6. Auf der Suche
In meiner Seele blieb ein Gefühl tiefer Erniedrigung zurück. Noch schmerzlicher als vorher empfand ich die überlegenheit der Marsmenschen bei der Arbeit und auf allen anderen Gebieten. Zweifellos übertrieb ich diese überlegenheit und betonte meine Schwäche zu sehr. In Wohlwollen und Fürsorglichkeit argwöhnte ich verächtliche Herablassung, in Zurückhaltung erblickte ich verborgenen Widerwillen gegenüber einem niederen Wesen. Immer weniger war ich imstande, die Dinge richtig wahrzunehmen und zu beurteilen.
Mein Geist blieb jedoch ungetrübt, ich arbeitete jetzt besonders viel, um die Leere auszufüllen, die ich ohne Netti fühlte. Mehr als früher war ich davon überzeugt, dass es für Nettis Teilnahme an der Expedition noch unbekannte Gründe gab, stärkere und wichtigere Motive als diejenigen, die sie mir angeführt hatte. Der neue Beweis ihrer Liebe und die gewaltige Bedeutung, die Netti meiner Mission bei der Annäherung zweier Welten beimaß, bestätigten mir, dass sie sich nicht ohne außergewöhnliche Beweggründe entschlossen hatte, mich für lange Zeit inmitten der Untiefen und Riffe des Ozeans eines mir fremden Lebens zurückzulassen. Mit ihrem hellen Verstand wusste sie besser als ich, welche Gefahren mir hier drohten. Es gab etwas, was man mir verheimlicht hatte, und es musste mich direkt betreffen. Ich musste es um jeden Preis erfahren.
Ich beschloss, durch systematische überlegungen zur Wahrheit vorzudringen. Einige zufällige und ungewollte Andeutungen und der besorgte Ausdruck, den ich vor langer Zeit auf ihrem Gesicht erhascht hatte, als sie von den Expeditionen zu anderen Planeten sprach, brachten mich zu dem Schluss, dass sich Netti nicht später als in den ersten Tagen unserer Ehe zu der Reise entschlossen hatte. Die Ursachen waren also in den Ereignissen jener Zeit zu suchen.
Sie konnten mit privaten Angelegenheiten Nettis oder mit der Expedition zusammenhängen. Das erstere erschien mir nach Nettis Brief weniger wahrscheinlich. Folglich musste ich meine Ermittlungen darauf richten, die Vorgeschichte der Expedition zu erkunden.
Selbstverständlich war die Expedition von der »Kolonialgruppe« beschlossen worden. So hieß ein Gremium, das aktiv an der Organisation interplanetarer Reisen mitwirkte. Außer Wissenschaftlern bestand es aus Vertretern der Statistikzentrale und aller Werke, die Sternschiffe und Ausrüstungen für solche Reisen lieferten. Die letzte Tagung der »Kolonialgruppe« hatte während meiner Krankheit stattgefunden. Menni und Netti hatten an den Sitzungen teilgenommen. Da ich damals schon genas und mich allein langweilte, wollte ich ebenfalls zu der Tagung fliegen, aber Netti sagte mir, das wäre für meinen Gesundheitszustand gefährlich. Hing etwa diese »Gefahr« mit etwas zusammen, das ich nicht wissen durfte? Also musste ich die Protokolle der Tagung daraufhin genau prüfen.
Aber hier stieß ich auf Schwierigkeiten. In der Bibliothek gab man mir lediglich die Tagungsbeschlüsse. Bis ins einzelne war die gesamte Organisation des grandiosen Unternehmens dargelegt, aber ich fand nichts, was für mich interessant gewesen wäre. Das befriedigte mich keinesfalls. Bei aller Ausführlichkeit waren die Beschlüsse ohne jegliche Begründung abgedruckt, ohne Hinweise auf die vorherigen Beratungen. Als ich dem Bibliothekar sagte, dass ich die Tagungsprotokolle benötige, erklärte er mir, es wären keine gedruckt worden, ja es gäbe gar keine ausführlichen Aufzeichnungen, das sei bei technischen Beratungen nicht üblich.
Auf den ersten Blick erschien das wahrscheinlich. Die Marsbewohner veröffentlichen tatsächlich meist nur die Beschlüsse ihrer Beratungen, weil sie meinen, jede vernünftige und nützliche Meinungsäußerung würde sich entweder in dem angenommenen Beschluss widerspiegeln oder sie würde vom Autor weitaus besser und ausführlicher als in einer kurzen Rede in einem Artikel, einer Broschüre oder einem Buch publiziert. Man druckt nicht gern Dickleibige Bücher, und etwas Ähnliches wie unsere vielbändigen »Sitzungsberichte« wird man vergeblich suchen, stets wird nur der Extrakt publiziert. Aber in dem Falle glaubte ich dem Bibliothekar nicht. Auf der Tagung waren zu bedeutsame Dinge erörtert worden, als dass man das wie gewöhnliche Debatten über irgendein technisches Problem behandelt hätte; es mussten also Protokolle vorhanden sein.
Ich bemühte mich jedoch, mein Misstrauen zu verbergen, und um jeglichen Verdacht von mir abzulenken, vertiefte ich mich geflissentlich in die Lektüre der Beschlüsse, während ich in Wahrheit mein weiteres Vorgehen überlegte.
In der Buchabteilung konnte ich offenbar nicht finden, was ich brauchte. Entweder gab es tatsächlich keine schriftlichen Protokolle, oder der Bibliothekar sollte sie vor mir verstecken. Es blieb die phonographische Abteilung.
Dort mussten sich die Protokolle selbst dann befinden, wenn sie nicht gedruckt worden waren. Der Phonograph ersetzt auf dem Mars oft den Stenographen, und in den Archiven werden viele ungedruckte Phonogramme von Beratungen unterschiedlichster Art aufbewahrt.
Ich wählte einen Moment, als der Bibliothekar beschäftigt war, und ging unbemerkt in die phonographische Abteilung. Dort erbat ich bei der Aufsichtsperson den großen Katalog.
Die Nummer der Tagung war schnell gefunden, und unter dem Anschein, das Personal nicht belästigen zu wollen, suchte ich selbst die Phonogramme heraus. Das gelang mir ebenfalls leicht.
Die Beratung hatte fünfzehn Tage gedauert, und von jeder Sitzung war ein Phonogramm vorhanden, dem eine Inhaltsangabe beilag.
Die ersten fünf Sitzungen befassten sich mit den Expeditionen, die nach der letzten Tagung stattgefunden hatten, und der neuen, verbesserten Technik der Sternschiffe.
Die Inhaltsangabe des sechsten Phonogramms lautete:
»Vorschlag der Statistikzentrale, mit der Massenkolonisation zu beginnen. Wahl des Planeten — Erde oder Venus. Reden und Vorschläge von Sterni, Netti, Menni. Vorläufige Entscheidung für die Venus.«
Ich spürte, dass ich das Richtige gefunden hatte. Schnell legte ich das Phonogramm in den Wiedergabeapparat. Was ich vernahm, prägte sich mir für immer in die Seele.
Die sechste Sitzung wurde von Menni eröffnet, der die Tagung leitete. Als erster sprach der Chef der Statistikzentrale. Er bewies mit einer Reihe von Daten, dass beim gegenwärtigen Bevölkerungswachstum und den dementsprechend steigenden Bedürfnissen nach dreißig Jahren ein Mangel an Nahrungsmitteln eintreten würde, wenn sich die Marsbewohner auf die Nutzung ihres Planeten beschränkten. Ein Ausweg wäre die technisch einfache Synthese von Eiweiß aus anorganischen Stoffen, aber niemand könne garantieren, dass sich das innerhalb von dreißig Jahren erreichen lasse. Deshalb sei es geboten, von einfachen wissenschaftlichen Exkursionen auf andere Planeten zu einer echten Massenumsiedlung überzugehen. Vorläufig böten sich nur zwei Planeten mit riesigen Naturreichtümern an. Man müsse unverzüglich entscheiden, welchen von beiden man für den Anfang auswähle, und dann einen Plan ausarbeiten.
Niemand brachte Einwände gegen diesen Vorschlag oder seine Begründung vor. Danach ließ Menni das Problem beraten, welchen Planeten man zuerst für die Massenkolonisation auswählen sollte.
Sterni sprach als erster. |
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