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Alexandr A. Bogdanow - Der rote Planet (1908)
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4. Enno

Der lange Herbst verging, und in unserem Gebiet, den mittleren Breiten der nördlichen Halbkugel, herrschte Winter, schneearm, aber kalt. Die kleine Sonne wärmte nicht und schien weniger als sonst. Die Natur hatte ihre grellen Farben abgelegt, sie war blass und rauh geworden. Die Kälte kroch ins Herz, Zweifel kamen in meiner Seele auf, und weil ich ein Fremder aus einer anderen Welt war, wurde die Einsamkeit immer qualvoller.
Ich begab mich zu Enno, die ich lange nicht gesehen hatte. Sie empfing mich wie einen nahen Verwandten, und mir war, als hätte ein heller Strahl der nahen Vergangenheit die Winterkälte und den Nebel der Sorge durchdrungen. Bald merkte ich, dass auch Enno blass war, sie sah erschöpft und gequält aus, in ihrem Verhalten und in ihren Worten lag heimlicher Kummer. Wir hatten einander viel zu erzählen, einige Stunden vergingen für mich so unmerklich und schön, wie ich es seit Nettis Abflug nicht erlebt hatte.
Als ich aufstand, um heimzufliegen, wurde uns beiden traurig zumute.
»Wenn Ihre Arbeit Sie nicht hier festhält, kommen Sie doch mit«, schlug ich ihr vor.
Enno willigte sofort ein, sie nahm ihre Arbeit — zu der Zeit beschäftigte sie sich nicht mit Beobachtungen im Observatorium, sondern mit dem überprüfen gewonnener Daten —, und wir flogen ins Chemiestädtchen, wo ich allein in Mennis Haus lebte. Morgens reiste ich in meine Fabrik, die sich hundert Kilometer, das heißt eine halbe Flugstunde entfernt befand, und die langen Winterabende verbrachten Enno und ich gemeinsam mit Gesprächen, Spaziergängen und wissenschaftlichen Arbeiten.
Enno erzählte mir ihre Lebensgeschichte. Sie war mehrere Jahre Mennis Frau gewesen. Obwohl sie sich leidenschaftlich ein Kind wünschte, blieb ihr das Glück der Mutterschaft versagt. Da wandte sie sich an Netti um Rat. Netti untersuchte sehr gründlich alle Umstände und erklärte unwiderruflich, dass Enno keine Kinder bekommen würde. Menni hatte sich zu spät vom Kind zum Mann entwickelt, und er hatte zu früh das angespannte Leben eines Wissenschaftlers und Denkers begonnen. Die übermäßige Aktivität seines Hirns hatte die Lebenskraft seiner Keimzellen geschwächt und vernichtet, und das war nicht mehr zu ändern.
Nettis Urteil war für Enno ein Schicksalsschlag. Bei ihr vereinten sich die Liebe zu dem genialen Mann und ein tiefer Mutterinstinkt zu der nun aussichtslosen Sehnsucht nach einem Kind.
Die Untersuchungen hatten noch etwas anderes ergeben. Es erwies sich, dass für Mennis gewaltige geistige Arbeit, für die volle Entwicklung seiner genialen Fähigkeiten körperliche Enthaltsamkeit, möglichst wenig Liebeslust angeraten war. Enno konnte sich diesem Rat nicht verschließen und überzeugte sich bald, wie richtig und vernünftig er war. Menni lebte auf, arbeitete energischer als je zuvor, neue Pläne wurden mit ungewohnter Schnelligkeit geboren und besonders erfolgreich ausgeführt, und offenbar vermisste Menni nichts. Enno, der ihre Liebe teurer war als das Leben, aber das Genie des geliebten Mannes teurer als ihre Liebe, trennte sich von Menni.
Ihn betrübte das anfangs, aber bald fand er sich damit ab. Der wahre Grund der Trennung blieb ihm wohl verborgen. Enno und Netti schwiegen darüber, wussten jedoch nicht sicher, ob Menni mit seinem scharfen Verstand die Ursache nicht doch erahnte. Für Enno erwies sich das Leben als so leer, das unterdrückte Gefühl bereitete ihr solche Pein, dass sie nach kurzer Zeit den Tod suchte. Wiederum wandte sie sich an Netti.
Um den Freitod zu verhindern, zögerte Netti unter verschiedenen Vorwänden ihre Unterstützung hinaus und benachrichtigte Menni. Er bereitete gerade die Expedition zur Erde vor und sandte Enno sogleich die Einladung, an diesem wichtigen und gefährlichen Unternehmen teilzunehmen. Enno nahm das ehrenvolle Angebot an. Die vielen neuen Eindrücke halfen ihr, den seelischen Schmerz zu überwinden, und während des Rückflugs zum Mars vermochte sie schon den Anschein des fröhlichen Jungen und Poeten zu erwecken, als den ich sie auf dem Sternschiff kannte.
Zur Venus war Enno nicht mitgeflogen, weil sie befürchtete, sich erneut zu sehr an Menni zu gewöhnen. Aber die Sorge um sein Schicksal verließ sie nicht. Sie kannte die Gefahren des Unternehmens nur zu gut. An den langen Winterabenden kreisten unsere Gedanken und Gespräche ständig um einen Punkt des Weltalls: Unter den Strahlen einer riesigen Sonne, beim Atem eines sengenden Windes verrichteten die Menschen, die uns am nächsten standen, ihr titanisches Werk. Die gemeinsamen Gedanken und Stimmungen brachten uns einander näher. Enno wurde für mich mehr als eine Schwester.
Gleichsam wie von selbst, ohne Leidenschaft und ohne Kämpfe, führte diese Nähe zu Liebesbeziehungen. Die beständig-sanfte und gute Enno entzog sich nicht meinem Begehren, hatte diese Nähe jedoch nicht selber gesucht. Sie beschloss nur, von mir keine Kinder zu haben. Ein Schatten sanfter Trauer lag auf ihren Liebkosungen — den Liebkosungen zärtlicher Freundschaft, die alles erlaubt.
Der Winter breitete immer noch seine blassen Flügel über uns aus — der lange Marswinter ohne Tauwetter, Stürme und Schneeschauer, ruhig und starr wie der Tod. Wir verspürten beide kein Verlangen, in den Süden zu fliegen, wo zu dieser Zeit die Sonne wärmte und die Natur ihre bunten Kleider vorzeigte. Enno wollte nicht diese Natur, die zuwenig zu ihrer Stimmung passte, und ich mied neue Menschen und neue Umstände, denn es hätte zusätzliche Mühen und Anstrengungen gekostet, mit ihnen vertraut zu werden und sich an sie zu gewöhnen. Ohnehin näherte ich mich zu langsam meinem Ziel. Geisterhaft-merkwürdig war unsere Freundschaft — Liebe im Reich des Winters, der Sorge, der Erwartung...

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