3. Die Kleiderfabrik 
  In den wenigen Monaten gelang es mir mit Nettis Hilfe, mich auf  meine eigentliche Aufgabe vorzubereiten — ein nützliches Mitglied der  Marsgesellschaft zu sein. Ich lehnte bewusst alle Angebote ab, Vorträge  über die Erde und ihre Menschen zu halten. Es wäre unvernünftig  gewesen, meine Zeit damit zu vergeuden, denn die Vergangenheit haftete  mir ohnehin an, während ich die Zukunft erobern musste. Ich beschloss,  in einer Fabrik zu arbeiten, und wählte nach gründlichen Erwägungen  zunächst eine Kleiderfabrik. 
    Natürlich hatte ich mir beinahe das  Leichteste ausgesucht. Aber auch hierfür bedurfte es ernsthafter  Vorbereitungen. Ich musste die wissenschaftlichen Prinzipien der  Arbeitsorganisation studieren, mich speziell mit der Fabrik vertraut  machen, in der ich arbeiten wollte, musste den Arbeitsablauf und in den  Grundzügen auch alle dabei eingesetzten Maschinen kennen und in allen  Einzelheiten natürlich die Maschine, an der ich arbeiten sollte. Dabei  erwies es sich als notwendig, mir Kenntnisse in allgemeiner und  angewandter Mechanik und Technologie und sogar in mathematischer  Analyse anzueignen. Die Hauptschwierigkeiten ergaben sich nicht aus dem  Stoff, sondern aus der Form. Die Lehrbücher und Anleitungen waren nicht  für einen Menschen niederer Kulturstufe gedacht. Ich erinnerte mich,  wie mich als Kind ein französisches Mathematiklehrbuch gequält hatte,  das mir zufällig in die Hände geraten war. Mich zog es zur Mathematik,  und ich besaß offenbar außergewöhnliche Fähigkeiten; die für die  meisten Anfänger schwierigen »Grenzwerte« und »Ableitungen« kamen mir  vor, als wäre ich immer mit ihnen vertraut gewesen. Aber ich besaß  nicht die logische Disziplin und die Praxis wissenschaftlichen Denkens,  das der französische Professor bei seinen Lesern und Schülern  voraussetzte. Sein Lehrbuch war klar und genau bei den Formeln, aber  sehr karg bei den Erklärungen. Ständig fehlten die logischen Brücken,  die einem Menschen von höherer wissenschaftlicher Bildung  selbstverständlich waren, nicht jedoch einem jungen Asiaten.  
    Oft brütete ich stundenlang über irgendwelchen magischen Umwandlungen,  die auf die Worte folgten: »aus diesen Gleichungen wird abgeleitet. ..«  So erging es mir auch jetzt, und zwar in noch stärkerem Maße, als ich  die wissenschaftlichen Bücher studierte. Der Gedanke, dass alles leicht  und verständlich wäre, wie ich zu Beginn der Krankheit gedacht hatte,  erwies sich als Illusion. Aber Nettis geduldige Hilfe begleitete mich  stets und ebnete mir den schwierigen 
    Weg. 
    Bald nach Nettis Abflug begann ich in der Fabrik zu arbeiten. Es war  ein gigantischer Komplex, der unserer Vorstellung von einer  Kleiderfabrik durchaus nicht entsprach. Dort wurde gesponnen, gewebt,  zugeschnitten, gefärbt, und als Material diente nicht Flachs, Baumwolle  oder eine andere Pflanzenfaser, auch keine Wolle und Seide, sondern  etwas völlig anderes. 
    In früheren Zeiten hatten die Marsmenschen auf ähnliche Weise wie auf  der Erde Stoffe hergestellt: Sie kultivierten Faserpflanzen, scherten  Tiere, züchteten besondere Spinnenarten, aus deren Gespinst ein  seidenartiger Stoff gewonnen wurde. Da man jedoch immer mehr Land für  die Getreideproduktion brauchte, mussten Kleider auf andere Weise als  bisher hergestellt werden. Die Faserpflanzen wurden von faserartigen  Mineralien in der Art von Asbest verdrängt. Danach erforschten Chemiker  Spinngewebe, um Stoffe mit analogen Eigenschaften herzustellen. Das  gelang ihnen, und innerhalb kurzer Zeit wurde der gesamte  Industriezweig völlig umgestaltet. Jetzt werden die Gewebe alten Typs  nur in Museen aufbewahrt. 
    Unsere Fabrik ist ein Musterbeispiel für die industrielle Revolution.  Mehrmals im Monat wird aus den nahe gelegenen chemischen Werken in  großen Behältern eine dickflüssige Masse geliefert. Mit Hilfe  besonderer Apparate, die Luftzutritt verhindern, wird die Masse in ein  riesiges, an der Decke hängendes Reservoir umgefüllt, dessen flacher  Boden Hunderttausende mikroskopisch kleiner Öffnungen besitzt. Durch  diese Öffnungen wird die klebrige Flüssigkeit unter großem Druck zu  sehr feinen Strahlen gepresst, die an der Luft sofort trocknen und sich  in feste Spinnfäden verwandeln. Zehntausende mechanische Spindeln  ergreifen die Fasern, drehen sie zu Fäden unterschiedlicher Dicke und  Festigkeit' und übergeben das fertige »Garn« der Weberei. Hier werden  die Fäden auf Webstühlen zu Stoffen verflochten, von zarten Geweben wie  Mull und Batist bis zu festem Material wie Tuch oder filz. Die  Stoffbahnen werden dann in die Zuschneiderei gezogen, wo sie von  Maschinen sorgfältig in viele Lagen gelegt werden. Danach werden  vorgezeichnete und ausgemessene Teile von Anzügen ausgeschnitten. 
    In der Schneiderei werden die Teile zu Kleidern zusammengenäht,  allerdings ohne Nadeln, Fäden und Nähmaschinen. Die Ränder der Teile  werden mit einem chemischen Lösungsmittel aufgeweicht, so dass sie  wieder den früheren halbfesten Zustand annehmen, das Lösungsmittel  verfliegt innerhalb einer Minute, und die Stoffteile sind so fest  verschweißt, wie sie sich nie zusammennähen ließen. Gleichzeitig werden  die Verschlüsse angebracht, so dass fertige Kleidungsstücke entstehen —  mehrere tausend Muster, unterschiedlich in Form und Maß. 
    Für jedes Alter gibt es Hunderte von Mustern, aus denen jeder das  Passende auswählen kann, zumal die Kleidung auf dem Mars sehr zwanglos  ist. Wer wegen seiner Körpermaße nichts Passendes findet, lässt sich  Maß nehmen, und eine Zuschneidemaschine wird eingerichtet. Es wird  speziell für eine bestimmte Person »genäht«, was ungefähr eine Stunde  dauert. 
    Was die Farbe der Kleidung betrifft, so begnügen sich die meisten  Marsmenschen mit den üblichen dunklen oder gedeckten Tönen, in denen  der Stoff hergestellt wird. Wird eine andere Farbe gebraucht, schickt  man das Kleidungsstück in die Färberei, wo es in wenigen Minuten mit  Hilfe elektrochemischer Verfahren die gewünschte Nuance erhält, ideal  gleichmäßig und ideal dauerhaft. 
    Aus ebensolchen, nur festeren und dauerhafteren Geweben und mit  ähnlichen Methoden wird Schuhwerk und warme Winterkleidung hergestellt.  Unsere Fabrik befasst sich nicht damit, aber andere, noch größere Werke  produzieren alles, was nötig ist, um einen Menschen von Kopf bis Fuß  einzukleiden. 
    Ich arbeitete hintereinander in allen Abteilungen und war anfangs von  meiner Tätigkeit sehr begeistert. Besonders interessant war es in der  Zuschneiderei, wo ich neuartige Methoden der mathematischen Analyse  anwenden musste. Die Aufgabe bestand darin, mit geringstem  Materialverlust aus einem Stoffstück alle Teile eines Anzugs  herauszuschneiden. Das war eine prosaische, jedoch sehr ernste Aufgabe,  weil selbst der kleinste Fehler, viele Millionen Male wiederholt, einen  riesigen Verlust bewirkt. Die erfolgreiche Lösung gelang mir »nicht  schlechter« als anderen. 
    »Nicht schlechter« als andere zu arbeiten — danach strebte ich mit  allen Kräften, und das gelang mir auch. Aber ich musste auch einsehen,  dass mich das weit mehr Anstrengung kostete als andere Arbeiter. Nach  den üblichen vier bis sechs Arbeitsstunden (nach irdischer Rechnung)  war ich erschöpft, und ich brauchte Erholung, während sich meine  marsianischen Kollegen in Museen, Bibliotheken, Laboratorien oder in  andere Fabriken begaben. Hier beobachteten sie die Produktion und  arbeiteten manchmal sogar weiter. 
    Ich hoffte, mich an die neue Arbeit zu gewöhnen und mich dann mit allen  Arbeitern messen zu können. Aber das war nicht so. Immer mehr musste  ich einsehen, dass es mir an der Fähigkeit zur Konzentration mangelte.  Körperliche Leistung wurde nur wenig verlangt, an Schnelligkeit und  Gewandtheit stand ich anderen nicht nach, übertraf sogar viele. Aber  ich musste ununterbrochen und konzentriert auf Maschinen und Material  achten, was mir sehr schwer fiel. Offenbar entwickelt sich diese  Fähigkeit erst im Laufe mehrerer Generationen in dem Maße, wie es auf  dem Mars als gewohnt und üblich gilt. 
    Wenn gegen Ende meines Tagewerks die Ermüdung schon spürbar wurde und  die Aufmerksamkeit nachließ, machte ich Fehler und zögerte bei manchen  Handgriffen. Diese Fehler wurden von meinen Nachbarn unverzüglich  korrigiert. 
    Mich verblüffte ihre seltsame Fähigkeit, alles ringsum zu bemerken,  ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. Ihre Umsicht rührte mich weniger,  als dass ich darüber ärgerlich und gereizt wurde. Ich hatte das Gefühl,  alle würden mich ständig beobachten. Das steigerte noch meine  Zerstreutheit und verdarb meine Arbeit. 
    Wenn ich jetzt, nach langer Zeit, leidenschaftslos alle Umstände  bedenke, meine ich, dass ich das nicht richtig wahrgenommen habe. Mit  der gleichen Umsicht und auf völlig gleiche Weise - vielleicht nur  weniger häufig — halfen sich die Fabrikkollegen untereinander. Ich  wurde nicht extra überwacht und kontrolliert, wie ich damals glaubte.  Ich selber - ein Mensch der individualistischen Welt — habe mich  unbewusst von den anderen abgesondert, und ich habe die Güte und die  kameradschaftlichen Dienste, die ich nicht vergelten konnte, wie ich  als Mensch einer Warenwelt dachte, krankhaft unnatürlich aufgefasst.  | 
  
    
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