Aus Doktor Werners Brief an den Literaten Mirski
Aus Doktor Werners Brief an den Literaten Mirski
(Offenbar aus Zerstreutheit hat Werner den Brief nicht datiert.)
Die Kanonade war längst verstummt, und immer noch wurden Verwundete gebracht. Die meisten waren keine Milizionäre und Soldaten, sondern friedliche Bürger; viele Frauen, sogar Kinder, vor dem Schrapnell sind alle Bürger gleich. In mein Lazarett, das dem Schlachtfeld am nächsten lag, wurden hauptsächlich Milizionäre und Soldaten eingeliefert. Die vielen Wunden von Schrapnellen und Granatsplittern erschütterten sogar mich, einen alten Arzt, der ich früher mehrere Jahre als Chirurg gearbeitet hatte. Aber all den Schrecken übertönte ein freudiges Gefühl, ein frohes Wort: Sieg!
Es war unser erster Sieg in einer echten großen Schlacht. Aber jedem war klar, dass dieser Sieg die Sache entschieden hatte. Die Waagschale hatte sich auf die andere Seite geneigt. Dass ganze Artillerieregimenter zu uns übergelaufen waren, war ein klares Zeichen. Das Jüngste Gericht hatte begonnen. Das Urteil würde nicht gnädig, aber gerecht sein. Es war längst Zeit für das Ende.
Auf den Straßen Blut und Trümmer. Die Sonne hatte sich vom Rauch der Brände und Kanonaden gerötet. Aber sie erschien unseren Augen nicht unheilvoll, sondern fröhlich-schrecklich. In der Seele erklang ein Kampflied, ein Siegeslied.
Leonid wurde gegen Mittag in mein Lazarett gebracht. Er hatte eine gefährliche Wunde in der Brust
und mehrere leichte Verletzungen, vielmehr Kratzer. Noch mitten in der Nacht hatte er sich mit fünf »Grenadieren« in ein Stadtviertel begeben, das sich in Feindeshand befand; dort sollte er mit einigen verwegenen überfällen Panik hervorrufen und die Truppe demoralisieren. Er hatte diesen Plan vorgeschlagen und sich selbst zur Ausführung gemeldet. Da er in früheren Jahren viel in der Stadt gearbeitet hatte und jeden Winkel kannte, konnte er das tollkühne Unternehmen besser als andere leiten, und der Chef der Miliz stimmte nach längerem Zögern zu. Es gelang Leonid und seinen Männern, mit Granaten bis zu einer feindlichen Batterie vorzudringen und von einem Dach aus einige Munitionskästen zu sprengen. In der Panik, die von der Explosion ausgelöst wurde, ließen sie sich herunter, zerstörten die Geschütze und vernichteten die restlichen Geschosse. Dabei wurde Leonid von Splittern leicht verwundet. Während des eiligen Rückzugs trafen sie auf eine Abteilung feindlicher Dragoner. Leonid übergab das Kommando an Wladimir, der sein Adjutant war, schlüpfte mit den letzten beiden Granaten in ein Haustor und blieb im Hinterhalt, während die anderen weiterliefen, wobei sie zufällige Verstecke nutzten und energisch zurückschossen. Nachdem Leonid einen großen Teil der feindlichen Abteilung vorbeigelassen hatte, warf er die erste Granate auf den Offizier, die zweite in eine Gruppe Dragoner. Die ganze Abteilung stob auseinander, unsere Männer kehrten zurück und nahmen Leonid mit, der von dem Splitter einer seiner Granaten schwer verletzt war. Noch vor dem Morgengrauen erreichten sie unsere Linien und übergaben Leonid meiner Obhut.
Der Splitter konnte gleich entfernt werden, aber er war bis zur Lunge vorgedrungen. Leonids Zustand war ernst. Ich brachte den Verwundeten so gut und bequem wie möglich unter, aber eines konnte ich ihm natürlich nicht bieten — die Ruhe, deren er unbedingt bedurfte. Bei Morgengrauen lebte die Schlacht wieder auf, der Lärm war deutlich bei uns zu hören, und das ständige Interesse an ihrem Verlauf ließ Leonids Fieber steigen. Als andere Verwundete gebracht wurden, erregte er sich noch mehr, und ich musste ihn isolieren, soweit das möglich war. Ich stellte Schirme um sein Bett, damit er wenigstens die fremden Wunden nicht sah.
Gegen vier Uhr nachmittags war die Schlacht beendet und der Ausgang klar. Ich war mit der Untersuchung und Unterbringung der Verwundeten beschäftigt, als man mir die Visitenkarte einer Dame übergab, die sich einige Wochen zuvor schriftlich nach Leonids Befinden erkundigt hatte. Nach Leonids Flucht war sie persönlich bei mir gewesen, und ich hatte sie mit einer Empfehlung zu Ihnen geschickt, um Sie mit dem Manuskript bekannt zu machen. Da diese Dame zweifellos eine Genossin und zudem offenbar Ärztin war, habe ich sie zu mir in den Krankensaal gebeten. Wie bei unserer letzten Begegnung trug sie einen dunklen Schleier, der ihr Gesicht verhüllte.
»Ist Leonid hier?« fragte sie, ohne mich zu begrüßen.
»Ja«, antwortete ich, »aber Sie brauchen sich nicht zu beunruhigen: Seine Verwundung ist zwar ernst, doch er kann sicherlich geheilt werden.«
Sie stellte mir einige fachliche Fragen, um sich über den Zustand des Kranken zu informieren. Dann erklärte sie, dass sie ihn zu sehen wünsche.
»Wird ihn dieses Wiedersehen nicht aufregen?« wandte ich ein.
»Zweifellos wird es das«, war ihre Antwort, »aber es wird ihm weniger schaden als nutzen. Ich verbürge mich dafür.«
Ihre Stimme klang entschieden und sicher. Ich spürte, dass sie wusste, was sie sagt, und konnte ihr den Wunsch nicht abschlagen. Wir gingen in den Krankensaal, in dem Leonid lag, und ich gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie hinter den Schirm gehen solle. Ich blieb in der Nähe am Bett eines anderen Schwerverwundeten, den ich sowieso untersuchen musste. Falls es notwendig gewesen wäre, wollte ich in ihre Unterhaltung mit Leonid eingreifen.
Hinter dem Schirm hob sie ein wenig den Schleier. Durch das Gewebe des Schirms war ihre Silhouette zu sehen, und ich konnte erkennen, dass sie sich zu dem Kranken neigte.
»Eine Maske... «, flüsterte Leonid.
»Deine Netti!« antwortete sie, und in diesen beiden Worten, die mit leiser, melodischer Stimme gesprochen wurden, lag so viel Zärtlichkeit, dass mein altes Herz vor schmerzhaft-frohem Mitgefühl erbebte.
Sie machte eine heftige Handbewegung, als knöpfe sie den Kragen auf, schien Hut und Schleier abzulegen und sich noch weiter über Leonid zu beugen. Eine Minute lang schwiegen beide.
»Sterbe ich?« fragte er.
»Nein, Lenni, das Leben Hegt vor uns. Deine Wunde ist nicht tödlich und nicht einmal gefährlich.«
»Und der Mord?« wandte er bange ein.
»Das war die Krankheit, Lenni. Sei ruhig, dieses Aufwallen tödlichen Schmerzes wird nicht zwischen uns stehen, es wird uns auf unserem Wege zu dem großen gemeinsamen Ziel nicht hinderlich sein. Und wir erreichen dieses Ziel, Lenni.«
Ein leichtes Stöhnen entrang sich Leonids Brust, aber es war kein Schmerzen s laut. Ich ging fort, weil ich meinen Kranken schon untersucht hatte und nicht mehr zu lauschen brauchte. Wenige Minuten später rief mich die Unbekannte erneut. Sie trug wieder Hut und Schleier.
»Ich nehme Leonid mit«, erklärte sie. »Er selbst wünscht das, und bei mir findet er bessere Bedingungen als hier, so dass Sie beruhigt sein können. Zwei Genossen warten unten, sie werden ihn zu mir bringen. Geben Sie ihnen eine Bahre.«
Warum sollte ich mit ihr streiten: In unserem Lazarett waren die Bedingungen tatsächlich nicht die besten. Ich erbat ihre Adresse — die Dame wohnte in der Nähe — und beschloss, Leonid am nächsten Tage zu besuchen. Zwei Männer kamen und trugen Leonid vorsichtig auf einer Trage aus dem Saal.
(Postskriptum vom folgenden Tage) Leonid und Netti sind verschwunden. Eben war ich in ihrer Wohnung: Die Türen sind nicht verschlossen, die Zimmer sind leer. In einem großen Raum, in dem ein Fenster weit offen stand, fand ich einen an mich adressierten Zettel. Darauf waren mit zitternder Hand die Worte geschrieben: »Einen Gruß an die Genossen. Auf Wiedersehen. Ihr Leonid.«
Seltsamerweise bin ich keineswegs beunruhigt. Ich bin in diesen Tagen tödlich ermüdet, habe viel Blut und viel Leid gesehen, habe Bilder des Untergangs und der Zerstörung erblickt, aber meine Seele ist immer noch froh und hell.
Das Schlimmste liegt hinter uns. Der Kampf war lang und schwer, doch der Sieg ist nahe. Der nächste Kampf wird leichter sein. |
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