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William Dudley Haywood - Unter Cowboys und Kumpels (1930)
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Einundzwanzigstes Kapitel
2091 Jahre Zuchthaus!

George Vanderveer, Hauptverteidiger, ein Anwalt von außergewöhnlichen Fähigkeiten, eröffnete den Reigen der Verteidigungsreden in kühlem, ruhigem Tone, aber er hatte noch nicht lange gesprochen, als seine Augen zu glänzen begannen und er den Geschworenen in eindringlichen Worten vom Klassenkampf sprach: „Dieser Prozess ist ungewöhnlich. Er ist angeblich ein Prozess gegen William D. Haywood, James P. Thompson, John Foss und eine große Zahl anderer Männer, von denen Sie bisher niemals etwas gehört haben, aber - es ist eine Anklage auf ,Verschwörung', in der die Staatsanwaltschaft behauptet, diese Angeklagten hätten sich zwecks Verletzung gewisser Gesetze der Vereinigten Staaten verschworen; für dieses angebliche Verbrechen will die Staatsanwaltschaft die Angeklagten ins Gefängnis schicken. In Wirklichkeit jedoch bezweckt die Staatsanwaltschaft nichts weiter als die Zerstörung der Organisation, mit der diese Männer verbunden sind, und die Vernichtung des Ideals, für das ihre Organisation einsteht... Ich möchte Ihnen erklären, was diese Männer gesagt und was sie getan haben und welche Absichten sie damit verfolgten.
Der Herr Richter hat meine Bezugnahme auf den Bericht des Ausschusses für Industriebeziehungen für unzulässig erklärt. Ich möchte nichts wiederholen. Sie werden sich erinnern, dass die große Mehrheit unserer einfachen Arbeiter in den Schlüsselindustrien, aus denen die IWW ihre Mitgliedschaft rekrutieren, nicht in der Lage ist, den notwendigen Lebensunterhalt für sich und ihre Familien zu verdienen. Es war die Aufgabe der Angeklagten,
diese Tatsachen der arbeitenden Bevölkerung mitzuteilen, damit sie - zum Verständnis ihrer Lage und zur Erkenntnis der Ursachen dieser Lage gelangt - klüger und wirksamer nach einem Mittel zur Abhilfe suchen und dieses anwenden kann. Es wirft ein trauriges Licht auf unser System, dass neunundsiebzig Prozent der Familienväter der Arbeiterschaft überhaupt nicht imstande sind, ihre Familien zu erhalten und ihre Kinder auf einem der Zivilisation würdigen Niveau zu erziehen. Niemand kann das Unrecht der Vergangenheit ungeschehen machen. Alles, was wir tun können, ist, uns mit der Zukunft befassen und, wenn möglich, die weitere Entwicklung und das weitere Wachsen eines Systems zu verhindern, das diese Zustände mit sich bringt..." Vanderveer sprach dann von den großen Trusts, die eine größere Macht repräsentieren als die Regierung: „Man hat hier ein Ding großgezogen, das mächtiger ist als die Regierung, ein Ding, das in Wahrheit die Regierung ist - die unsichtbare Regierung Ihres Landes, die Tag für Tag bestimmt, wie viel Sie essen, wie viel Sie für Ihre Arbeit erhalten, welche Schulbildung Ihre Kinder erhalten und wie viel Nahrungsmittel; und noch etwas: sie hat die Geschäftsethik, die Geschäftsmoral vollkommen zerstört...
Dieses Ding, von dem ich sprach, wurde nicht vom Gesetz großgezogen. Es wuchs, weil einige Menschen durch die Bildung von Trusts und Aktiengesellschaften in der Industrie die Macht erhielten, die Arbeiterschaft auszubeuten. Und es wird aufhören zu wachsen, sobald sich die Arbeiterschaft organisiert und die Macht erlangt, ihrer Ausbeutung durch das Kapital Einhalt zu gebieten. Aber ihr wendet Sabotage an', sagt der Staatsanwalt, und von den Tausenden von Sägewerken in Washington bringt er nur zwei, in denen Sägen aus irgendeinem
nicht festgestellten Grunde zerbrachen, und einige wenige Dreschmaschinen von Hunderten, über die hier von Zeugen ausgesagt wurde. Wir werden Zeugen bringen - nicht von der Art, die Sie bisher hier gesehen haben -, sondern angesehene Farmer, die an den Orten, wo die IWW am besten organisiert sind, schon seift Jahren mit ihnen arbeiten, und die Ihnen erzählen werden, dass sie niemals bessere Arbeiter hatten als die IWW..."
Dann sprach Vanderveer von den Vorgängen in Butte und von der industriellen Tyrannei des Kupfertrusts mit seinen abgefeimten „schwarzen Listen". „Am 8. Juni brach ein Feuer, das so genannte Speculator-Feuer, aus - und wenn Sie niemals ein Grubenfeuer gesehen haben, dann kann Ihnen keine Schilderung eine Vorstellung davon geben. Niemand kann es Ihnen schildern. Es spottet einfach jeder Beschreibung. Das Volk, das zur brennenden Grube eilte, fand die Tore versperrt und die Anlagen verrammelt. Frauen und Kinder konnten nicht hineingelangen, um nachzusehen, ob ihre Männer und Väter im Feuer umgekommen waren. Und schließlich wurden die Leichen herausgetragen. Und mit den Leichen kamen die Männer, die sie entdeckt hatten und mit diesen Männern, die die Opfer geborgen hatten kam auch die verruchte Geschichte zutage, wie sich die Katastrophe zugetragen hatte! Die bedauernswerten Menschen wanderten zum Leichenschauhaus, sahen die Leichen dort aufgeschichtet, einhundertfünfundsiebzig an der Zahl; achtundsechzig davon so schwarz verkohlt, dass sie nicht identifiziert werden konnten. Ein anderer Streik fand unten in Arizona statt. Am 12. Juli wurden in Bisbee eintausendeinhundertsechsundachtzig Männer, bedroht von Maschinengewehren, in schmutzige Viehwagen geladen, in denen der Unrat
sechs Zoll hoch lag. Sie wurden in die brennende Hitze der Wüste von Arizona an einen Ort namens Hermanas verfrachtet, zwischen diesem Ort und Columbus, Neumexiko, hin und her geschoben und schließlich in Columbus den amerikanischen Bundestruppen übergeben. Etwas Merkwürdiges geschah aber am 12. Juli: jeder dieser Männer wurde gefragt: ,Wollen Sie arbeiten oder deportiert werden?' Währenddessen blieben die Frauen und Kinder zu Hause im Elend zurück, ohne Geld, ohne Lebensmittel, ohne irgend etwas." Sich dem Schlusse nähernd, fuhr Vanderveer fort: „Wenn Patriotismus bedeutet, die Fahnen vom Dach wehen zu lassen und dann Profite zu machen, so sind die IWW unpatriotisch. Wenn Patriotismus bedeutet, dass man den Krieg für das beste Mittel, Differenzen zu regeln, und das Massenabschlachten unschuldiger Leute für richtig halten muss, dann sage ich nochmals, dass die IWW seit Jahren in diesem Sinne unpatriotisch gewesen sind, denn die IWW waren niemals Anhänger des Krieges und sind es auch jetzt nicht." Viele Zeugen waren nach Chicago gekommen, um zugunsten der IWW auszusagen. Wir konnten beweisen, dass Hunderte von Mitgliedern unserer Organisation Waldbrände bekämpft und die Forsten von Washington, Idaho und Montana gerettet hatten. Farmer traten als Zeugen auf und bezeugten, dass die IWW die besten Arbeiter waren, die sie auf ihren Farmen beschäftigt hatten.
Eines der Opfer, die in Tulsa, Oklahoma, geteert und gefedert worden waren, berichtete vor Gericht von der Art und Weise, wie der patriotische Pöbel vorgegangen war. Bergarbeiter, die zur Zeit des furchtbaren Grubenbrandes in der Speculator-Grube waren und den Flammen entkamen, erzählten, wie sie zweihundert Fuß zum nächsten Stollen emporklettern mussten, in ihn hineinliefen und sich dort mit Brettern und Planken verbarrikadierten. Die Ritzen verstopften sie mit ihren Kleidern. Sechsunddreißig Stunden mussten sie in dieser Lage, mit nur wenig Luft und ohne Wasser, aushalten. Die Verteidigung setzte mit James P. Thompson, einem alten Organisatoren und einem prächtigen Menschen mit klarem Verstand, ein. Ein amerikanischer Künstler hat später von ihm ein Bild gemalt, das jetzt im Versammlungssaal der irischen Arbeiter in Dublin hängt. Thompson begann seine Aussage mit einer Bezugnahme auf den Bericht des Ausschusses für Industriebeziehungen, der vom Richter Landis nicht zugelassen worden war. Thompson wurde es jedoch gestattet, sich auf den Bericht zu berufen, da er vor dem Ausschuss als Zeuge aufgetreten war.
Er schloss seine Aussagen mit folgenden Worten: „Gerade die Leute, die heute die IWW beschimpfen, hätten die Stiefel König Georgs geleckt, wenn sie in den Tagen unserer Vorfahren gelebt hätten. Von den Burschen, die barfüßig in Valley Forge im Schnee für die Unabhängigkeit unseres Landes kämpften, hätten sie gesagt: ,Seht sie an! Sie haben nicht einmal Schuhe an den Füßen und sprechen von Freiheit!'"
Nebeker erhob sich, um zu protestieren. Aber er erhielt eine gepfefferte Antwort: „Ich habe niemand persönlich angesprochen. Ich wiederhole nur, was ich in meinen Vorträgen gesagt habe. Aber wenn Ihnen die Jacke passt, bitte sehr."
Bill Dunne, ein Elektrizitätsarbeiter, damals Herausgeber des „Bulletins" in Butte, schilderte den Märtyrertod Frank Littles, der ein Opfer des Kupfertrusts wurde. Er erwähnte die Tatsache, dass Little wegen eines gebrochenen Beines an Krücken ging, dass er an einem
doppelten Bruch litt, den er den Misshandlungen des Pöbels in Wisconsin zu verdanken hatte, dass er nur ein Auge hatte und dass seine Mörder die Todeswarnung des so genannten Bürgerschutzkomitees, 3-7-77, an der Leiche befestigt hatten. Dunne hatte selbst eine ähnliche Warnung erhalten.
Ein Angeklagter nach dem andern machte seine Aussagen für sich und die Organisation, der er angehörte. Da waren die Sekretäre der verschiedenen Industrieverbände, die Herausgeber der englischsprachigen Zeitungen, der Monatszeitschrift und der verschiedenen Blätter in ausländischen Sprachen.
Ich gehörte zu den letzten, die vernommen wurden. Wieder musste ich mein Leben und meine Arbeit schildern, meine Beziehungen zur Bergarbeiterföderation des Westens, die Gründung der IWW, Ziel und Zweck dieser Organisation. Mein Verhör dauerte vier Tage, ich wurde direkt von Vanderveer befragt und von Nebeker unter Kreuzverhör vernommen.
Nebeker, der Hauptstaatsanwalt, war ein aalglatter Bursche, eine schleimige Kreatur, vielleicht noch fuchsschlauer, als er vor mir scheinen wollte. Er befragte mich ausführlich über die Literatur der Organisation, über die Streiks der Eisen- und Kupferbergarbeiter, der Holzarbeiter, über meine Telegramme an den Präsidenten und die offiziellen Beziehungen zu verschiedenen Mitgliedern der Organisation.
Während ich von Nebeker im Kreuzverhör vernommen wurde, überreichte Karm, das schon erwähnte Subjekt von der Sozialistischen Arbeiterpartei, dem Staatsanwalt
eine Broschüre Daniel De Leons „Über Politik". Nachdem Nebeker diese Broschüre durchgesehen hatte, gab er sie mir mit dem Bemerken, er werde mich später
darüber verhören. Später verlangte Nebeker die Broschüre von mir zurück, stellte jedoch keine weiteren Fragen.
Als ich zum Zeugenstand gerufen wurde, füllte sich der Gerichtssaal. Es lag eine dramatische Spannung in der Luft. Ja, es war dramatisch, die Geschichte der Arbeiterkämpfe in den letzten dreißig Jahren zu hören. Stundenlang saß alles regungslos da. Die Geschworenen beugten sich vor, um sich nur kein Wort entgehen zu lassen. Selbst der Richter bemerkte nicht, wie die Stunden vergingen, der Gerichtsdiener musste ihn erinnern, dass die Zeit bereits überschritten sei.
Ich sprach von dem Gegensatz zwischen Reichtum und Armut, die im reichsten Land der Welt Seite an Seite zu finden sind, vom elenden Leben jener, die in den Gruben des Westens, den Industriewerken des Nordens, den Terpentinlagern des Südens und den Textilfabriken des Ostens den Reichtum produzieren. Ich berichtete, wie in Fall River Frauen und Kinder für Hungerlöhne einen endlos langen Arbeitstag hinter sich brachten, sprach von ihrem unbeschreiblich elenden Leben, von unterernährten Müttern, die ihre Säuglinge nicht stillen konnten, von der erschreckend hohen Kindersterblichkeit von 40 Prozent. Und neben diesem Höllenpfuhl des Kapitalismus, nur am anderen Flussufer, so sagte ich, steht Newport, wo die „beschäftigungslosen" Kapitalisten ihre Orgien der Idiotie und sexuellen Perversität feiern, wo sie sich mit Affendiners und Hundehochzeiten vergnügen und Parasiten wie Mrs. Penrose, Mrs. Frank Heath und Mrs. MacNeil der Hochzeit von zwei Pudeln beiwohnten. Das seien dieselben Penrose und MacNeil, in deren Kupfergruben die IWW streikten.
Staatsanwalt Nebeker erhob Einwände gegen die Vorlage einer Anzahl fotografischer Aufnahmen von Arbeitern, die in den Bergwerken in Stücke gerissen oder vom Pöbel im Auftrag der Unternehmer gemartert und gelyncht worden waren. Nebeker bezeichnete sie als „grauenhaft", und ich antwortete darauf, grauenhaft seien die Zustände, die von der Kamera nur wahrheitsgetreu wiedergegeben worden seien. Im Laufe der Verhandlungen hatten wir festgestellt, dass unseren Zeugen Schwierigkeiten bereitet wurden, dass nicht nur die Briefe des Verteidigungsausschusses aufgehalten, sondern auch Sammler für den Verteidigungsfonds verhaftet wurden. Es wurde vor Gericht erwiesen, dass vorgeladene Zeugen in ihren Hotels von Geheimagenten der Staatsanwaltschaft aufgesucht und bedroht worden waren.
Als die Vernehmung der Zeugen abgeschlossen war, sprach als erster Nebeker zu den Geschworenen. Das Plädoyer währte weniger als eine Stunde. Zum Erstaunen der Staatsanwaltschaft beschlossen unsere Verteidiger, auf das Schlussplädoyer zu verzichten. Dieser Schachzug hinderte die Staatsanwaltschaft daran, das Schlusswort an die Geschworenen zu richten. Richter Landis belehrte die Geschworenen, die sich darauf zurückzogen und schon nach einer Stunde zurückkehrten. Ihr Urteilsspruch war gefällt und wurde dem Gericht verkündet: „Schuldig im Sinne der Anklage."
Die Geschworenen hatten Scharen von Zeugen angehört. Hunderte von Beweisstücken waren zu untersuchen. Nicht weniger als siebzehntausendfünfhundert Gesetzes­übertretungen waren zu beurteilen; vierzigtausend maschinengeschriebene Seiten Berichte lagen vor. All dies hätte untersucht und geprüft werden müssen, und doch gaben die Geschworenen ihr Urteil binnen einer Stunde. Es war keine Überraschung für uns; der Urteilsspruch war eine vorher abgekartete Sache.
Bei der Bekanntgabe der Urteile wurden die Angeklagten in Gruppen vor die Schranke gerufen. Einer oder zwei der Angeklagten wurden freigesprochen, Meyer Friedkin und Charles Roberts wurden zu je zehn Tagen Haft im Bezirksgefängnis verurteilt. Eine kleine Gruppe zu einem Jahr im Bundeszuchthaus. Eine größere Gruppe zu fünf Jahren Zuchthaus. Eine andere, nicht so große Gruppe zu zehn Jahren. Und aus irgendeinem unbekannten Grunde wurde die vierte Gruppe wieder zu fünf Jahren verurteilt. Die letzte Gruppe wurde zu je achtunddreißig Jahren Zuchthaus verdammt. Als wir uns anschickten, den Gerichtssaal zu verlassen, richtete der Präsident an Vanderveer die Frage, ob die Verteidigung beabsichtige, eine Wiederaufnahme des Prozesses zu beantragen. Vanderveer bejahte dies. Daraufhin rief der Richter alle Angeklagten zurück und belegte jeden mit einer Geldstrafe von zwanzig- bis dreißigtausend Dollar. Pontius Pilatus oder der „Blutige Jeffreys" haben sicherlich niemals einen erhebenderen Augenblick erlebt, als Richter Landis in dieser Minute, da er einer Schar von Arbeitern die grausamsten Strafen auferlegte.
Ben Fletcher trat auf mich zu und meinte: „Der Richter hat aber heute ein schwer verständliches Englisch gesprochen. Mir war das zu hoch - in jeder Beziehung!" Bei einem früheren Anlass während des Prozesses bemerkte Ben in einer humoristischen Anwandlung: „Wenn ich nicht da wäre, wäre dieser Prozess vollkommen farblos." Er war nämlich der einzige Neger unter den Angeklagten.
Die Kautionen aller, die sich zuletzt auf freiem Fuße befunden hatten, wurden für ungültig erklärt. Wir wurden alle von dem Gerichtssaal aus durch einen unterirdischen Gang aus dem Gebäude geführt, in Patrouillewagen gesteckt und in das Bezirksgefängnis von Cook geschafft.
Wir setzten alles in Bewegung, um die Gültigkeit unserer Kautionen für die Zeit bis zur Entscheidung des Landesgerichts über das beantragte Wiederaufnahmeverfahren zu verlängern - ich will gleich hier bemerken, ohne jeden Erfolg. Eines Tages wurde ich in dieser Angelegenheit zum zuständigen Gerichtsbeamten geführt, der sein Büro im oberen Stockwerk des Bundesgerichtsgebäudes hatte. Zu ebener Erde des massiven, granitnen Baus, der einen ganzen Block in dem dichtbebauten Teil des Stadtzentrums einnahm, lag das Postamt.
Die Dinge, die ich dort zu erledigen hatte, nahmen sehr viel Zeit in Anspruch, so dass eine Ruhepause eingelegt wurde, während der mich zwei Gehilfen des Gerichtsbeamten den Aufzug hinunter und über die Straße in eine Imbissstube zu ebener Erde begleiteten. Nach dem Imbiss kehrten wir in das Bundesgebäude zurück. Ich hatte die Erlaubnis bekommen, mit einer Stenotypistin zu arbeiten und hatte eben wieder begonnen, Elizabeth Serviss zu diktieren, als plötzlich eine donnernde Explosion das Gebäude erschütterte. Für einen Moment schienen alle wie erstarrt. Dann hörten wir, wie auf dem Pflaster unten eine Menge Glas klirrte. Erst nach einigen Minuten erfuhren wir, was geschehen war. In der Nähe des Portals, durch das wir eben erst eingetreten waren, war eine Bombe explodiert und hatte eine Frau und zwei Männer getötet und mehrere Personen schwer verletzt. Auch das Gebäude war leicht beschädigt. Die Explosion ereignete sich am frühen Nachmittag; trotzdem wurde ich bis 6 Uhr zurückgehalten. Als wir dann mit dem Fahrstuhl hinunterfuhren, hielt er nicht zu ebener Erde, sondern im Keller, wo die Post verladen wurde. Dort stand eine ganze Reihe von Patrouillewagen, insgesamt sieben, wenn ich mich recht erinnere, alle voll gepackt mit Polizisten. Man befahl mir, in den mittleren Wagen einzusteigen. Unter dieser Eskorte von sieben „grünen Minnas" wurde ich in das Gefängnis zurückgeschafft.
Die Genossen erfuhren bald von meiner Rückkehr und auch, dass ich unverletzt war. Viele hatten geglaubt, dass ich das Opfer eines Verrats geworden sei und dass das Attentat, von dem jeder im Gefängnis schon erfahren hatte, mir persönlich zugedacht war. Die Explosion ereignete sich an einem schönen, sonnigen Tag im September 1918, zu einer Zeit, da viele Leute in dem geschäftigen Hause ein- und ausgingen, in dem Bundesgerichtsbeamte, die Justizbehörden und der Geheimdienst der Vereinigten Staaten untergebracht waren. Trotzdem wurde niemand in Verbindung mit der Explosion verhaftet; die Behörden schwiegen sich über die Ursachen aus. Dieses ungewohnte Verhalten ließ unwillkürlich die Frage auftauchen, ob die Vermutung meiner Genossen im Gefängnis nicht doch richtig war. Die Explosion am Postgebäude von Chicago ist eines der scheußlichen Geheimnisse der verbrecherischsten imperialistischen Regierung der Welt.

 

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