2. Wirklichkeit oder Phantasie?
Als ich über alles nachdachte, war ich plötzlich neugierig, ob Werner und die beiden anderen Genossen wussten, wo ich gewesen war und was ich getan hatte. Ich fragte Werner, wer mich zu ihm gebracht hatte. Er antwortete, es wären zwei unbekannte junge Männer gewesen, die ihm jedoch über meine Krankheit nichts mitteilen konnten. Sie hätten mich in der Hauptstadt krank angetroffen, hätten von mir den Namen Doktor Werner gehört und sich deshalb an ihn gewandt. Am gleichen Tage, an dem sie mich gebracht hatten, waren sie wieder fortgefahren. Werner hatte in ihnen zuverlässige Genossen gesehen, denen er nicht zu misstrauen brauchte. Er selbst hatte mich schon vor einigen Jahren aus den Augen verloren und von niemandem etwas über mich erfahren können.
Ich wollte Werner die Geschichte meiner Mordtat erzählen, doch das kam mir sehr schwierig vor, denn die verwickelten Umstände mussten jedem nüchtern denkenden Menschen sehr merkwürdig erscheinen. Als ich Werner meine Verlegenheit erklärte, erhielt ich von ihm den Rat:
»Am besten, Sie erzählen mir vorläufig gar nichts. Das schadet nur Ihrer Genesung. Natürlich werde ich nicht mit Ihnen streiten, aber ich glaube Ihre Geschichte sowieso nicht. Sie leiden an Melancholie, einer Krankheit, bei der sich die Menschen völlig aufrichtig unerhörte Verbrechen zuschreiben, und ihr Hirn, das sich diesen Phantasien anpasst, schafft die falschen Erinnerungen. Aber auch Sie würden mir nicht glauben, bevor Sie nicht genesen sind, und deshalb ist es besser, wenn Sie Ihre Geschichte bis dahin für sich behalten.«
Wenige Monate früher hätte ich .in Werners Worten zweifellos größtes Misstrauen und höchste Verachtung gesehen. Aber nun, wo meine Seele schon Erholung und Ruhe suchte, verhielt ich mich ganz anders. Der Gedanke, dass mein Verbrechen den Genossen unbekannt war und auch von Gesetzes wegen bezweifelt werden konnte, war mir angenehm. Ich dachte seltener daran.
Die Genesung schritt schnell voran, nur hin und wieder kehrte die Beklemmung zurück, doch nie für längere Zeit. Werner war zufrieden mit mir und befreite mich sogar von der medizinischen Aufsicht. Einmal, als ich über meine angeblichen Phantasien nachdachte, bat ich ihn, mir eine typische Krankengeschichte eines Melancholikers zu geben, denn in der Anstalt waren sicher schon mehrere solche Kranke behandelt worden. Werner wählte vor meinen Augen aus einem großen Stapel eine Krankengeschichte aus und reichte sie mir.
Es ging um einen Bauern aus einem entlegenen, gottverlassenen Dorf, den die Not in die Hauptstadt getrieben hatte, wo er in einer großen Fabrik sein Brot verdiente. Das Leben einer Großstadt hatte ihn offensichtlich stark schockiert, und nach den Worten seiner Frau war er lange Zeit »wie nicht ganz bei Sinnen«. Das verging allmählich, und er lebte und arbeitete wie alle anderen. Als in der Fabrik ein Streik ausbrach, hielt er treu zu den Genossen, Der Streik war lang und hartnäckig; der Mann, seine Frau und sein Kind mussten schlimm hungern. Er »wurde plötzlich traurig«, machte sich Vorwürfe, dass er geheiratet und ein Kind gezeugt habe und dass er gar nicht »nach Gottes Willen lebe«.
Danach fing er an zu »spinnen«, man brachte ihn in ein Krankenhaus und von dort in die Anstalt des Gouvernements, aus dem er stammte. Er behauptete, Streikbrecher gewesen zu sein und seine Kameraden verraten zu haben, darunter einen »guten Ingenieur«, der die Streikenden heimlich unterstützt hätte und deshalb von der Regierung gehängt worden wäre. Zufällig kannte ich die Geschichte des Streiks — ich arbeitete damals in der Hauptstadt. In Wirklichkeit hatte es keinen Verrat gegeben, und ein »guter Ingenieur« war nicht eingesperrt, geschweige denn hingerichtet worden. Der kranke Arbeiter ist schließlich genesen.
Die Geschichte weckte in mir Zweifel. Ich wusste nicht mehr, ob ich tatsächlich einen Mord verübt hatte oder ob sich mein Hirn den Phantasien anpasste, wie Werner gesagt hatte. Zu der Zeit waren alle meine Erinnerungen an das Leben unter den Marsmenschen merkwürdig verworren und blass, in vielem sogar bruchstückhaft und unvollständig, und obwohl das Bild des Verbrechens am deutlichsten war, trübte es sich doch unter den einfachen und klaren Eindrücken der Gegenwart. Manchmal schob ich die kleinmütigen, beschwichtigenden Zweifel beiseite und erkannte klar, dass alles Wirklichkeit gewesen war, die ich nicht ableugnen konnte. Aber dann kamen die Zweifel und Sophismen wieder und halfen mir, von der Vergangenheit loszukommen. Der Mensch glaubt sehr gern, was ihm angenehm ist. Und obwohl ich mir tief in meiner Seele bewusst war, dass ich mir etwas vorlog, klammerte ich mich an diese Lüge, wie man sich angenehmen Träumen hingibt.
Ohne diesen Selbstbetrug wäre ich wohl nicht so schnell und so vollständig gesund geworden. |
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