Elftes Kapitel
Die Industriearbeiter der Welt
Nach einem langen und harten Kampf im Süden des Staates brachen die Vereinigten Bergarbeiter dieses Gebietes den Streik ab. Die Colorado Fuel and Iron Company und verschiedene andere Kohlengesellschaften fuhren fort, die Gesetze zu missachten. Es kümmerte sie wenig, dass es ein Gesetz über den Achtstundentag gab, dass es den Gesellschaften verboten war, die Löhne in selbst hergestelltem Geld, das nur im Bereich der Gesellschaft Gültigkeit hat, zu zahlen, dass sie die Arbeiter nicht zum Einkauf in betriebseigenen Läden zwingen durften. Sieben Arbeitsgesetze wurden so straflos umgangen. Nicht das unwichtigste darunter war das Waagemeistergesetz, durch dessen Umgehung die Gesellschaften dreitausendachthundert Pfund Kohle statt zweitausend bekamen.
Während diese verbrecherische Gesetzesverletzung fortdauerte, führte sich der frömmlerische alte Schurke an der Spitze der Rockefeller-Unternehmungen sein scheinheiliges baptistisdies Abendmahl zu Gemüte und hatte mit seinen Golfstöcken mehr Macht als das Volk von Colorado mit seinen Stimmzetteln.
Die Bewegung für die Industriegewerkschaften entwickelte sich rapid. Auf dem Kongress von 1904 hatte die Bergarbeiterföderation des Westens einen Plan für die Zusammenfassung aller Arbeiter in einer Organisation entworfen und dem Exekutivausschuss aufgetragen, dieses Programm durchzuführen. In Denver hatten einige unverbindliche Konferenzen mit Dan MacDonald von der Amerikanischen Arbeiterunion und mit George Estes vom Eisenbahnerverband stattgefunden. Mit Clarence Smith, dem Sekretär der Amerikanischen Arbeiterunion, war korrespondiert worden.
Für den 2. Januar 1905 wurde nach diesen Vorbereitungen eine geheime Konferenz nach Chicago einberufen, für die an ungefähr dreißig Personen Einladungen ergingen.
Moyer, O'Neill und ich wurden vom Exekutivkomitee als Vertreter der Bergarbeiterföderation des Westens für diese Konferenz gewählt. Wir kamen in einem Saal in der Lake Street zusammen, der den Chicagoer Anarchisten oft als Versammlungslokal diente und in dem auch seinerzeit Parsons und Spies zu den Arbeitern gesprochen hatten. Ich wurde zum Vorsitzenden und George Estes zum Sekretär gewählt. Auf dieser Tagung wurde das Manifest formuliert, das als das Gründungsdokument der Organisation der „Industriearbeiter der Welt"
(Industrial Workers of the World - IWW) angesprochen werden muss. Es hieß darin:
„Gesellschaftliche Beziehungen und Gruppierungen spiegeln nur die technischen und industriellen Bedingungen wider. Die hauptsächlichsten Merkmale der Industrie von heute sind die Ersetzung der menschlichen Fertigkeiten durch Maschinen und das Anwachsen der kapitalistischen Macht durch die Konzentration des Eigentums an den Instrumenten für die Produktion und Verteilung des Reichtums...
Restlos vom Boden und von den Werkzeugen losgelöst, geht der Arbeiter, dessen Geschicklichkeit als Facharbeiter nutzlos geworden ist, in der einheitlichen Masse der Lohnsklaven unter. Er sieht, dass seine Widerstandskraft durch zunftmäßige Abgrenzungen gelähmt ist, die sich von längst überlebten Stadien der industriellen Organisation her erhalten haben.
Seine Löhne verringern sich ständig in dem Maße, wie seine Arbeitszeit verlängert wird und wie die monopolisierten Preise steigen...
Während die Kapitalisten die überholte Zersplitterung der Arbeiter fördern, passen sie sich selbst sorgfältig den neuen Bedingungen an. Sie beseitigen alle Differenzen untereinander und treten in ihrem Kampf gegen die Arbeiterschaft als eine Einheitsfront auf... Die Kampfformen und die Kriegsmethoden der Unternehmer entsprechen der Solidarität der technischen und industriellen Konzentration, während die Arbeiter ihre Kampforganisationen noch immer nach den lange überholten Berufsgliederungen organisieren. Die Kämpfe der Vergangenheit beweisen das...
Dieses veraltete und korrupte System bietet keine Möglichkeit für eine Verbesserung und Anpassung an die Verhältnisse. Inmitten dieser Wolken der Finsternis und
Verzweiflung, die die Welt der Arbeiterschaft verdunkeln, zeigt sich kein Silberstreifen. Dieses System führt nur zu einem fortwährenden Kampf um geringe Erleichterungen im Rahmen der Lohnsklaverei. Es ist blind gegenüber der Möglichkeit der Errichtung einer industriellen Demokratie, in der es keine Lohnsklaverei geben wird, in der die Arbeiter die Produktionsmittel, mit denen sie arbeiten, besitzen werden und in der sie ihre Produkte allein genießen werden. Es zersplittert die Reihen der Arbeiterschaft, macht sie hilflos und unfähig auf dem industriellen Kampffelde. Die Trennung einer Berufsgruppe von der anderen macht die industrielle und finanzielle Solidarität unmöglich.
Gewerkschafter verüben Streikbruch an Gewerkschaftern; zwischen dem einen Arbeiter und dem anderen wird Hass gezüchtet, und die Arbeiter, hilflos und untereinander uneinig, sind den Kapitalisten ausgeliefert... Die Gliederung nach Berufsgruppen züchtet politische Ignoranz unter den Arbeitern und spaltet dadurch ihre Klasse vor der Wahlurne ebenso wie im Betrieb, in der Grube und in der Fabrik...
Die Gliederung nach Berufsgruppen verhindert die Entwicklung des Klassenbewusstseins der Arbeiter und züchtet die Vorstellung von der Harmonie der Interessen zwischen dem ausbeutenden Unternehmer und dem ausgebeuteten Sklaven.
Die allumfassenden ökonomischen Übelstände, unter denen die Arbeiterklasse leidet, können nur durch eine allumfassende Bewegung der Arbeiterklasse ausgerottet werden. Eine solche Bewegung der Arbeiterklasse ist unmöglich, solange nach Fachverbänden gesonderte Lohnabkommen abgeschlossen werden, die es den Unternehmern ermöglichen, sich an anderen Berufsgruppen
in derselben Industrie schadlos zu halten, während andererseits Energien in nutzlosen Kompetenzstreitigkeiten vergeudet werden, die nur dazu dienen, den persönlichen Aufstieg von Gewerkschaftsbürokraten zu fördern.
Eine Bewegung, die diese Bedingungen erfüllen soll, muss einen großen Verband von Industriegewerkschaften darstellen, der alle Industrien umfasst, der die Autonomie der Berufsgruppen im lokalen Maßstab, die industrielle Autonomie im internationalen Maßstab und die Einheit der Arbeiterklasse im allgemeinen sichert. Sie muss sich zum Klassenkampf bekennen und muss im Sinne der Anerkennung des unüberwindbaren Konfliktes zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse geleitet werden.
Sie soll als die wirtschaftliche Organisation der Arbeiterklasse ohne Anschluss an eine politische Partei errichtet werden. (Anm.: Die IWW lehnten die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei und somit auch die Notwendigkeit einer politischen Partei der Arbeiterklasse ab. Sie waren der Meinung, die Arbeiterklasse Rönne durch die Organisierung von Industriegewerkschaften die neue Struktur der Gesellschaft in der Hülle der alten schaffen. Sie glaubten, auf dem Wege des Generalstreiks die Produktion in die Hand zu bekommen und allein durch die Industriegewerkschaft, ohne jeglichen Staat, ein „industrielles Gemeinwesen" errichten zu können. Die IWW waren Gegner des parlamentarischen Kampfes und verließen sich ausschließlich auf die „direkte Aktion", den Streik. An diesen anarchosyndikalistischen Fehlern, die in den kommenden Seiten dieses Buches deutlich zutage treten, mussten die IWW schließlich scheitern. Die Red.)
Alle Macht soll der kollektiven Mitgliedschaft gehören...
Alle Arbeiter, die mit den hier aufgestellten Prinzipien übereinstimmen, werden am 27. Juni 1905 in Chicago zu einer Konferenz zusammenkommen, um eine wirtschaftliche Organisation der Arbeiterklasse nach den in
diesem Manifest vorgezeichneten Richtlinien zu schaffen... "
Auf der Rückseite des Manifestes war ein Organisationsschema mit einer Einteilung der Industriearbeiter in Gruppen dargestellt. Darunter wurden die Erfordernisse einer industriellen Organisation der Arbeiter erklärt. Drei Sekretäre wurden bestimmt, die für die Verbreitung des Manifestes sorgen sollten: einer für den Osten, einer für das Innere des Landes und ich für den Westen. Zweihunderttausend Exemplare des Manifestes wurden verteilt. Außerdem gab es viel Korrespondenz und andere Arbeiten zur Vorbereitung des Kongresses, der, wie wir beschlossen hatten, im kommenden Juni in Chicago stattfinden sollte, zu erledigen. Das Manifest fand allgemein starken Widerhall. Es war erfreulich zu sehen, wie viele verschiedene Berufe und Industrien ein aktives Interesse zeigten.
Mit Ausnahme des Streiks in der Standard-Hütte in Colorado City und des Streiks im Bezirk Cripple Creek waren alle Streiks in Colorado beigelegt oder abgebrochen worden. Überall hatten die Arbeiter im Erzbergbau und in den Hütten erhebliche Vorteile davongetragen. Nach unserer Rückkehr in das Büro der Bergarbeiterföderation in Denver gaben wir ein Rundschreiben an falle Bergarbeiter heraus, in dem wir sie daran erinnerten, dass der Streik in Cripple Creek noch immer im Gange war und dass die von den Grubenherren verbreitete Behauptung von der Beendigung des Streiks eine Lüge war.
Eines Tages kam ich etwas früher als gewöhnlich nach Hause und fand die Wohnung voller lachender, lärmender Kinder. Ich fragte meine Frau, was das zu bedeuten habe.
„Ich weiß es auch nicht!" antwortete sie. „Du musst Henrietta fragen."
Ich sah das rote Köpfchen der siebenjährigen Henrietta zwischen den anderen im Speisezimmer herumhüpfen. Sobald es mir gelang, mich ihr bemerkbar zu machen, rief ich sie zu mir und fragte sie, wo alle diese Kinder herkämen.
„Wir haben eine Gesellschaft!"
„Aber warum hast du deiner Mutter oder mir nichts davon gesagt?" fragte ich. „Wer besorgt denn hier das Haus?"
„Ich besorge es doch auch mit!" antwortete sie und sah mich mit blitzenden Augen an.
Ich sah sie an. Auf einmal wurde mir klar, dass sie kein kleines Kind mehr war.
„Das stimmt schon, aber du hast ja gar nichts vorbereitet, um die Kinder zu bewirten."
„Ich konnte es Mama nicht sagen, denn sie kann nichts für sich behalten, und es sollte ja auch eine Überraschung für sie werden."
„Nun", sagte ich, „dann wollen wir etwas Kuchen und Süßigkeiten für deine Gäste besorgen." Als die anderen Kinder gegangen waren, rief ich Henrietta und Vernie zum Sofa heran, auf dem ihre Mutter lag.
„Heute Nachmittag hat Henrietta mir gesagt, dass sie die Wirtschaft mit führt. Nun, wenn das der Fall ist, dann müsst ihr Kinder auch einen Teil der Verantwortung übernehmen. Ihr müsst über das Geld, das ihr ausgebt, Buch führen, und vielleicht können wir wirklich zu viert besser wirtschaften als bisher." Von diesem Tage an halfen die Kinder im Hause mit, und wir besprachen alles mit ihnen.
Der 12. Jahreskongress der Bergarbeiterföderation fand
1905 in Salt Lake City statt. Trotz der vielen Streiks und der mit ihnen verbundenen Ausgaben war dies der beste Kongress, den wir jemals erlebt hatten. Die Mitgliederzahl war während des vergangenen Jahres um dreitausend gestiegen. Es kamen Delegierte von den neuen Grubenorten in Nevada, von Tonopah, Goldfield, Rhyolite und Bullfrog. Albert Ryan, ein Delegierter aus Arizona, wurde als einer der Vertreter der Bergarbeiterföderation zum Gründungskongress der IWW delegiert. Später geriet er in eine Schießerei, tötete zwei Kerle, die sich als Streikbrecher betätigt hatten, und wurde zu lebenslänglichem Gefängnis in San Quentin, Kalifornien, verurteilt, wo er fünfzehn Jahre absaß, bevor er begnadigt wurde. Die anderen Delegierten für den Juni-Kongress der IWW waren Moyer, Baker, McKinnon und ich. Die Bergarbeiterföderation hatte das Manifest angenommen und uns beauftragt, die Föderation bei der neuen Organisation als Mitglied anzumelden. Wenige Tage nach der Rückkehr von Salt Lake City nach Denver reisten wir schon nach Chicago zum Gründungskongress der Industriearbeiter der Welt. Am 27. Juni 1905 war Brand's Hall überfüllt von Zuhörern und über zweihundert Delegierten, unter ihnen zwei alte Veteranen, Mutter Jones, die einzige Frau, die am Gründungskongress teilnahm, und Eugene Debs. Während ich sie und manch anderen alten Kameraden begrüßte, überlegte ich im stillen, wie ich die Konferenz eröffnen könnte. Ich erinnerte mich daran, dass die Arbeiter während der Pariser Kommune einander als „Mitbürger" angeredet hatten, aber es waren viele Arbeiter anwesend, die nicht amerikanische Bürger waren, und so ging das nicht. Ich wollte aber auch nicht die alte gewerkschaftliche Anrede „Brüder und Schwestern" gebrauchen. Ich packte also statt des üblichen Hammers des Vorsitzenden
ein Stück von einem Brett, das auf der Rednertribüne lag, eröffnete die Sitzung mit der Anrede „Arbeitsbrüder!" und fuhr fort:
„Indem ich diesen Kongress eröffne, bin ich mir der Verantwortung bewusst, die auf mir und jedem der hier anwesenden Delegierten ruht. Dies ist der Kontinentalkongress der Arbeiterklasse. (Anm.: Anspielung auf den Kontinentalkongress der dreizehn englischen Kolonien in Nordamerika, auf dem 1776 die Unabhängigkeitserklärung angenommen wurde. Die Red.) Wir sind hier, um die Arbeiter dieses Landes zu einer Arbeiterorganisation zusammenzufassen, die sich das Ziel setzt, die Arbeiterklasse aus den Sklavenfesseln des Kapitalismus zu befreien. Es gibt bei uns, so scheint es wenigstens, keine Arbeiterorganisation, die das zum Ziel hat, was uns heute zusammenführt. Zweck und Ziel dieser Organisation soll sein, die Arbeiterklasse in den Besitz der ökonomischen Macht, der Mittel zum Leben, zu setzen, und ihr die Verfügung über den Apparat der Produktion und Verteilung ohne Rücksicht auf kapitalistische Herren zu geben.
,Die AFL, die sich anmaßt, die Arbeiterbewegung dieses Landes zu sein, ist keine Bewegung der Arbeiterklasse. Sie vertritt nicht die Arbeiterklasse. Es gibt Organisationen, die der AFL angeschlossen sind, wenn auch nur lose, die in ihren Satzungen oder ihren Ortsstatuten die Aufnahme von Farbigen oder die Übertragung einer Funktion an einen solchen verbieten; und solche Organisationen, die die Übertragung einer Funktion an Ausländer verbieten. Was wir dagegen jetzt errichten wollen, ist eine Arbeiterorganisation, die ihre Türen jedem weit öffnet, der sich durch seine geistige Arbeit oder seine Muskelkraft seinen Unterhalt verdient. Es ist eine große Arbeit auf diesem Kongress zu voll-
bringen, und jeder von euch muss begreifen, welche Verantwortung auf ihm ruht.
Wenn die Monopolgesellschaften und Kapitalisten begreifen, dass ihr euch für den ausdrücklich erklärten Zweck organisiert habt, die Leitung der Industrie in die Hände derjenigen zu legen, die alle Arbeit leisten, werdet ihr allen Gemeinheiten und Grausamkeiten ausgesetzt sein, die sie nur erfinden können. Ihr werdet auch den so genannten Arbeiterführer gegen euch haben, den Mann, der euch und anderen Arbeitern erzählen wird, dass die Interessen der Kapitalisten und der Arbeiter identisch sind. Ich möchte sagen, dass ein Mann, der solche Behauptung aufstellt, ein schlimmerer Feind der Arbeiterklasse ist als der Fabrikant D. M. Parry oder der Bankier August Belmont. Es gibt keinen Mann mit auch nur einer Unze Ehrlichkeit, der nicht die Tatsache anerkennt, dass ein fortgesetzter Kampf zwischen den beiden Klassen besteht. Und unsere Organisation soll auf der Grundlage des Klassenkampfes geschaffen werden. Sie wird sich auf ihn stützen, ohne Kompromiss und ohne Nachgeben, nur mit einem Ziel und einem Zweck, nämlich, die Arbeiter dieses Landes in den Besitz des vollen Wertes ihres Arbeitsertrages zu setzen." Hierauf wurden die zahlreichen Begrüßungsschreiben aus dem Auslande verlesen; Pouget von der französischen Confédération du Travail, Karl Legien von der deutschen Arbeiterbewegung und die Sekretäre anderer Länder hatten der Konferenz schriftlich guten Erfolg gewünscht. Auch aus den Vereinigten Staaten waren viele Briefe eingetroffen. Ed Boyce hatte sich entschuldigt, dass er nicht teilnehmen könne; Vincent St. John, der später einer der Führer der neuen Organisation wurde, hatte unter einem Decknamen einen Brief geschickt. Die Konferenz bestand aus verschiedenen Gruppen. Die
Bergarbeiterföderation des Westens war der entscheidende Faktor unter ihnen. Moyer, O'Neill, ich und die anderen Delegierten der Bergarbeiterföderation sowie die als Einzelpersonen erschienenen Berg- und Hüttenarbeiter handelten nach den Anweisungen der vorangegangenen Kongresse der Föderation und waren mit klaren Vorstellungen über die Notwendigkeit einer Organisation der Arbeiterklasse auf der Grundlage von Industriegewerkschaften nach Chicago gekommen. Die Delegierten der Amerikanischen Arbeiterunion waren ebenso entschieden in ihren Ansichten, hatten jedoch nicht die gleiche praktische Erfahrung aus den Streiks im Westen sammeln können, wie die Delegierten der Bergarbeiterföderation.
Die Sozialisten, die mit Debs auf dem Kongress erschienen waren, hatten erkannt, dass die Bewegung für Industriegewerkschaften die Grundlage der sozialistischen Bewegung sei. Von den Politikanten der Sozialistischen Partei, wie Berger, Hillquit, Spargo oder Hayes, nahm keiner teil.
Der Sozialistische Handwerker- und Arbeiterbund, De Leons Organisation, kann als eine Sekte von Leuten bezeichnet werden, die nicht auf Grund ihrer praktischen Arbeit unter der Arbeiterklasse zum Kongress kamen, sondern weil sie das Manifest zur Einberufung gelesen hatten und davon angezogen worden waren. Die wenigen auf dem Kongress anwesenden Anarchisten sahen in der neuen Organisation eine Verjüngung der Arbeiterbewegung.
Außerdem waren Metallarbeiter und Eisenbahner anwesend, die kleine, von der AFL und den Eisenbahnerbruderschaften enttäuschte Gruppen vertraten. Diejenigen, die als individuelle Delegierte teilnahmen, waren Leute, die sich aktiv für die Industriegewerkschaftsbewegung interessierten. Alles in allem konnte der Kongress, zu dessen Vorsitzendem ich gewählt wurde, als die Vertretung von ungefähr einhundertfünfzigtausend Arbeitern angesehen werden. Der erste wichtige Punkt der Tagesordnung war eine Diskussion über das Manifest. Die Diskussion wurde von William Trautmann, dem früheren Herausgeber der Brauereiarbeiterzeitung, eröffnet, der die AFL heftig angriff. Andere Redner folgten, die viele Beispiele von der Korruption und Unfähigkeit der AFL anführten. Nun erhob sich der alte Debs. Neben ihm saßen Mutter Jones und Lucy Parsons, die Witwe eines der Märtyrer von Haymarket. Die drei gaben ein Bild, das symbolisch war für die Arbeit, die wir unternommen hatten. Debs sagte folgendes:
„Sie klagen uns an, dass wir hier sind, um die Gewerkschaftsbewegung zu sprengen. Sie ist aber schon gesprengt. Wenn sie es nicht wäre, dann würden wir hier nicht in dieser Stadt das Schauspiel erleben, dass ein weißer Polizist einen schwarzen Streikbrecher und ein schwarzer Polizist einen weißen Streikbrecher schützt, während die Gewerkschaften mit den Händen in den Taschen danebenstehen und sich fragen, was wohl mit der Gewerkschaftsbewegung in Amerika los sei. Wir sind heute hier, um die Arbeiterklasse zu vereinigen, um jene Form der Gewerkschaftsorganisation auszumerzen, die verantwortlich ist für die Bedingungen, wie sie heute bestehen.
Die Gewerkschaftsbewegung steht heute unter der Kontrolle der Kapitalistenklasse. Sie predigt kapitalistische Wirtschaftstheorien und dient kapitalistischen Zwecken. Unleugbare und überwältigende Beweise dafür treten überall zutage. Alle wichtigen Streiks während der letzten zwei oder drei Jahre scheiterten...
Etwas ist nicht in Ordnung mit dieser Form der Gewerkschaftsbewegung, die ihre stärkste Stütze an der kapitalistischen Presse hat; etwas ist nicht in Ordnung mit dieser Form der Gewerkschaftsbewegung, die ein Bündnis mit solchen kapitalistischen Verbänden wie dem Landesbürgerbund schließt, dessen einziger Zweck es ist, die Arbeiterklasse zu chloroformieren, während die Kapitalisten ihr die Taschen ausrauben... Ich glaube, dass es den hier versammelten Delegierten möglich ist, eine große, starke wirtschaftliche Organisation der Arbeiterklasse zu schaffen, die sich auf den Klassenkampf gründet, die breit genug ist, um alle ehrlichen Arbeiter zu erfassen, aber eng genug, um alle Schwindler auszuschließen."
Vor Debs saß Daniel De Leon vom Sozialistischen Handwerker- und Arbeiterbund, mit seinem dachsgrauen Backenbart und schwarzen Kinnbärtchen. Er hatte seinen alten Gegner Debs verstohlen betrachtet und schien ganz entzückt von dem, was der Arbeiterführer zu sagen hatte. Jahrelang hatte ein großer Meinungsgegensatz zwischen Debs und De Leon bestanden. Sie vertraten zwei Extreme in der sozialistischen Bewegung. Nun, als De Leon nach Debs zu sprechen begann, konnte ich verstehen, worin der Gegensatz zwischen den beiden bestand: De Leon war der theoretisierende Professor, während Debs der Arbeiter war, der, als er sich an die Organisierung der Lokomotivheizer machte, eben erst seine Heizerschaufel hingelegt hatte. Debs' Ideen waren, wenn auch nicht klar entwickelt, so doch aus seinem Kontakt mit den Arbeitern in ihrem Kampf entstanden. De Leons einziger Kontakt mit der Arbeiterschaft bestand in den Ideen, mit denen er sie „erfüllen" wollte, um seine eigenen Worte zu gebrauchen. Ich sprach zum Manifest:
„Es ist gesagt worden, dass dieser Kongress eine mit der AFL rivalisierende Organisation schaffen soll. Das ist ein Irrtum. Wir sind hier, um eine Arbeiterorganisation zu schaffen, die breit genug ist, die ganze Arbeiterklasse zu erfassen. Die AFL ist keine solche Organisation, da ihr eine Reihe von Verbänden angeschlossen sind, die sich absolut weigern, neue Mitglieder aufzunehmen... Wir erkennen, dass wir hier eine revolutionäre Bewegung schaffen und dass die Kapitalisten nicht die einzigen Feinde sind, die wir zu bekämpfen haben, sondern dass der erbittertste Feind der beschränkte Gewerkschafter sein wird. Aber deren gibt es nur wenige. Und sie sind nicht sehr gut organisiert. Ihr habt ein ungeheures Arbeitsfeld vor euch. In den Vereinigten Staaten von Amerika gibt es mindestens zwanzig Millionen unorganisierter Arbeiter, ganz zu schweigen von Kanada. Diese Bewegung für Industriegewerkschaften ist breit genug, um sie alle aufzunehmen, und wir sind hier zu dem Zweck, diese Gewerkschaft zu gründen, die ihre Tore der Arbeiterklasse weit öffnen wird... Ich bin hoch erfreut, zu sehen, wie sich die extremen politischen Kräfte auf diesem wirtschaftlichen Boden begegnen. Dies halte ich für die Basis aller politischen Parteien - eine solide Grundlage, auf der eine Organisation errichtet werden kann, auf der die Arbeiter sich in einer festen, gewaltigen Organisation zusammenschließen können; und ebenso sicher wie die Sonne aufgeht, wird die Arbeiterklasse, wenn ihr sie wirtschaftlich organisiert, auch ihren eigenen politischen Ausdruck bei den Wahlurnen finden... "
Nach längerer Debatte wurden die Statuten mit folgender Präambel angenommen:
„Die Arbeiterklasse und die Unternehmerklasse haben nichts miteinander gemein. Es kann keinen Frieden geben, solange Millionen arbeitender Menschen Hunger und Not leiden und die wenigen, die die Unternehmerklasse bilden, alle Güter des Lebens besitzen. Zwischen diesen beiden Klassen muss der Kampf geführt werden, bis alle Schaffenden auf dem politischen wie auf dem industriellen Gebiet zusammenkommen und durch eine wirtschaftliche Organisation der Arbeiterklasse, die an keine politische Partei angeschlossen ist, das, was sie durch ihre Arbeit erzeugen, in Besitz nehmen und verwalten.
Die rapide Ansammlung des Reichtums und die Konzentration der Leitung der Industrien in immer weniger Händen macht die Fachverbände unfähig, den Kampf gegen die ständig wachsende Macht der Unternehmerklasse zu führen, weil sie einen Zustand der Dinge fördern, der es zulässt, dass eine Arbeiterkategorie gegen eine andere Arbeiterkategorie der gleichen Industrie ausgespielt wird, so dass sie gegenseitig zu ihrer Niederlage in den Lohnkämpfen beitragen. Die Fachverbände unterstützen die Unternehmerklasse bei der Irreführung der Arbeiter, indem sie diese glauben machen, dass die Arbeiterklasse gemeinsame Interessen mit ihren Unternehmern habe.
Nur durch eine Organisation, die so aufgebaut ist, dass all ihre Mitglieder in einer bestimmten Industrie oder in allen Industrien gegebenenfalls die Arbeit niederlegen, wann immer ein Streik oder eine Aussperrung in einem Zweig der betreffenden Industrie im Gang ist, so dass jedes Unrecht an einem zu einem Unrecht an allen wird, können diese traurigen Zustände geändert und die Interessen der Arbeiterklasse gewahrt werden." Während der ganzen Konferenz war ich sehr beschäftigt. Fast ununterbrochen führte ich den Vorsitz und nahm nach den Plenartagungen an vielen Besprechungen der verschiedenen Komitees teil, als deren inoffizielles Mitglied ich betrachtet wurde. Sullivan, Vorsitzender der AFL des Staates Colorado, war Mitglied des Komitees, das die Einleitung zu den Statuten redigierte. Ich schlug einige Abänderungen für die Einleitung vor, die auch angenommen wurden. Die Umänderung des alten Wahlspruchs der „Ritter der Arbeit": „Ein Unrecht an einem ist die Sache aller" in: „Ein Unrecht an einem ist ein Unrecht an allen" wurde von Coates vorgeschlagen. Die Bergarbeiterdelegierten waren es, die alle wichtigen Fragen auf der Konferenz entschieden. Sie waren in der festen Absicht gekommen, einen Verband von Industriegewerkschaften zu organisieren.
Der 1. Mai wurde von der Organisation zum internationalen Feiertag auch für die amerikanische Arbeiterklasse erklärt. Als wirksamste Waffe gegen den Kapitalismus wurde der Generalstreik empfohlen. Es wurde entschieden, dass nur Lohnarbeiter als Mitglieder aufgenommen werden sollten; ferner wurde das allgemeine Übertrittsrecht der Mitglieder beschlossen; jeder Gewerkschafter, der mit einer Mitgliedskarte eines Verbandes seines eigenen Landes kam und seine Beiträge an denselben gezahlt hatte, wurde von den IWW aufgenommen. Die amerikanischen Gewerkschaften verlangten damals ungeheure Eintrittsbeiträge von ausländischen Gewerkschaftern, die sich um die Mitgliedschaft bewarben. Ferner wurde eine Resolution für die Schaffung einer Arbeiterpresse, eines Literaturkomitees und einer Referentenzentrale angenommen. Der Militarismus wurde verurteilt, und jeder, der in die Armee, in die Miliz oder in die Polizei eintrat, war ein für allemal von der Mitgliedschaft ausgeschlossen. Dies geschah natürlich vor der Zeit der allgemeinen Militärdienstpflicht, die in Amerika erst 1917 eingeführt wurde.
A. M. Simons und eine Reihe anderer Delegierter hatten in ihren Reden auf die russische Revolution von 1905 hingewiesen, die schon damals ein Ansporn für die Arbeiterbewegung der ganzen Welt war. Lucy Parsons sprach von dem Schrecken, den die russischen Kapitalisten spürten, als die rote Flagge in Odessa gehisst wurde. Der Delegierte der Werftarbeiter, Kiehn, beantragte folgende Resolutionen über Russland: „Da im Augenblick ein mächtiger Kampf der arbeitenden Klasse im fernen Russland gegen unerträgliche Gewalt, Unterdrückung und Grausamkeit und für menschliche Bedingungen für die Arbeiterklasse dieses Landes im Gange ist;
da das Ergebnis dieses Kampfes für die Angehörigen der Arbeiterklasse aller Länder im Kampf um ihre Befreiung von allergrößter Bedeutung ist; da dieser Kongress zu dem Zwecke versammelt ist, die Arbeiterklasse Amerikas in einer Organisation zu vereinigen, die ihr ermöglichen wird, das Joch der kapitalistischen Unterdrückung abzuschütteln; wird beschlossen, dass wir, die auf diesem Kongress versammelten Industriegewerkschaften Amerikas, unsere russischen Arbeitsbrüder auffordern, in ihrem Kampfe weiter auszuharren, dass wir den Opfern der Gewalt, Unterdrückung und Grausamkeit unsere herzliche Sympathie aussprechen und dass wir, soweit dies in unserer Macht liegt, unseren verfolgten, kämpfenden und leidenden Genossen im fernen Russland unsere moralische und finanzielle Unterstützung versprechen." Die Delegierten fuhren auch auf den Waldheim-Friedhof, um die Gräber der Märtyrer von Chicago zu besuchen.
Als es zur Wahl der leitenden Funktionäre der neuen Organisation kam, wurde ich von Guy Miller zum Präsidenten vorgeschlagen. Aber ich musste ablehnen, da ich gerade als Sekretär und Hauptkassierer der Bergarbeiterföderation des Westens wieder gewählt worden war und meine Pflichten mich vorläufig dort festhielten. Da Coates ablehnte, wurde Sherman einstimmig zum ersten - und letzten - Präsidenten der Industriearbeiter der Welt gewählt.
Auf der Rückreise nach Denver erörterten wir miteinander die geleistete Arbeit und tauschten unsere Meinung über die gewählten leitenden Funktionäre aus. Wir hatten den Eindruck, die uns aufgetragene Arbeit gut durchgeführt zu haben. Ich dachte damals noch nicht an die Möglichkeit einer schlechten Leitung oder an andere Unannehmlichkeiten, die innerhalb der neuen Organisation entstehen könnten. Ich stand noch unter dem Eindruck der glühenden Begeisterung der Delegierten und war überzeugt, dass die Industriearbeiter der Welt eine große Zukunft vor sich hatten. |
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