Haywoods letzte Jahre in der Sowjetunion
Die Leser der Aufzeichnungen „Big Bills" wissen aus seiner eigenen Feder, dass er beim Verlassen der Vereinigten Staaten von Amerika ein schwerkranker Mann war. Dass seine Krankheit eine Folge des unerhört harten Lehens im Zuchthaus war, oder doch zum mindesten stark durch die Haft verschlimmert wurde, unterliegt keinem Zweifel. Alle, die ihn nach der Entlassung aus dem Zuchthaus sahen, mussten die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes feststellen. Die Zeit vor der Abreise aus New York verbrachte er im Hause eines befreundeten Arztes, der die Sorge für den Schwerkranken übernahm.
Kurz nach der Ankunft Haywoods in Moskau besserte sich das Allgemeinbefinden ein wenig. Doch nicht für allzu lange Zeit. In wenigen Jahren zerrüttete die Krankheit seine Lebenskräfte. Das fortschreitende Leiden war auch nicht ohne Einfluss auf die Entstehung des vorliegenden Werkes. Es ist in manchen Teilen skizzenhaft geblieben, andere Teile wieder zeichnen sich durch große Ausführlichkeit aus - je nachdem, wie des Kranken Befinden in körperlicher und geistiger Beziehung war. Leider hat Haywood nicht einmal mehr Gelegenheit gehabt, das Manuskript selbst durchzusehen - geschweige denn die von ihm beabsichtigte Niederschrift einiger zusätzlicher Kapitel über sein Leben und seine Arbeit in der Sowjetunion zu beginnen. Darum soll einem Freunde und Mitarbeiter des verstorbenen Kameraden und Genossen das Wort gegeben werden, um in wenigen Zeilen die letzten Lebensjahre William D. Haywoods, des „Großen Bill", in der Sowjetunion zu schildern.
Haywood wurde von den russischen Massen und von den Führern der Kommunistischen Partei als ein alter bewährter Kämpfer für die Befreiung der Arbeiterklasse willkommen geheißen. Wo immer er erschien, wurde er mit begeistertem Beifall empfangen. Mit Stolz trug er eine Medaille, die ihm als einem revolutionären Helden überreicht worden war und die auch auf seiner Brust lag, als er entschlafen war und im Sarge ruhte. Haywood betrachtete sich selbst als einen politischen Emigranten, „bis zur Revolution in Amerika". Sorgfältig und mit großem Interesse verfolgte er bis an sein Lebensende alle Einzelheiten der Entwicklung der amerikanischen Arbeiterbewegung. Er schrieb zahlreiche Artikel für die Presse; besonders die Moskauer Zeitungen waren ständig hinter ihm her, um seine Meinung über Ereignisse in Amerika zu erfahren. Seine Wohnung im Hotel Lux war ein Anziehungspunkt für alle amerikanischen Arbeiter, die Moskau besuchten. Mit ihnen diskutierte Haywood über alle sie und ihn selbst bewegenden Probleme. Viele Stunden kameradschaftlicher Geselligkeit verflogen im Nu. Es kam nicht selten vor, dass das Morgenrot bereits über den Türmen der alten Stadt leuchtete, wenn die Besucher ihn verließen. Seine Räumlichkeiten wurden aber auch von anderen mit Vorliebe aufgesucht: von den Kindern, die in den Gängen des Hotels umhertollten. Ganze Nachmittage konnten sie in Gesellschaft „Bolschoi Bills" verbringen, der sie mit Süßigkeiten bewirtete und sie mit kleinen Geschichten ergötzte. Er erzählte sie ihnen auf russisch, obwohl er die Sprache nie ganz meisterte. Er heiratete eine sowjetische Genossin und lebte friedlich in Moskau. Viel Vergnügen bereitete ihm immer wieder die Lektüre der amerikanischen kapitalistischen Presse, die in ihren Spalten sehr oft Berichte über angebliche „Verfolgungen Haywoods durch die Roten" und über seine „Flucht durch die Schneesteppen nach der Türkei" brachte. Immer ein Mann der Tat, wünschte er mit Hand anzulegen beim Wiederaufbau der durch Krieg und Konterrevolution zerstörten Wirtschaft. Kurz nach seiner Ankunft in der Sowjetunion, im Jahre 1921, nahm er an den Arbeiten des Organisationskomitees der Kusnezker Kolonie teil. Das Projekt betraf die Wiedereröffnung und Inganghaltung der Industriebetriebe im Kusnezker Becken, etwa tausend Meilen östlich des Urals in der Nähe der Stadt Tomsk.
Niemals vergaß der alte Kämpfer seine von der Klassenjustiz in den Vereinigten Staaten verfolgten und gemarterten Kameraden und Genossen. Sofort nachdem er die Arbeit für das Kusbass aufgegeben hatte, begann er aufs rührigste in der „Mopr", der russischen Sektion der Internationalen Roten Hilfe, zu wirken. Im Auftrage der „Mopr" reiste Haywood im ganzen Lande umher und verbreitete die Kenntnis über das Schicksal Mooneys und Billings', der Opfer der Centralia-Tragödie, der vielen anderen IWW-Gefangenen wie auch aller übrigen Opfer der „Gesetze gegen verbrecherischen Syndikalismus". Auch als politischer Emigrant hielt er seine Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei der USA aufrecht, und sein Interesse an den Vorgängen in den Vereinigten Staaten erlahmte nie. Andererseits konnte er nie genug die Fortschritte der Sowjetwirtschaft rühmen. Mit welchem Eifer konnte er seinen Besuchern den ungeheuren
Kontrast zwischen dem von Hungersnot und Ruin bedrohten Land, das er bei seiner Ankunft antraf, und dem nunmehr überall geschäftigen Leben in den Läden und Betrieben des Staates und der Genossenschaften schildern! Er konnte seiner Genugtuung über den Maschinenlärm der Fabriken und über die starke Bautätigkeit gar nicht deutlich genug Ausdruck geben. Mit großer Aufmerksamkeit hörte er allen zu, die zu ihm mit Klagen und mit Bedenken über die Entwicklung in der Sowjetunion kamen. Haywood erinnerte sie an das unverkennbare Wachstum des sozialistischen Sektors der Sowjetwirtschaft und verwies auf die Bedeutung, die dieser Tatsache im Kampf gegen den Weltimperialismus zukomme. Unbelehrbaren aber pflegte er zum Schluss ärgerlich zu sagen, dass sie wahrscheinlich zu lange in der Sowjetunion gelebt hätten und lieber dahin zurückkehren sollten, woher sie gekommen seien, „um eine frische Probe des Kapitalismus am eigenen Leibe zu spüren". Im März 1928 bereitete sich Haywood zur Teilnahme an dem Kongress der Roten Gewerkschaftsinternationale vor, dem er auch in früheren Jahren beigewohnt hatte. Er bedauerte, dass er der Eröffnungssitzung, die für den 17. März anberaumt war, nicht beiwohnen könne, da er am gleichen Abend im Auftrage der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, deren Mitglied er eben geworden war, auf einer Gedenkfeier zu Ehren der Pariser Kommune sprechen sollte. Er konnte an keiner der beiden Veranstaltungen teilnehmen. In der Nacht zum 16. März erlitt er einen Schlaganfall, von dem er sich erst nach dreiwöchiger Behandlung durch die hervorragenden Ärzte des Kreml-Krankenhauses erholte. Die gute Pflege und sein erstaunlicher Lebenswille trugen dazu bei, dass er noch einmal in seine Wohnung zurückkehren konnte. Seine Gedanken beschäftigten sich sofort wieder mit der Arbeiterbewegung. Er empfing viele der immer noch in Moskau weilenden Delegierten zum Kongress der Roten Gewerkschaftsinternationale, mit denen er eingehend die auf dem Kongress diskutierten Probleme und die dort gefassten Beschlüsse besprach. Doch ganz plötzlich traf ihn ein neuer Schlag, von dem er sich nicht wieder erholen sollte, obwohl er sofort ins Krankenhaus übergeführt wurde. Am 18. Mai 1928 schloss „Big Bill" seine Augen. An den Bestattungsfeierlichkeiten nahmen außer der ganzen Kolonie der amerikanischen Arbeiter viele Delegationen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und zahllose Abordnungen von Organisationen der internationalen Verbände, der Kommunistischen Internationale, der Roten Gewerkschaftsinternationale und der Internationalen Roten Hilfe teil. Sein Körper wurde den Flammen übergeben und ein Teil seiner Asche an der Kremlmauer auf dem Roten Platz beigesetzt. Die andere Hälfte der Asche William D. Haywoods hegt, so wie er es gewünscht hatte, auf dem Waldheim-Friedhof in Chicago, nahe bei den Gräbern der Haymarket-Märtyrer, deren Geschichte so gewaltig sein ganzes Leben und seine ganze Arbeit im Dienste des Kampfes für die Befreiung der Arbeiterklasse beeinflusste. |
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