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Alexandr A. Bogdanow - Der rote Planet (1908)
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3. Die Kleiderfabrik

In den wenigen Monaten gelang es mir mit Nettis Hilfe, mich auf meine eigentliche Aufgabe vorzubereiten — ein nützliches Mitglied der Marsgesellschaft zu sein. Ich lehnte bewusst alle Angebote ab, Vorträge über die Erde und ihre Menschen zu halten. Es wäre unvernünftig gewesen, meine Zeit damit zu vergeuden, denn die Vergangenheit haftete mir ohnehin an, während ich die Zukunft erobern musste. Ich beschloss, in einer Fabrik zu arbeiten, und wählte nach gründlichen Erwägungen zunächst eine Kleiderfabrik.
Natürlich hatte ich mir beinahe das Leichteste ausgesucht. Aber auch hierfür bedurfte es ernsthafter Vorbereitungen. Ich musste die wissenschaftlichen Prinzipien der Arbeitsorganisation studieren, mich speziell mit der Fabrik vertraut machen, in der ich arbeiten wollte, musste den Arbeitsablauf und in den Grundzügen auch alle dabei eingesetzten Maschinen kennen und in allen Einzelheiten natürlich die Maschine, an der ich arbeiten sollte. Dabei erwies es sich als notwendig, mir Kenntnisse in allgemeiner und angewandter Mechanik und Technologie und sogar in mathematischer Analyse anzueignen. Die Hauptschwierigkeiten ergaben sich nicht aus dem Stoff, sondern aus der Form. Die Lehrbücher und Anleitungen waren nicht für einen Menschen niederer Kulturstufe gedacht. Ich erinnerte mich, wie mich als Kind ein französisches Mathematiklehrbuch gequält hatte, das mir zufällig in die Hände geraten war. Mich zog es zur Mathematik, und ich besaß offenbar außergewöhnliche Fähigkeiten; die für die meisten Anfänger schwierigen »Grenzwerte« und »Ableitungen« kamen mir vor, als wäre ich immer mit ihnen vertraut gewesen. Aber ich besaß nicht die logische Disziplin und die Praxis wissenschaftlichen Denkens, das der französische Professor bei seinen Lesern und Schülern voraussetzte. Sein Lehrbuch war klar und genau bei den Formeln, aber sehr karg bei den Erklärungen. Ständig fehlten die logischen Brücken, die einem Menschen von höherer wissenschaftlicher Bildung selbstverständlich waren, nicht jedoch einem jungen Asiaten.
Oft brütete ich stundenlang über irgendwelchen magischen Umwandlungen, die auf die Worte folgten: »aus diesen Gleichungen wird abgeleitet. ..« So erging es mir auch jetzt, und zwar in noch stärkerem Maße, als ich die wissenschaftlichen Bücher studierte. Der Gedanke, dass alles leicht und verständlich wäre, wie ich zu Beginn der Krankheit gedacht hatte, erwies sich als Illusion. Aber Nettis geduldige Hilfe begleitete mich stets und ebnete mir den schwierigen
Weg.
Bald nach Nettis Abflug begann ich in der Fabrik zu arbeiten. Es war ein gigantischer Komplex, der unserer Vorstellung von einer Kleiderfabrik durchaus nicht entsprach. Dort wurde gesponnen, gewebt, zugeschnitten, gefärbt, und als Material diente nicht Flachs, Baumwolle oder eine andere Pflanzenfaser, auch keine Wolle und Seide, sondern etwas völlig anderes.
In früheren Zeiten hatten die Marsmenschen auf ähnliche Weise wie auf der Erde Stoffe hergestellt: Sie kultivierten Faserpflanzen, scherten Tiere, züchteten besondere Spinnenarten, aus deren Gespinst ein seidenartiger Stoff gewonnen wurde. Da man jedoch immer mehr Land für die Getreideproduktion brauchte, mussten Kleider auf andere Weise als bisher hergestellt werden. Die Faserpflanzen wurden von faserartigen Mineralien in der Art von Asbest verdrängt. Danach erforschten Chemiker Spinngewebe, um Stoffe mit analogen Eigenschaften herzustellen. Das gelang ihnen, und innerhalb kurzer Zeit wurde der gesamte Industriezweig völlig umgestaltet. Jetzt werden die Gewebe alten Typs nur in Museen aufbewahrt.
Unsere Fabrik ist ein Musterbeispiel für die industrielle Revolution. Mehrmals im Monat wird aus den nahe gelegenen chemischen Werken in großen Behältern eine dickflüssige Masse geliefert. Mit Hilfe besonderer Apparate, die Luftzutritt verhindern, wird die Masse in ein riesiges, an der Decke hängendes Reservoir umgefüllt, dessen flacher Boden Hunderttausende mikroskopisch kleiner Öffnungen besitzt. Durch diese Öffnungen wird die klebrige Flüssigkeit unter großem Druck zu sehr feinen Strahlen gepresst, die an der Luft sofort trocknen und sich in feste Spinnfäden verwandeln. Zehntausende mechanische Spindeln ergreifen die Fasern, drehen sie zu Fäden unterschiedlicher Dicke und Festigkeit' und übergeben das fertige »Garn« der Weberei. Hier werden die Fäden auf Webstühlen zu Stoffen verflochten, von zarten Geweben wie Mull und Batist bis zu festem Material wie Tuch oder filz. Die Stoffbahnen werden dann in die Zuschneiderei gezogen, wo sie von Maschinen sorgfältig in viele Lagen gelegt werden. Danach werden vorgezeichnete und ausgemessene Teile von Anzügen ausgeschnitten.
In der Schneiderei werden die Teile zu Kleidern zusammengenäht, allerdings ohne Nadeln, Fäden und Nähmaschinen. Die Ränder der Teile werden mit einem chemischen Lösungsmittel aufgeweicht, so dass sie wieder den früheren halbfesten Zustand annehmen, das Lösungsmittel verfliegt innerhalb einer Minute, und die Stoffteile sind so fest verschweißt, wie sie sich nie zusammennähen ließen. Gleichzeitig werden die Verschlüsse angebracht, so dass fertige Kleidungsstücke entstehen — mehrere tausend Muster, unterschiedlich in Form und Maß.
Für jedes Alter gibt es Hunderte von Mustern, aus denen jeder das Passende auswählen kann, zumal die Kleidung auf dem Mars sehr zwanglos ist. Wer wegen seiner Körpermaße nichts Passendes findet, lässt sich Maß nehmen, und eine Zuschneidemaschine wird eingerichtet. Es wird speziell für eine bestimmte Person »genäht«, was ungefähr eine Stunde dauert.
Was die Farbe der Kleidung betrifft, so begnügen sich die meisten Marsmenschen mit den üblichen dunklen oder gedeckten Tönen, in denen der Stoff hergestellt wird. Wird eine andere Farbe gebraucht, schickt man das Kleidungsstück in die Färberei, wo es in wenigen Minuten mit Hilfe elektrochemischer Verfahren die gewünschte Nuance erhält, ideal gleichmäßig und ideal dauerhaft.
Aus ebensolchen, nur festeren und dauerhafteren Geweben und mit ähnlichen Methoden wird Schuhwerk und warme Winterkleidung hergestellt. Unsere Fabrik befasst sich nicht damit, aber andere, noch größere Werke produzieren alles, was nötig ist, um einen Menschen von Kopf bis Fuß einzukleiden.
Ich arbeitete hintereinander in allen Abteilungen und war anfangs von meiner Tätigkeit sehr begeistert. Besonders interessant war es in der Zuschneiderei, wo ich neuartige Methoden der mathematischen Analyse anwenden musste. Die Aufgabe bestand darin, mit geringstem Materialverlust aus einem Stoffstück alle Teile eines Anzugs herauszuschneiden. Das war eine prosaische, jedoch sehr ernste Aufgabe, weil selbst der kleinste Fehler, viele Millionen Male wiederholt, einen riesigen Verlust bewirkt. Die erfolgreiche Lösung gelang mir »nicht schlechter« als anderen.
»Nicht schlechter« als andere zu arbeiten — danach strebte ich mit allen Kräften, und das gelang mir auch. Aber ich musste auch einsehen, dass mich das weit mehr Anstrengung kostete als andere Arbeiter. Nach den üblichen vier bis sechs Arbeitsstunden (nach irdischer Rechnung) war ich erschöpft, und ich brauchte Erholung, während sich meine marsianischen Kollegen in Museen, Bibliotheken, Laboratorien oder in andere Fabriken begaben. Hier beobachteten sie die Produktion und arbeiteten manchmal sogar weiter.
Ich hoffte, mich an die neue Arbeit zu gewöhnen und mich dann mit allen Arbeitern messen zu können. Aber das war nicht so. Immer mehr musste ich einsehen, dass es mir an der Fähigkeit zur Konzentration mangelte. Körperliche Leistung wurde nur wenig verlangt, an Schnelligkeit und Gewandtheit stand ich anderen nicht nach, übertraf sogar viele. Aber ich musste ununterbrochen und konzentriert auf Maschinen und Material achten, was mir sehr schwer fiel. Offenbar entwickelt sich diese Fähigkeit erst im Laufe mehrerer Generationen in dem Maße, wie es auf dem Mars als gewohnt und üblich gilt.
Wenn gegen Ende meines Tagewerks die Ermüdung schon spürbar wurde und die Aufmerksamkeit nachließ, machte ich Fehler und zögerte bei manchen Handgriffen. Diese Fehler wurden von meinen Nachbarn unverzüglich korrigiert.
Mich verblüffte ihre seltsame Fähigkeit, alles ringsum zu bemerken, ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. Ihre Umsicht rührte mich weniger, als dass ich darüber ärgerlich und gereizt wurde. Ich hatte das Gefühl, alle würden mich ständig beobachten. Das steigerte noch meine Zerstreutheit und verdarb meine Arbeit.
Wenn ich jetzt, nach langer Zeit, leidenschaftslos alle Umstände bedenke, meine ich, dass ich das nicht richtig wahrgenommen habe. Mit der gleichen Umsicht und auf völlig gleiche Weise - vielleicht nur weniger häufig — halfen sich die Fabrikkollegen untereinander. Ich wurde nicht extra überwacht und kontrolliert, wie ich damals glaubte. Ich selber - ein Mensch der individualistischen Welt — habe mich unbewusst von den anderen abgesondert, und ich habe die Güte und die kameradschaftlichen Dienste, die ich nicht vergelten konnte, wie ich als Mensch einer Warenwelt dachte, krankhaft unnatürlich aufgefasst.

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