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William Dudley Haywood - Unter Cowboys und Kumpels (1930)
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Dreizehntes Kapitel
Der Prozess in Boise

Der Prozess begann am 9. Mai 1907. Als außerordentlicher Staatsanwalt fungierte William E. Borah, der von der letzten Gesetzgebenden Versammlung zum Senator der USA gewählt worden war - derselbe Borah, der seinerzeit gegen Paul Corcoran amtiert hatte. Gleichfalls als außerordentlicher Staatsanwalt fungierte James Hawley, ein früherer Bergarbeiter und Verteidiger der Gefangenen von Coeur d'Alene, die in demselben Gefängnis gelegen hatten, in dem wir uns jetzt befanden; Hawley, der Mann, der den eingekerkerten Kumpels damals im Gefängnis den Plan von der Bildung einer alle Bergarbeiter des Westens erfassenden Organisation eingab! Als Staatsanwaltsgehilfe fungierte der Staatsanwalt des Bezirks Caldwell. Die Verteidiger saßen an einem Tisch an der rechten Seite des Gerichtssaales; hinter ihnen, an beiden Seiten, die Korrespondenten verschiedener Zeitungen. Den Vorsitz führte Richter Woods, der auf einer erhöhten Tribüne hinter den Geschworenen thronte. Ich saß so nahe neben dem ersten Geschworenen in der vordersten Reihe, dass ich ihn hätte berühren können. Ein Arbeitergeschworenenausschuß aus Sozialisten und Gewerkschaftern wohnte unter der Zuhörerschaft jeder Gerichtssitzung bei und fasste am Ende auch seinen eigenen Urteilsbeschluss. Ein Journalist von „McClures' Magazine" schilderte mich mit folgenden Worten: „Ich erwähne als ersten Haywood: er ist ein mächtiger Mann in der Föderation. Und ein Mann, der zur Herrschaft über eine solche Organisation emporsteigen kann, muss nicht wenige außerordentliche Führerqualitäten besitzen. Haywood ist ein Mann von mächtiger Gestalt, von der physischen Stärke eines Stiers. Er hat einen großen Schädel und ein breites Kinn... Selbst aus der Grube, aus den ,Eingeweiden der Erde', emporgestiegen, wie er es nennt, ist dieser Mann eine Art religiöser Eiferer geworden, und seine Religion ist der Sozialismus. Er gehört zu jenem jetzt in Amerika nicht unbekannten Typ, der, ausgerüstet mit einem guten Verstand, kämpfend und ringend emporgekommen ist, der Schläge zu geben und zu nehmen weiß, der die Leiden seiner Klasse tief erfasst hat und darüber hinaus nichts sieht; dessen Geist, verzweifelt auf der Suche nach Abhilfe,
sich eifrig auf eine Idee wie den Sozialismus stürzt, der so leicht und vollkommen alle Schwierigkeiten löst. Man nehme einen Charakter wie diesen, hart, rau, verschlossen, mit ungeheurer Widerstandskraft, und gebe ihm schließlich noch einen Schuss Idealismus, einen jesuitischen Eifer, der den Mann über sich selbst hinaus trägt, und man hat einen Führer wie Haywood vor sich der seine  Leute seinem eigenen Glauben gefügig macht... Was gilt ein Mann oder ein Staat, wenn nur der Sache gedient wird?"
Meine Angehörigen hatten ebenfalls im Zuhörerraum Platz genommen. Der Gerichtssaal war jeden Tag überfüllt.
Ein jeder interessierte sich für das noch nicht veröffentlichte „Geständnis", das, wie man wusste, Harry Orchard abgelegt hatte. Auch Steve Adams, ein Bergarbeiter von Cripple Creek, der auf der Ranch seines Onkels in Oregon verhaftet worden war, hatte Geständnisse gemacht, später jedoch widerrufen. Die Leute, die in den Gerichtssaal geströmt waren, warteten gespannt auf die Eröffnung der Verhandlungen, die jedoch durch die Auswahl der Geschworenen hinausgezögert wurde. Der Kampf um die Zusammensetzung der Geschworenenbank war ein instruktiver Anschauungsunterricht über Klassenkampf. Auf die Geschworenenliste waren alle Bankiers des Bezirks gesetzt worden. Aber Darrow erledigte sie alle kurzerhand. Er fragte sie zuerst, ob sie mit dem Fall vertraut seien, ob sie die Zeitungen zu lesen pflegten, ob sie sich eine bestimmte Meinung gebildet hätten, ob es der Beweise bedürfe, um diese zu ändern. Im Laufe des Frage-und-Antwort-Spiels bewies er, dass nur ein geringer Unterschied zwischen einem Bankier und einem Einbrecher bestehe; der eine arbeite bei Tage mit Zinsberechnungen und Börsenspekulationen als den Mitteln für seine Räubereien, während der andere in der Nacht mit Werkzeugen und mit Nitroglyzerin arbeite. Er lehne diese Geschworenen wegen ihrer Parteilichkeit ab. Es war, als zertrete er Schlangen. Der Geschworenenkörper bestand nach seiner endgültigen Wahl fast ausschließlich aus Farmern. Die Bankiers und Geschäftsleute waren von der Verteidigung abgelehnt worden; die wenigen Gewerkschafter und Sozialisten, die aufgerufen worden waren, hatte die Staatsanwaltschaft abgelehnt.
Die Ankläger ließen den Prozess mit dem Verhör einiger unwichtiger Zeugen beginnen. Dann erst wurde Harry Orchard als Zeuge aufgerufen. Er erschien sauber gekleidet in einem grauen Anzug des Gefängnisdirektors, sorgfältig rasiert. Das Haar trug er glatt zurückgestrichen über einem Kopf so rund wie eine Billardkugel. Mir fiel seine Ähnlichkeit mit dem Detektiv MacParlan auf. Weit davon entfernt, sich wie ein scheues Wiesel zu gebärden, wie man nach seiner Geschichte annehmen sollte, stand Orchard stramm da, selbstbewusst, und äußerte sich in scheinbar freimütiger Weise. Ich hielt meinen Blick auf den Mann gerichtet, während er seine Aussagen machte, aber er wich ihm ständig aus. Orchard wurde von Borah nicht viel gefragt, sondern aufgefordert, seine Geschichte im Zusammenhang zu erzählen. Er brachte eine bluttriefende Geschichte vor, die mit einer Schilderung seines Lebens in Kanada begann. Frau und Kind hatte er in Ontario verlassen, nachfeiern er dort eine Käsefabrik in Brand gesteckt hatte. Sein richtiger Name sei Albert Horseley. Die nächste Tat, der er sich rühmte, war die Entzündung einer der Lunten, die die Explosion auf der Bunker-Hill-and-Sullivan-Grube in Coeur d'Alene verursachte, durch die diese zerstört wurde. Er behauptete, damals einer der Besitzer der Zechengruppe von Headlight in der Nähe von Burke, Idaho, gewesen zu sein.
Als Spieler und Säufer kam er dann in den Distrikt Cripple Creek. Dort hatte er anscheinend eine Zeitlang an der Gewerkschaftsarbeit aktiv teilgenommen, um das Vertrauen der Bergarbeiter zu erlangen; gleichzeitig aber war er der Verbündete und Angestellte des Bürgerbundes gewesen. Ungefähr zu dieser Zeit war er auch zum ersten Mal im Büro der Föderation erschienen - wie wir später entdeckten, im Auftrage des Detektivs Scott, von dem er bezahlt wurde und dem er seine Berichte zu erstatten hatte. Das nächste Mal besuchte er die Zentrale, als er Moyer nach Ouray begleitete. Seine Mitarbeiter waren Beckman und McKinley, dieselben Burschen, die, wie bereits erwähnt, versucht hatten, einen Zug in Cripple Creek zum Entgleisen zu bringen. Dafür waren sie von Scott und Sterling gedungen worden, die jetzt beide im Gerichtssaal von Boise saßen und sich Orchards Geschichte anhörten. Keiner von beiden trat als Zeuge auf.
Orchard erzählte ferner von seiner Beteiligung an der Explosion in der Vindicator-Grube, der Explosion auf der Station Independence und von vielen Anschlägen auf den Gouverneur Peabody, auf die Richter Gabbert und Goddard, McNeill, Hearn, Bradley und andere. Es war die abstoßende Geschichte eines verhärteten Degenerierten, und niemand wird jemals wissen, wie viel davon stimmte und wie viel nicht. Er schloss mit der Beschreibung seiner Teilnahme an der Ermordung des Exgouverneurs Frank Steunenberg. Von Anfang bis Ende führte Orchard immer wieder Pettibone, Moyer und mich als die Anstifter zu seinen Mordtaten an; er erklärte, dass entweder der eine oder der andere von uns ihn mit der Durchführung seiner Arbeit
beauftragt habe. Beim Kreuzverhör wich er von seinem Bericht nur wenig ab, da er von seinem Mentor James MacParlan, dem Leiter der Pinkerton-Agentur in Denver, gut gedrillt worden war. MacParlan war derselbe Kerl, der seine Karriere vor langer Zeit damit begonnen hatte, dass er mit seinen Meineiden die „Molly Maguires" in Pennsylvanien ums Leben brachte. Nach Orchards Vernehmung legte die Staatsanwaltschaft dem Gericht eine Reihe von alten Nummern des anarchistischen Blattes „Alarm" vor, das 1886 von Albert Parsons herausgegeben worden war. Um die Theorie und Praxis der Bergarbeiterföderation des Westens zu illustrieren, immerhin zwanzig Jahre später, las man viele Artikel aus diesem Blatt vor. Darauf wurden Exemplare des „Miners' Magazine" vorgelegt. O'Neill hatte einmal einen Leitartikel geschrieben, in dem er die Explosion, durch die Steunenberg getötet wurde, beschrieb. Dieser Artikel sollte angeblich die feindlichen Absichten der Föderation beweisen; die Staatsanwaltschaft hatte vielleicht erwartet, dass wir den Tod des Gouverneurs betrauern würden.
Auch die Resolution wurde vorgelegt, die ich im Florida-Tunnel in Kilver City geschrieben hatte und die einen Angriff auf Steunenberg enthielt, weil er Bundestruppen angefordert und in Coeur d'Alene das Standrecht erklärt hatte. Als Belastungszeuge erschien Stewart, seinerzeit Mechanikermeister in der Blaine-Grube und -Hütte. Er bezeugte, ich hätte gesagt: „Steunenberg muss ausgerottet werden." Er erinnere sich an diese Worte, weil er mich immer für einen der besten Bürger der Stadt gehalten habe. Nach dieser Bemerkung wurde entschieden, dass es nicht notwendig sei, ihn einem Kreuzverhör zu unterwerfen.
Man hatte angenommen, dass Gouverneur Peabody ein
interessanter Zeuge sein werde; an einem Vormittag hatte er seine Aussage gemacht und sollte nachmittags einem Kreuzverhör unterzogen werden. Während der Mittagspause wurde nach einer Besprechung zwischen Darrow, Richardson und mir beschlossen, auf Peabody nicht weiter Gewicht zu legen. Als das Gericht wieder zusammentrat, nahm der Gouverneur den Zeugensitz ein und saß dort zehn Minuten lang, richtete seine Krawatte, glättete sein Haar, zog seine Weste herunter, strich die Bügelfalten seiner Hosen zurecht - ein Bild der Nervosität. Vor Aufregung verschluckte er sich, als Richardson schließlich sagte: „Das genügt, Gouverneur." Sobald die Berichte über Orchards Zeugenaussage im Lande bekannt wurden, kamen Telegramme von Personen, die er erwähnt hatte, mit dem Anerbieten, als Zeugen aufzutreten und seine Aussagen zu widerlegen. Bill Davis und andere kamen und zerstörten den sie betreffenden Teil von Orchards Zeugenaussage. Es traten ferner zwei Männer aus Mullan, Idaho, auf und bezeugten, dass Orchard im Hinterraum eines Zigarrenladens in dem Augenblick mit ihnen Poker gespielt hatte, als die Explosion auf der Bunker-Hill-and-Sullivan-Hütte stattfand. Ein Baumeister aus San Francisco bezeugte, dass das Gebäude, von dessen Dach aus Orchard angeblich auf Bradleys Haus gestiegen sein wollte, noch gar nicht erbaut war, als Orchard, nach seinen Behauptungen, in San Francisco gewesen war. Eine Frau aus Cripple Creek sagte aus, dass Orchard oftmals Sterling und Scott auf deren Zimmer in ihrer Pension besucht habe.
Darrow hatte sich, wie bei früheren Prozessen, wieder ein „Opferlamm" unter den Staatsanwälten ausgesucht. Diesmal war es Jim Hawley, auf den sich sein Sarkasmus konzentrierte und dem gegenüber er manchmal so ausfallend wurde, dass Hawleys Sohn drohte, ihn wegen Ehrenbeleidigung zu verklagen. Darrow war nicht immer der lächelnde, liebenswürdige, beredsame Mann, als den man ihn manchmal beschrieben hat. Seine großartigsten Augenblicke waren die, wenn er zum Angriff überging. Einige der Zeugen wurden von ihm arg hergenommen. Die Aussagen des degenerierten Orchard zerpflückte er vollkommen und schloss: „Und einen solchen Erzverbrecher schützt die Staatsanwaltschaft noch!" eine Behauptung, gegen die Senator Borah protestierte und mit erhobener Hand ausrief:  „Möge meine rechte Hand verdorren, wenn dieser Mann nicht verurteilt wird!" Als ich auf den Zeugenstand gerufen wurde, führte Darrow die Verteidigung. Ich berichtete über mein Leben,  mein  Verhältnis  zur  Bergarbeiterföderation, meine Erfahrungen mit Orchard und über alle Ereignisse, mit denen ich bis zu dieser Stunde etwas zu tun gehabt hatte. Borah kam bei dem anschließend von ihm angestellten Kreuzverhör nicht auf seine Rechnung. Er starrte mich aus seinem Bulldoggengesicht mit der tiefen Kerbe im Kinn an und fragte in Bezug auf die Resolution, die ich in Silver City geschrieben hatte: „Waren Sie sehr erbittert gegen Gouverneur Steunenberg?"
„Jawohl", antwortete ich, „ich fühlte ihm gegenüber ziemlich das gleiche wie Ihnen und allen anderen gegen­über, die für das Standrecht und den ,Bullenstall' in Coeur d'Alene verantwortlich waren." „Das war auch mein Eindruck", erwiderte der Senator. Mir war nicht recht klar, was er damit wollte. Während des Kreuzverhörs begann die Sonne zu sinken und schien in das Fenster, dem ich gegenüberstand. Ich wandte mich an den Richter: „Wollen Sie bitte veranlassen, dass die Vorhänge an diesem Fenster zugezogen werden? Die Sonne scheint mir ins Gesicht, und ich kann dem Senator nicht in die Augen sehen." Es war nicht meine Absicht, Borah aus der Fassung zu bringen, aber später erzählte man mir, dass er geäußert habe, er habe niemals von einem Manne gehört, dessen Leben im Prozess auf dem Spiel stand und dem so viel daran gelegen war, dem Staatsanwalt in die Augen zu sehen. „Mir ging förmlich die Luft aus", gestand er. Es kamen fast hundert Zeugen für mich zum Prozess nach Boise; siebenundachtzig davon sagten zu meinen Gunsten aus, einige verweigerten die Zeugenaussage. Diese wurden nicht unter Strafandrohung zur Aussage angehalten, weil die meisten von ihnen Bürger anderer Staaten waren.
Als die Verteidiger mit der Zeugenvernehmung fertig waren, begann Borah mit dem Plädoyer vor den Geschworenen. Er sprach lange und heftig und beschuldigte mich der Ermordung des Gouverneurs Steunenberg, eines Mannes, den ich niemals gesehen hatte und der an einem Ort ermordet wurde, an dem ich niemals gewesen war. Zur Zeit seines Todes war ich über tausend Meilen entfernt. Er war von einem Mann getötet worden, den ich acht Monate oder ein Jahr lang nicht gesehen und von dem ich während dieser Zeit niemals etwas gehört hatte. Mir schien, dass Borah unmöglich einen Schuldspruch erwarten konnte, und in seiner ganzen Rede verlangte er auch nicht einmal, dass ich gehängt werden solle.
Nach ihm sprach Richardson neun Stunden lang. Das Schlusswort für meine Verteidigung hielt Clarence Darrow, nicht nur ein großer Jurist, sondern auch ein scharfer Psychologe.
Darrow erhob sich zu seiner Rede an die Geschworenen, groß, breitschultrig, in einem lose hängenden grauen
Anzug, eine Haarsträhne vor der Stirn, seinen Zwicker am Bügel in der Hand haltend. Er begann mit einer Skizzierung der Geschichte der Bergarbeiterföderation des Westens und schilderte das Gefängnis, in dem wir uns während der letzten achtzehn Monate aufgehalten hatten und das die Geburtsstätte der Bergarbeiterföderation war. Er entwarf ein Bild von den isolierten Gruppen der „Ritter der Arbeit" und den Bemühungen dieser Organisationen, einen menschenwürdigen Lebensstandard durchzusetzen. Der Streik in Coeur d'Alene von 1892 und der von 1899, den man als bewaffneten Aufstand bezeichnet hatte, lebten wieder auf. Darrow erinnerte an die Einberufung der Bundestruppen zur Niederschlagung des Streiks im Gebiet von Coeur d'Alene, an das Standrecht, an die „Bullenställe", an die außerordentlichen Gerichtsverfahren und die Gefängnisstrafen.
Er behandelte ausführlich die vielen Streiks, die von der Bergarbeiterföderation in Colorado geführt wurden, und bewies, dass unsere Verbände nach der Annahme des Achtstundentaggesetzes, für das die Organisation gekämpft hatte, gezwungen waren, für seine praktische Durchsetzung Streiks zu führen. Die Wirkung des Standrechts auf die Bevölkerung eines davon betroffenen Staates oder Gebietes, die Leiden und Entbehrungen, die es für alle mit sich brachte, die unter solchen Bedingungen leben mussten, wurden von Darrow mit Nachdruck geschildert.
Er erörterte weiter die Aussagen der verschiedenen Zeugen der Staatsanwaltschaft und zog dann einen Vergleich zwischen ihnen und den Zeugen, die zu meiner Entlastung aufgetreten waren. Und nochmals kam er auf die ungesetzliche Verhaftung und Verschleppung, den Sonderzug mit der militärischen Bewachung zu sprechen
und bewies, dass die Staatsanwaltschaft vor nichts zurückgeschreckt war, um mich in die Mordaffäre zu verwickeln.
„... Ihr kurzsichtigen Männer von der Staatsanwaltschaft, ihr Männer von der Vereinigung der Grubenherren, ihr Leute, die ihr Hass mit Hass heilen wollt, ihr, die ihr glaubt, ihr könnt die Gefühle, die Hoffnungen und das Streben von Menschen vernichten, indem ihr ihm einen Strick um den Hals knüpft, ihr, die ihr ihn töten wollt, nicht weil er Haywood ist, sondern weil er eine Klasse vertritt: seid nicht so verblendet, seid nicht so töricht zu glauben, dass ihr die Bergarbeiterföderation des Westens abwürgen könnt, wenn ihr ihm einen Strick um den Hals legt. Seid nicht so blind, in eurem Wahnsinn zu glauben, dass ihr die Arbeiterbewegung der Welt töten werdet, wenn ihr drei neue Gräber grabt... Die Gesetzgebende Versammlung wurde 1902 aufgefordert, das Gesetz anzunehmen, das die Verfassung ihr anzunehmen vorschreibt, und was tat sie? Mr. Guggenheim und Mr. Moffatt und die Vereinigung der Grubenherren und alle die guten Leute in Colorado, die vom Schweiß und Blut ihrer Mitmenschen lebten - sie alle drangen in die Kammer und in den Senat ein und sagten: ,Nein, ihr dürft kein Achtstundentaggesetz annehmen; es ist wahr, die Verfassung verlangt es; aber hier ist unser Gold, das stärker ist als die Verfassung.' Die Gesetzgebende Versammlung trat zusammen und diskutierte die Angelegenheit. Haywood war dabei; die Arbeiterorganisationen waren dort und traten für die Armen, die Schwachen, die Unterdrückten ein, wie sie immer für sie eingetreten sind...
Wozu anders ist die Verfassung da, als um es dem Reichen möglich zu machen, den Armen auszurauben?" fragte Darrow, und dann beschrieb er den Richter
Goddard vom Obersten Gerichtshof als den schmutzigsten politischen Schieber in Colorado. „Wenn Sie Haywood töten, werden Sie mit Ihrer Tat bei vielen Beifall ernten; wenn Sie seinen Tod beschlie­ßen, werden die Herren in den Büros der großen Eisenbahngesellschaften unserer Großstädte Ihnen ihr Lob singen. Wenn Sie seinen Tod beschließen, werden bei den Spinnen und Geiern in der Wallstreet Lobeshymnen für diese zwölf guten und treuen Männer ertönen, die Haywood töteten...
Von fast allen Ufern der Welt, wo man Agitatoren und Störenfriede loswerden will, wo man jeden ins Gefängnis wirft, der für die Armen und gegen das verfluchte System kämpft, durch das die Drohnen leben und von dem sie fett werden, werden Sie Segens- und Lobsprüche dafür erhalten, dass Sie Haywood getötet haben. Sprechen Sie ihn aber frei, so bleiben noch immer all jene, die ehrfürchtig ihr Haupt beugen und diesen zwölf Männern für den Charakter, den sie sich bewahrt haben, danken werden. Auf unseren weiten Prärien, wo Männer mit ihren Händen arbeiten, draußen auf dem weiten Ozean, wo Männer die Schiffe lenken, in unseren Werken und Fabriken, tief unter der Erde, überall lenken Tausende von Männern, Frauen und Kindern - Männer, die arbeiten, Männer, die leiden, Frauen und Kinder, die von Mühe und Arbeit erschöpft sind - ihre Gedanken zu diesem Gerichtshof. Diese Männer, diese Frauen und diese kleinen Kinder, die Armen, die Schwachen, die Leidenden der Welt, strecken Ihnen die Hände entgegen und beschwören Sie, Haywoods Leben zu retten... " Elf Stunden währte die Rede. Einmal sprach Darrow leidenschaftlich, mit dröhnender Stimme, die linke Hand tief in der Rocktasche vergraben, den rechten Arm hoch erhoben. Dann wieder nahm er eine beschwörende Haltung ein, seine Stimme wurde sanft und sehr ruhig. Manchmal näherte er sich den Geschworenen fast auf den Zehenspitzen. Diese Rede war, glaube ich, eine der großartigsten, die Clarence Darrow je gehalten hat. Richter Woods erteilte den Geschworenen die übliche Anleitung, die zum Teil von John Murphy, der krank im Spital lag, geschrieben worden war. Am Abend des 27. Juni kam der Fall zur Entscheidung vor die Geschworenen.
An diesem Abend ging ich ungefähr zur gewöhnlichen Zeit zu Bett und schlief friedlich, bis sie mich am Morgen mit der Nachricht weckten, dass der Urteilsspruch gefällt worden sei. Kein Zeichen verriet, wie er ausgefallen war. Der Gerichtshof war überfüllt, als ich eintrat. Die Geschworenen wurden aufgerufen, und der Richter fragte sie, ob sie zu einem Urteil gelangt seien. Der Geschworenenälteste bejahte die Frage und fügte kurz hinzu: „Nicht schuldig." In dem losbrechenden Aufruhr wollten die Geschworenen bereits ihre Plätze verlassen, als sie zurückgerufen wurden, um auf Forderung von Richardson hin jeder einzeln sein „Nicht schuldig" abzugeben. Einer von ihnen zog eine kleine amerikanische Flagge aus der Tasche und sagte: „Haywood, bitte setzen Sie Ihren Namen auf diese Flagge." Ich lachte und erinnerte ihn an die Unannehmlichkeiten, die ich mir in Denver zugezogen hatte, weil ich etwas auf die Flagge geschrieben hatte. Aber ich tat ihm den Gefallen, und er erhielt so sein Andenken.
Der Urteilsspruch „Nicht schuldig" der Arbeitergeschworenen war ebenfalls bereits verkündet worden. Die vielen im Gerichtssaal anwesenden Freunde und meine Anwälte gratulierten mir. Ich schüttelte den Geschworenen die Hand und wurde von ihrem Ältesten eingeladen, ihn vor meiner Abreise noch zu besuchen.
Wim Gefängnis hatte der Vorsteher schon auf mich gewartet. Der Aufseher sperrte die Zelle auf, in der Moyer und Pettibone die gute Nachricht schon erfahren hatten. Pettibone schüttelte mir die Hand, aber Moyer rührte sich nicht von seinem Platz, obwohl mein Freispruch auch den seinigen wahrscheinlich machte. Er erklärte nur lakonisch: „Das ist gut."
Eine Reihe von Mitgliedern der Föderation erwartete mich am hinteren Tor des Gefängnisses, unter ihnen Bill Davis und John Harper, der frühere Leiter unseres Genossenschaftsladens in Victor. Sie beglückwünschten mich warm und herzlich. Einige begleiteten mich in die Wohnung meiner Frau, zu der sie und die Mädchen sofort nach der Verkündung des Urteils zurückgekehrt waren. Ich war von einer fröhlichen Menge umringt. Dann besuchte ich meine Mutter, die im Krankenhaus auf mich wartete, und von dort eilte ich sofort in ein anderes Hospital, wo John Murphy mich in seine Arme schloss und sagte:
„Bill, in dieser Stunde des großen Triumphes bleibe bescheiden!"
Am Nachmittag suchte ich auch den Geschworenenältesten in seiner Wohnung auf. Er erzählte mir, wie der Urteilsspruch zustande gekommen war. Man hatte mehrere Male abgestimmt. Die ersten Abstimmungen hatten zehn Stimmen für den Freispruch, eine für den Schuldspruch und einen weißen Zettel ergeben. Er fügte hinzu, dass er selbst den weißen Zettel abgegeben hatte. „Ich wollte herausfinden, wer für den Schuldspruch stimmte, sagte er. „Bei der Diskussion, die nun folgte, erfuhr ich, dass es Gilbert gewesen war. Die neue Abstimmung ergab nunmehr elf Stimmen für den Freisprach und eine für ,Schuldig'. Gilbert dachte offenbar, dass ich für das Urteil der anderen gewonnen worden sei, und bald kamen wir zu einem endgültigen Urteilsspruch." Dieser Gilbert war mir bei seinem Eintritt in den Gerichtssaal wegen seines grauen, fahlen Gesichts aufgefallen, und ich fragte mich, ob er nicht vielleicht der Staatsanwaltschaft irgendein Versprechen gegeben hatte, das er dann infolge des Druckes der anderen Geschworenen nicht halten konnte. Der Geschworenenälteste hatte in der Tat eine geschickte Methode angewandt. Ich dankte ihm so herzlich wie ich nur konnte und verabschiedete mich von ihm.
Zu Hause fand ich ganze Stöße von Telegrammen vor. Meine Kameraden mussten sie öffnen und vorlesen. Es waren annähernd tausend Gratulationen von verschiedenen Organisationen, Mitgliedern der Bergarbeiterföderation und anderen Personen aus dem ganzen Lande. Wir beschlossen, am folgenden Abend nach Denver zurückzufahren. Am Morgen vor der Reise machte ich mit Darrow einen Spaziergang. Dieser versuchte, mich davon abzubringen, mit meiner Frau und den Kindern nach Denver zurückzukehren. Er riet mir, mich für eine Zeitlang irgendwo aufs Land zurückzuziehen; anscheinend hielt er es für besser, wenn ich mich für einige Zeit der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit entzöge. Aber seine Argumente verschlugen nichts bei mir. Darrow war als Anwalt angestellt worden und nicht als Ratgeber. Ich sagte ihm, dass ich wahrscheinlich beauftragt werden würde, Geld für Moyers und Pettibones Verteidigung zu sammeln.
Nachdem ich meine Mutter heimgeholt hatte, ging ich in das andere Krankenhaus, um zu sehen, ob es möglich wäre, auch Murphy mit uns nach Denver zurückzunehmen. John befand sich in den letzten Stadien der Schwindsucht, und wir wussten, dass er nicht mehr lange leben würde. Er war mit allem einverstanden.
Unterwegs begegnete ich Robertson, dem an Jahren ältesten unter den Geschworenen. „Nun, mein Sohn, wie geht es dir?" begrüßte er mich. „Danke, ausgezeichnet", antwortete ich. „William, eher hätten sie meine alten Knochen bleichen können, bevor ich dich hätte verurteilen lassen. Nun halte dich eine Weile ruhig." Dann wünschte er mir eine glückliche Heimfahrt.
An diesem Nachmittag wurde Moyer gegen eine Kaution von fünfundzwanzigtausend Dollar, die der Bergarbeiterverband von Butte zur Verfügung gestellt hatte, freigelassen. Ich ging noch einmal ins Gefängnis, um mich von Pettibone zu verabschieden. Der Termin für seinen Prozess war noch nicht festgesetzt. Einige der Zeugen wollten bis zu seinem Prozess oder wenigstens bis zur Festsetzung des Termins verweilen. Zusammen mit meinen Angehörigen und John Murphy, den ich mit Unterstützung Moyers aus dem Krankenhaus abgeholt hatte, trat ich die Reise nach Denver an. Die erste größere Stadt, durch die wir kamen, war Pocatello. Eine gewaltige Menge hatte sich auf dem Bahnhof eingefunden. Auf Verlangen eines Komitees richtete ich von einem Lastwagen aus einige Worte an sie. Das Wetter war schwül und meine Kranken abgespannt und müde, als wir in Salt Lake City ankamen. Wir blieben dort zwei Tage; Murphy fuhr jedoch ohne Aufenthalt mit einem Freund weiter nach Denver. In Salt Lake City wurde ich mit Gratulationen von Mitgliedern der Arbeiterorganisationen bestürmt. In Leadville erwartete mich trotz der frühen Stunde schon eine Delegation auf dem Bahnhof, die mir, da ich noch im Bett lag, von der Plattform aus eine Flasche Whisky zur feierlichen Begrüßung in den Wagen reichte.
Der Zug machte eine Rekordfahrt und traf pünktlich auf
die Minute in Denver ein. Eine ungeheure Menge erwartete seine Ankunft. Am Bahnhof begrüßte für gewöhnlich eine aus elektrischen Birnen gebildete Aufschrift „Willkommen" in der Stadt ankommende Reisende. Bei meiner Ankunft brannten die Birnen nicht; man erzählte mir, dass die Behörden auf Wunsch des Bürgerbundes die Beleuchtung abgeschaltet hatten. Mir bedeutete das wenig; sah ich doch das „Willkommen" in den Augen von Tausenden von Arbeitern leuchten! Ich trug meine Frau in den Krankenstuhl, rollte sie zu dem bereitstehenden Wagen und fuhr mitten durch die Hurra rufende Menge zum Albany-Hotel. Dort sprach ich zur Menge, die sich auf der Straße angesammelt hatte, dankte allen für das, was sie für mich getan hatten, und forderte sie auf, ihre Unterstützung fortzusetzen, bis auch Moyer und Pettibone als freie Männer neben mir stünden. Am Hoteleingang erwartete mich eine große Schar von Freunden, die mir die Hände schüttelten, unter ihnen auch Emma Langdon, die die Geschichte des Streiks von Cripple Creek geschrieben hatte und auf dem Gründungskongress der IWW als stellvertretende Sekretärin amtierte. Sie drückte einen Kuss auf meine Lippen, ein Anlass zu großer Aufregung unter den Reportern, die wissen wollten, wer sie sei.
Meine Arbeit begann sofort mit der Beantwortung der zahllosen Gratulationstelegramme und -briefe. Von dem Internationalen Sozialistenkongress in Stuttgart traf folgendes Schreiben ein:
„Der Internationale Kongress sendet an William Haywood die Glückwünsche der sozialistischen Bewegung der Welt zu dem großartigen Kampf, den er im Interesse der organisierten Arbeiterschaft der Vereinigten Staaten ausgefochten hat. Er brandmarkt nachdrücklichst den Versuch der Grubenbesitzer, einen Unschuldigen nur wegen seiner Verdienste um die Sache der organisierten Arbeiterschaft gerichtlich verurteilen zu lassen. In dem Prozess und in dem systematischen Verleumdungsfeldzug, der gegen Haywood von der gesamten kapitalistischen Presse geführt wurde, erblickt der Kongress den Ausdruck der immer schärfer hervortretenden Klassenpolitik der Bourgeoisie Amerikas und ihres vollständigen Mangels an Toleranz und Ehrgefühl in allen Angelegenheiten, die ihren Profit und ihre Macht bedrohen. Gleichzeitig beglückwünscht der Kongress die Sozialisten der Vereinigten Staaten zu der Geschlossenheit und dem Enthusiasmus, mit dem sie diesen Angriff abgewehrt haben. Das klassenbewusste Proletariat Europas sieht in der großen Macht, die dieser solidarische Akt gezeigt hat, das Band und die Gewähr für die Zukunft und hofft, dass dieselbe Geschlossenheit und Solidarität des amerikanischen Proletariats für seine volle Emanzipation eingesetzt wird."
Mein Prozess gehörte nun schon der Vergangenheit an. Obwohl Orchard bezeugt hatte, dass ich an der Explosion auf der Station Independence sowie an der Explosion in der Vindicator-Grube und an allen anderen teuflischen Taten in Colorado, zu denen er sich bekannt hatte, beteiligt gewesen sei, und obwohl mich die Gerichte des Bezirks Cripple Creek einiger dieser Verbrechen beschuldigt hatten, wurde nach meiner Rückkehr aus Boise niemals wieder ein Wort gegen mich laut, und kein Versuch wurde jemals unternommen, die Anklage zu erneuern. Die Grubenbesitzer waren mit der Organisierung des Eisenbahnattentats gescheitert, sie waren im Prozess von Boise geschlagen worden, und sie wussten, dass sie nochmals geschlagen würden, falls sie jemals versuchen sollten, einen von uns für die Verbrechen vor Gericht zu bringen, an denen sie die Schuld trugen.

 

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