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Alexandr A. Bogdanow - Der rote Planet (1908)
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7. Die Menschen

Der Gewichtsverlust wurde immer spürbarer. Das Gefühl der Leichtigkeit war nicht mehr angenehm. Dazu kamen Unsicherheit und eine vage Unruhe. Ich ging in meine Kajüte und legte mich ins Bett.
Zwei Stunden in entspannter Lage bei angestrengtem Nachdenken ließen mich einschlafen. Als ich erwachte, saß Netti an meinem Tisch. Mit einer recht heftigen Bewegung erhob ich mich und schlug, wie von einer unsichtbaren Kraft emporgeschleudert, mit dem Kopf an die Decke.
»Wer weniger als zwanzig Pfund wiegt, sollte vorsichtiger sein«, bemerkte Netti in gutmütig-philosophischem Ton.
Er war gekommen, um mir alle notwendigen Hinweise über die »Seekrankheit« zu geben, die bei mir wegen der Schwerelosigkeit begann. In der Kajüte war eine Klingel zu seinem Zimmer, mit der ich ihn rufen konnte, falls ich seiner Hilfe bedurfte.
Ich nutzte die Gelegenheit, um mich mit dem jungen Arzt zu unterhalten. Mich zog es unwillkürlich zu diesem sympathischen, hochgebildeten, aber auch sehr fröhlichen Burschen. Ich fragte ihn, warum von allen Besatzungsmitgliedern außer Menni allein er meine Muttersprache beherrsche.
»Das ist sehr einfach«, erklärte er. »Als wir einen Menschen suchten, nahm mich Menni mit in Ihr Land, und wir verbrachten dort über ein Jahr, bis wir Sie gefunden hatten.«
»Das heißt, andere >suchten< in anderen Ländern?«
»Natürlich, bei allen wichtigen Völkern der Erde. Aber wie Menni vorausgesehen hatte, konnten wir am ehesten in Ihrem Land erfolgreich sein, weil dort das Leben am kraftvollsten und deutlichsten voranschreitet und die Menschen am weitesten vorausblicken. Als wir unseren Menschen gefunden hatten, benachrichtigten wir unsere Kameraden, sie kamen aus allen Ländern zurück, und nun fliegen wir heim.«
»Was meinen Sie eigentlich damit, wenn Sie sagen, dass Sie >einen Menschen gesucht, einen Menschen gefunden< hätten? Es ging doch um eine Person, die sich für eine bestimmte Rolle eignen würde, wie mir Menni erklärt hat. Für mich ist es sehr schmeichelhaft, dass Sie mich ausgewählt haben, doch ich möchte gern wissen, wie ich zu dieser Ehre komme.«
»Das kann ich Ihnen sagen. Wir brauchten einen Menschen, der gesund, intelligent, aufgeschlossen und arbeitsam ist. Es durfte kein Individualist sein, und ihn sollte möglichst wenig Privates an die Erde binden. Unsere Physiologen und Psychologen meinen, der übergang von den Lebensbedingungen Ihrer Gesellschaft, die durch ewigen Kampf zerrissen ist, zu den Bedingungen unserer organisierten — oder, wie Sie sagen, — sozialistischen — Ordnung sei für einen einzelnen Menschen sehr schwierig und erfordere besonders günstige Anlagen. Menni fand Sie von allen am besten geeignet.«
»Und Mennis Meinung genügte Ihnen allen?«
»Ja, wir vertrauen seiner Urteilskraft. Er ist ein Mann von überdurchschnittlichen Geistesgaben, und er irrt sich sehr selten. Zudem besitzt er von uns die meisten Erfahrungen im Umgang mit Erdenmenschen, denn er hat als erster Kontakte aufgenommen.«
»Hat er herausgefunden, wie man zu anderen Planeten fliegen kann?«
»Nein, das ist das Werk vieler, nicht eines einzelnen. Die Minus-Materie ist schon vor mehreren Jahrzehnten hergestellt worden. Aber anfangs waren es nur winzige Mengen, und es bedurfte der Anstrengungen vieler Forscher, um ein Verfahren zur Produktion in großem Maßstab zu finden. Danach mussten die Fördertechnik und die Verfahren zur Spaltung radioaktiver Stoffe vervollkommnet werden, um einen passenden Motor für Sternschiffe zu entwickeln. Das bedurfte ebenfalls großer Anstrengungen. Viele Schwierigkeiten ergaben sich aus den Bedingungen im interplanetaren Raum, wo die schreckliche Kälte und die sengende Sonnenhitze nicht von einer Lufthülle gemildert werden. Die Berechnung der Flugbahn war ebenfalls nicht leicht, dabei traten Fehler auf. Kurz — bei früheren Expeditionen zur Erde sind alle Teilnehmer umgekommen, bis es Menni gelang, den ersten erfolgreichen Flug zu unternehmen. Und nun, wo wir seine Methoden nutzen, sind wir unlängst sogar zur Venus vorgedrungen.«
»Darin ist Menni ein wahrhaft großer Mann«, bemerkte ich.
»Ja, wenn Sie einen Menschen, der viel und gut gearbeitet hat, so bezeichnen wollen.«
»Das meinte ich nicht. Viel und gut arbeiten kann jeder Mensch. Menni ist offensichtlich etwas ganz anderes: Er ist ein Genie, ein schöpferischer Mensch, der Neues schafft und die Menschheit vorwärts bringt.«
»Wir denken anders darüber. Jeder Arbeiter ist ein schöpferischer Mensch, denn in jedem Arbeiter wirken Menschheit und Natur. Steht Menni nicht die gesamte Erfahrung vorangegangener Generationen und zeitgenössischer Forscher zu Gebote, und ist er nicht bei jedem Schritt in seiner Arbeit von dieser Erfahrung ausgegangen? Und stammen nicht seine Ideen von der Natur selbst? Gehen vom Kampf der Menschheit mit der Natur nicht alle Anreize zum Forschen aus? Jeder Mensch ist eine Persönlichkeit, aber sein Werk ist unpersönlich. Früher oder später stirbt er mit seinen Freuden und Leiden — doch sein Werk bleibt im grenzenlos wachsenden Leben. Darin besteht kein Unterschied zwischen den einzelnen Arbeitern, unterschiedlich ist lediglich die Größe dessen, was sie geschaffen haben, und dessen, was im Leben bleibt.«
»Aber der Name eines Mannes wie Menni stirbt nicht mit seinem Körper und bleibt im Gedächtnis der Menschheit bewahrt, während zahllose andere Namen spurlos verschwinden.«
»Der Name jedes Menschen bleibt erhalten, solange diejenigen leben, die ihn geliebt und gekannt haben. Aber die Menschheit braucht kein totes Symbol einer Persönlichkeit, wenn diese nicht mehr da ist. Unsere Wissenschaft und unsere Kunst bewahren ganz unpersönlich, was von allen geschaffen wurde. Namen der Vergangenheit sind für das Gedächtnis der Menschheit nutzloser Ballast.«
»Sie mögen Recht haben, aber unser Gefühl empört sich gegen eine solche Logik. Für uns sind die Namen von Größen des Geistes und der Tat lebendige Symbole, ohne die unsere Wissenschaft, unsere Kunst und unser gesamtes gesellschaftliches Leben nicht auskommen. Im Kampf der Kräfte und Ideen sagt ein Name oft mehr als eine abstrakte Losung. Und die Namen von Genies sind kein nutzloser Ballast für unser Gedächtnis.«
»Bei Ihnen ist eben das Werk der Menschheit noch kein einheitliches, gemeinsames Werk. In Illusionen zersplittert, die im Kampf zwischen einzelnen Menschen entstehen, erscheint es als Werk von Menschen und nicht als Werk der Menschheit. Mir ist es auch schwer gefallen, Ihren Standpunkt zu begreifen.«
»So oder so, Unsterbliche gibt es nicht auf unserem Sternschiff. Doch die Sterblichen sind wahrscheinlich die Exzellentesten, nicht wahr? Sie gehören sicher zu denen, die >viel und gut gearbeitet haben<, wie Sie sich ausdrücken?«
»Das mag sein. Menni hat die Mannschaft unter vielen Tausenden ausgewählt, die mitfliegen wollten.«
»Und der Größte nach ihm ist wohl Sterni?«
»Ja, wenn Sie unbedingt die Menschen messen und miteinander vergleichen wollen. Sterni ist ein bedeutender Gelehrter, allerdings auf einem ganz anderen Gebiet als Menni. Er ist ein Mathematiker, wie es wenige gibt. Eine ganze Reihe von Fehlern in den Berechnungen, nach denen alle vorigen Expeditionen zur Erde geflogen sind, ist von Sterni entdeckt worden, und er hat bewiesen, dass jeder einzelne Fehler genügte, um das Unternehmen scheitern zu lassen. Er hat neue Methoden für solche Berechnungen gefunden, und bisher haben sich seine Ergebnisse als richtig erwiesen.«
»Sie bestätigen den Eindruck, den ich von Sterni habe. Trotzdem — ich verstehe es selber nicht, warum sein Anblick in mir bange Gefühle weckt, eine unerklärliche Unruhe, eine geradezu grundlose Antipathie. Doktor Netti, wissen Sie eine Erklärung dafür?«
»Sehen Sie, Sterni ist sehr klug, aber ein Mann mit kühlem und vor allem analytischem Verstand. Er zergliedert alles, unerbittlich und konsequent, und seine Schlussfolgerungen sind oft einseitig, manchmal sogar zu streng, weil die Analyse der Teile nicht ein Ganzes ergibt, sondern weniger als ein Ganzes. Sie wissen, dass das Ganze stets mehr ist als die Summe seiner Teile; die menschliche Gesellschaft beispielsweise ist mehr als eine Ansammlung von Individuen. Sterni ist also kaum imstande, Stimmungen und Gedanken anderer Menschen zu erfassen. Er wird Ihnen stets gern helfen, wenn Sie sich an ihn wenden, aber er wird nie spüren, ob Sie etwas brauchen. Daran hindert ihn natürlich auch der Umstand, dass er fast immer in seine Arbeit vertieft ist, sein Kopf ist ständig voll von irgendwelchen schwierigen Aufgaben. Menni ist ganz anders, er sieht immer alles, was um ihn herum geschieht, und manchmal weiß er sogar besser als ich, was ich will, was mich beunruhigt, was mein Verstand und mein Gefühl suchen.«
»Dann muss sich Sterni uns Erdenmenschen gegenüber ziemlich feindselig verhalten. Wir sind schließlich voller Widersprüche und Unzulänglichkeiten.«
»Feindselig? Nein, dieses Gefühl ist ihm fremd. Aber er ist wohl skeptischer als notwendig. Sterni hatte erst ein halbes Jahr in Frankreich verbracht, da telegraphierte er Menni: >Hier brauchen wir nicht zu suchen.< Vielleicht hatte er recht, denn auch Letta hat dort keinen geeigneten Menschen gefunden. Aber Sterni beurteilt die bedeutenden Menschen dieses Landes viel rigoroser als Letta, und natürlich sind Sternis Charakteristiken viel einseitiger, obwohl sie nichts direkt Falsches enthalten.«
»Wer ist Letta, den Sie eben erwähnt haben? Ich erinnere mich nicht an ihn.«
»Ein Chemiker, ein Gehilfe Mennis. Er ist der Älteste auf dem Sternschiff. Zu ihm werden Sie leicht Kontakt finden, und das wird Ihnen sehr nützen. Letta hat eine weiche Natur und besitzt viel Verständnis für fremde Seelen, obwohl er kein Psychologe ist wie Menni. Gehen Sie zu ihm ins Labor, er wird sich darüber freuen und Ihnen viel Interessantes zeigen.«
Da fiel mir ein, dass wir uns schon weit von der Erde entfernt hatten. Ich wollte meine Heimat noch einmal sehen. Wir begaben uns in einen Nebenraum mit großen Fenstern.
»Fliegen wir nicht am Mond vorbei?« fragte ich Netti.
»Nein, der Mond liegt weit abseits von unserer Bahn, und das ist schade. Ich hätte den Mond auch gern näher betrachtet. Von der Erde aus kam er mir so merkwürdig vor. Groß, kalt, behäbig, rätselhaft still, ganz und gar nicht wie unsere beiden kleinen Monde, die am Himmel dahineilen und rasch ihr Antlitz verändern wie lebhafte, launische Kinder. Allerdings ist Ihr Mond viel heller und sein Licht recht angenehm. Heller ist bei Ihnen auch die Sonne, hier sind Sie von der Natur bevorzugt. Ihre Welt ist doppelt so hell wie unsere, deshalb brauchen Sie auch nicht solche riesigen Augen, um die schwachen Strahlen einzufangen.«
Wir saßen am Fenster. Die Erde erschien in der Ferne als gigantische Sichel. Zu erkennen waren der Westen Amerikas, der Nordosten Asiens und ein Teil des Stillen Ozeans als trüber Fleck und des Nördlichen Eismeers als heller Fleck. Der gesamte Atlantische Ozean und die Alte Welt lagen im Dunkeln und waren nur hinter dem verschwommenen Sichelrand zu erraten, weil der unsichtbare Teil der Erde die Sterne als ein Stück schwarzer Himmel verdeckte. Unsere Flugbahn und die Erdumdrehung hatten diesen Bildwechsel bewirkt.
Ich schaute hinüber, und mir wurde traurig zumute, weil ich nicht mein Heimatland sah, wo es so viel Kampf und Leiden gab, wo ich noch tags zuvor in den Reihen der Genossen gestanden hatte und wo jetzt auf meinem Platz ein anderer stehen musste. In meiner Seele regten sich Zweifel.
»Dort unten wird Blut vergossen«, sagte ich, »und hier befindet sich ein Revolutionär in der Rolle eines stillen Beobachters.«
»Das Blut wird um einer besseren Zukunft willen vergossen«, erwiderte Netti, »aber für den Kampf selbst muss man die bessere Zukunft auch kennen. Wegen dieser Aufgabe sind Sie hier.«
In unwillkürlicher Rührung drückte ich Nettis kleine, fast kindliche Hand.

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