
Eine andere von Begeisterung getragene Versammlung fand in der Carnegie Hall statt, in der eine große Summe für den Verteidigungsfonds gesammelt wurde. Ich erinnere mich, dass ich nach der Versammlung mit einer Gruppe von Genossen, unter ihnen Jack London, zusammen ins Restaurant ging und dort einen angenehmen Abend mit dem berühmten Schriftsteller verbrachte. Ein zweiter Streik in Lawrence war im Anzug. Auf dem Anger von Boston wurde ein Massenmeeting abgehalten, zu dem die Teilnehmer in Sonderzügen aus Lawrence, Lynn, Haverhill und anderen Städten herbeiströmten. Unter den vorgesehenen Rednern war auch ich - aber wie sollte ich nach Boston kommen, nachdem in Lawrence Anklage gegen mich erhoben worden war und ich mit ziemlicher Sicherheit rechnen musste, bei der Ankunft auf dem Bahnhof von Boston verhaftet zu werden? Die Schwierigkeit wurde behoben; Kameraden holten mich von Providence mit einem Auto nach Boston ab und fuhren geradenwegs zu dem Regierungsgebäude, das an der Seite des Angers steht. Unter einem Torbogen wartete ich, bis meine Zeit kam, und bahnte mir dann einen Weg durch die Menge bis zur Rednertribüne. Sobald ich unter der Masse war, konnte die Polizei mir nichts anhaben. Nach der Ansprache folgte ich dem Rat eines Teilnehmers, der mir die Richtung andeutete, in der das Auto hielt, und bat die Menge, mir einen Pfad freizugeben. In großer Eile zwängte ich mich durch die Menschenmasse, hörte jemand sagen: „Hier entlang, Bill!" und sprang in ein Auto. Gerade als ich dem Chauffeur zurief: „Gib Gas!" bemerkte ich, dass ich mich in den Händen von Polizeioffizieren befand.
Auf der Polizeistation blieb ich allerdings nicht lange, da von Freunden sofort eine ausreichende Kaution gestellt wurde. Immerhin hinderte mich dieser Zwischenfall, in Lawrence so zu wirken, wie ich es mir vorgenommen hatte, da ich dem Gericht zur Verfügung stehen musste. Als der Fall vor den Untersuchungsrichter kam, wurde ich von diesem nach der Verlesung der Anklage gefragt: „Schuldig oder nichtschuldig?" Meine Antwort war: „Nichtschuldig - mit der einen Ausnahme, dass ich versuche, den Arbeitern von Lawrence zu helfen, etwas mehr Brot zu bekommen." Der Richter brauste auf: „Mr. Haywood, wir wünschen hier keine Reden. Passiert es noch einmal, werden Sie sich wegen Missachtung des Gerichtshofes verantworten müssen. Beantworten Sie die gestellte Frage: Schuldig oder nichtschuldig?" Darauf ich: „Nichtschuldig!"
Der Richter redete dann noch etwas über den voraus-
sichtlichen Termin der Hauptverhandlung; aber diese wie so viele andere an und für sich gut begründete Anklagen gingen unter. Ich wurde deswegen niemals verurteilt.
Als der Prozess gegen Ettor, Giovannitti und Caruso in Salem begann, kehrte ich nach Massachusetts zurück. Der Prozess endete mit einem Freispruch. Zum Empfang der freigelassenen Gefangenen fand in Lawrence eine große Demonstration statt.
Kurz nach dem Streik von Lawrence traten die Textilarbeiter von Little Falls, New York, in den Ausstand und stellten eine Reihe von Forderungen auf, die sie den Fabrikanten vorlegten. Die Hauptführer in diesem Streik waren Ben Legere und Matilda Rabinowitz. Bei meiner Ankunft saß Legere mit mehreren anderen im Gefängnis, während Matilda als Vorsitzende des Streikkomitees arbeitete. Sie war ein kleines Persönchen, füllte aber ihren Posten ausgezeichnet aus. Der Streik war eine Wiederholung des großen Lawrence-Streiks im kleinen. Im Jahre 1912 hielt die Sozialistische Partei ihren Kongress in Indianapolis ab. Die Delegierten waren von ganz anderem Kaliber als diejenigen, die auf dem Kongress von 1908 gewesen waren. Vielen von ihnen, die angeblich die Arbeiterklasse vertraten, bedeutete der Klassenkampf gar nichts. Nicht weniger als siebzehn, wenn nicht gar mehr Geistliche waren darunter, die sich kaum Mühe gaben, ihren Hauptberuf als Himmelspiloten zu verbergen. Außerdem waren viele Anwälte und einige Redakteure anwesend.
Man hatte eine Versammlung für mich in Tomlinson Hall veranstaltet. Ich beschrieb den Streik von Lawrence, vergaß aber dabei zu erwähnen, dass dem Kongressabgeordneten Victor Berger das Verdienst zukomme, die Untersuchung des Streiks vor einem Ausschuss des
Repräsentantenhauses in Washington angeregt zu haben. Berger fühlte sich bis auf die Knochen verletzt. Auch Hillquit konnte es nicht verwinden, dass sein Angebot, als Anwalt für die des Mordes angeklagten Männer in Lawrence aufzutreten, nicht angenommen worden war. Diesen Führern und ihren Hintermännern auf dem Kongress schien der Zeitpunkt gekommen, die Statuten der Sozialistischen Partei zu ergänzen, was sie im Artikel II, Abschnitt 6 folgendermaßen taten: „Jedes Mitglied, das gegen politische Aktionen auftritt oder Verbrechen, Sabotage oder andere Gewaltmethoden als Waffe der Arbeiterklasse im Befreiungskampf befürwortet, wird aus der Partei ausgeschlossen." Der Geistliche W. R. Gaylord brachte die Resolution gegen Sabotage, direkte Aktion und Gewalt ein. Er sagte: „Wir können nichts dergleichen brauchen; wir wollen auch nicht eine Spur davon auf uns sitzen lassen. Wir wollen auch nicht den geringsten diesbezüglichen Hinweis in Verbindung mit uns. Wir weisen es mit jeder Faser unseres Herzens zurück." Victor Berger äußerte sich folgendermaßen: „Ich möchte sagen, dass die Artikel im ,Industrial Worker' von Spokane, dem offiziellen Organ der IWW, denselben anarchistischen Geist atmen wie alles, was Johann Most jemals geschrieben hat. Ich möchte sagen, Genossen, dass ich für mein Teil den Mord nicht als ein Propagandamittel betrachte; ich betrachte Diebstahl auch nicht als ein Mittel der Expropriation, und fortgesetzten Aufruhr nicht als Agitation für die Redefreiheit. Jeder wahrhafte Sozialist wird mit mir übereinstimmen, wenn ich sage, dass diejenigen, die meinen, wir sollten an Stelle der ,Marseillaise' lieber ,Halleluja, ich bin ein Penner' singen, besser eine Pennerorganisation für sich allein beginnen sollen."
Es war ein niedriger, gemeiner, ungerechtfertigter Angriff Bergers gegen den „Industrial Worker". Er wusste, dass die IWW niemals Mord als ein Propagandamittel befürwortet hatten, er wusste, dass sie niemals Diebstahl als ein Mittel zur Erlangung des Eigentums der Kapitalisten befürwortet hatten, er wusste, dass die Einstellung der Organisation, die er beschimpfte, marxistisch war. Er hatte Gelegenheit gehabt, ihre Methoden und Taktik in der Führung von Streiks kennen zu lernen; er kannte die Errungenschaften des Streiks von Lawrence; er hatte die Kinder gehört, als sie in Washington ihre Zeugenaussagen machten; er wusste, dass der Streik zu einem großen Siege für die Arbeiter geworden war, und er wusste auch, dass zu der Zeit, wo er sprach, Ettor, Giovannitti und Caruso des Mordes angeklagt noch im Gefängnis saßen. Seine Rede auf dem Kongress zur Unterstützung des Artikels II, Abschnitt 6 war ein Dolchstoß in den Rücken der Männer, die dem Prozess entgegensahen. Hätte sich Berger jemals ein Liederbuch der IWW angesehen, so hätte er gewusst, dass neben dem satirischen Lied „Halleluja, ich bin ein Penner" auch die „Marseillaise", die „Internationale" und viele andere revolutionäre Lieder abgedruckt waren. Man vergleiche den Artikel II, Abschnitt 6 im Statut der Sozialistischen Partei, diesen Vorläufer des Gesetzes gegen verbrecherischen Syndikalismus, mit dem Gesetz selbst.
Der Vorläufer
„Jedes Mitglied, das gegen politische Aktion auftritt oder Verbrechen, Sabotage oder andere Gewaltmethoden als Waffe der Arbeiterklasse im Befreiungskampfe befürwortet, wird aus der Partei ausgeschlossen." Das bestehende Gesetz „Der kriminelle Syndikalismus wird hiermit als jene
Doktrin definiert, die Verbrechen, Gewalt, Zwang, Brandstiftung, Zerstörung von Werten, Sabotage oder andere ungesetzliche Handlungen oder Methoden oder eine dieser Handlungen als Mittel zur Herbeiführung oder Beeinflussung wirtschaftlicher oder politischer Ziele oder als Mittel der Herbeiführung der wirtschaftlichen oder politischen Revolution befürwortet." Die Gesetze gegen verbrecherischen Syndikalismus sind vom Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten gebilligt worden, und Hunderte von Männern und Frauen sind auf Grund dessen ins Zuchthaus geschickt worden, obwohl nicht einer von ihnen etwas anderes getan hat, als eine Meinung zu haben oder Mitglied der IWW zu sein. Unter diesem Gesetz wurden Kommunisten in Michigan angeklagt und G. E. Ruthenberg, der Sekretär der (Kommunistischen) Arbeiterpartei, für schuldig erklärt und zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Die vielen, die verfolgt wurden, können den Verrätern in der Sozialistischen Partei dafür danken, die den Artikel II, Abschnitt 6 gegen die Arbeiterklasse angenommen haben.
Der Annahme dieses Zusatzes folgte eine Resolution des Nationalkomitees, dessen Mitglied ich damals war, in der ich beschuldigt wurde, direkte Aktion, Gewalt und Sabotage zu befürworten.
Über die Resolution wurde abgestimmt, und ich wurde aus dem Nationalkomitee abberufen. Der Sozialistischen Partei gehörte ich seit ihrer Gründung an; aber nach der Abberufung als Mitglied des Nationalkomitees habe ich keine Mitgliedsbeiträge mehr gezahlt. Später bekannte sich Berger vor dem Bundesgericht in Chicago als der verantwortliche Mann für den Artikel II, Abschnitt 6 gegen Gewalt, Sabotage und direkte Aktion im Statut der Sozialistischen Partei.
Berger wurde im Kongress der Vereinigten Staaten am 18. Juli 1912 gefragt: „Wie wollen Sie die gegenwärtige ökonomische Basis verändern? Geben Sie uns eine konkrete Erklärung zu dieser Frage."
Berger antwortete: „Das ist ganz einfach. Wir könnten sicher das Eigentum der Trusts auf dieselbe Weise erlangen, wie es die Trusts erlangt haben. Die Trusts haben ihren Besitz fast gänzlich mit verwässerten Aktien, sowohl Vorzugsaktien als auch gewöhnlichen Aktien, bezahlt. Wir können die beste Sicherheit bieten, die es heute gibt - Staatsschuldscheine der Vereinigten Staaten." Wäre Berger ebenso gut mit dem „Imperial Washington" bekannt gewesen wie der verstorbene Senator Pettigrew, so hätte er gewusst, dass die Trusts für ihr Eigentum nichts gezahlt haben, sondern dass sie das amerikanische Volk seines Erbteils beraubten. Kongressmitglied Berger aber, der als sozialistischer Kandidat gewählt wurde, war bereit, den Klassenkampf auszuschalten und die Existenz der Ausbeuterklasse zu verewigen, indem er ihr die sichersten Wertpapiere der Welt, Staatsschuldscheine der Vereinigten Staaten, in den Rachen warf!
Das waren wahrhaftig nicht die Prinzipien einer revolutionären Sozialistischen Partei, für die sich die Arbeiterklasse Amerikas immer mehr interessierte. Es braucht
wohl kaum noch erwähnt zu werden, dass die Sozialistische Partei seit dem Kongress von Indianapolis immer
weiter gesunken ist, bis sie jeden Einfluss verloren hat. Die Politikanten auf diesem Kongress waren eine schlüpfrige Gesellschaft, die die elementaren Prinzipien des Sozialismus ignorierten. Das „Kommunistische Manifest" von Marx und Engels bedeutete ihnen nichts. Sie warfen seine Grundlehren beiseite, die mit den anfeuernden Worten schließen:
„Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" |
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