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Alexandr A. Bogdanow - Der rote Planet (1908)
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6. Arbeit und Gespenster

Die Eindrücke der ersten Tage, die als mächtige Lawine auf mich einstürzten, gaben mir eine Vorstellung von den Ausmaßen der bevorstehenden Arbeit. Vor allem musste ich diese so unermesslich reiche und in ihren Lebensformen originelle Welt begreifen. Ich durfte sie nicht wie ein Museumsbesucher betrachten, sondern musste als Mensch unter Menschen, als Arbeiter unter Arbeitern an ihr teilhaben. Nur dann konnte ich meine Mission erfüllen und das Anfangsglied einer echten wechselseitigen Verbindung zweier Welten sein. Als Sozialist stand ich auf der Grenzlinie zwischen diesen Welten — ein unendlich kleiner Punkt der Gegenwart zwischen Vergangenheit und Zukunft.
Beim Abschied im Krankenhaus sagte Netti zu mir: »Nichts überstürzen!« Er hatte gut reden! Ich musste mich beeilen, musste alle meine Kräfte, meine ganze Energie einsetzen, weil die Verantwortung so groß war! Welch kolossalen Nutzen, welch gigantischen Fortschritt, welch schnelles Aufblühen musste der lebendige, energische Einfluss einer höheren, starken und harmonischen Kultur unserer alten, gequälten Menschheit bringen! Jedes Versäumnis bei meiner Arbeit konnte das hinauszögern. Nein, zum Abwarten, zum Ausruhen war keine Zeit.
Ich arbeitete sehr viel, beschäftigte mich mit der Wissenschaft und Technik der neuen Welt, studierte das gesellschaftliche Leben, las Literatur. Vieles war schwierig.
Die wissenschaftlichen Methoden verwirrten mich: Ich eignete sie mir mechanisch an, überzeugte mich bei Versuchen, dass sie leicht, einfach und fehlerlos anzuwenden waren, und dennoch verstand ich sie nicht; ich begriff nicht, warum sie zum Ziele führten, wo sie mit den lebendigen Erscheinungen verbunden waren, worin ihr Wesen bestand. Ebenso würde es einem Mathematiker des 17. Jahrhunderts ergehen, der nicht die lebendige Dynamik unendlich kleiner Größen erfassen könnte.
Die gemeinsamen Beratungen der Marsmenschen verblüfften mich durch ihren konzentriert-sachlichen Charakter. Ob es sich um wissenschaftliche Probleme, um Arbeitsorganisation oder sogar um Kunst handelte — die Vorträge und Reden waren sehr komprimiert und kurz, die Argumentation war bestimmt und präzise, niemand wiederholte sich oder gab nochmals die Meinung eines anderen wieder. Die meist einstimmigen Entscheidungen wurden mit märchenhafter Schnelligkeit verwirklicht. Wissenschaftler einer Fachrichtung entschieden, man solle ein neues Institut schaffen, Arbeitsstatistiker verlangten eine neue Fabrik, die Einwohner einer Stadt wollten ihre Stadt mit einem Gebäude verschönen — flugs erschienen neue Ziffern der notwendigen Arbeitsstunden, die von der Zentrale errechnet wurden, Hunderte und Tausende Arbeiter kamen angeflogen, in wenigen Tagen oder Wochen war alles vollbracht, und die Arbeiter verschwanden wieder. Das wirkte wie Zauberei, wie seltsame, ruhige und kalte Magie ohne Beschwörungen und mystisches Beiwerk, jedoch um so rätselhafter in seiner übermenschlichen Kraft.
Die Lektüre von Büchern, selbst rein künstlerischer Werke, war für mich weder Erholung noch Entspannung. Die Bilder schienen unkompliziert und klar zu sein, blieben mir jedoch innerlich fremd. Ich wollte tiefer eindringen, sie verstehen lernen, aber dann hüllten sich diese Bilder in Nebel und wurden gespenstisch.
Wenn ich ins Theater ging, bedrückte mich ebenfalls das Gefühl, nichts zu begreifen. Die Stoffe waren einfach, gespielt wurde vortrefflich, doch das Leben blieb fern. Die Helden sprachen so zurückhaltend und sanft, sie verhielten sich so ruhig und äußerten kaum Gefühle, als wollten sie dem Zuschauer keinerlei Stimmungen aufzwingen, als wären sie vollkommene Philosophen, und zwar in idealisierter Gestalt. Lediglich historische Stücke aus ferner Vergangenheit weckten in gewissem Maße vertraute Eindrücke, die Akteure spielten ebenso lebhaft und taten ihre privaten Gefühle so offen kund, wie ich es in unseren Theatern gewohnt war.
Ins Theater unseres Städtchens zog mich vor allem ein Umstand: Dort traten gar keine Schauspieler auf. Die Stücke wurden entweder mit optischen und akustischen Apparaten aus großen Städten übertragen, oder es wurden zumeist alte Aufführungen gezeigt, manchmal so alt, dass die Darsteller längst gestorben waren. Die Marsbewohner, die Photographien in natürlichen Farben kennen, lichten auf diese Weise auch das Leben in Bewegung ab. Aber sie vereinigen nicht nur Kinematographie und Photographie, was man, obschon sehr unzulänglich, auch auf der Erde in den Lichtspielhäusern tut, sondern sie nutzen die Idee des Stereoskops und verwandeln die kinematographischen Ablichtungen in plastische Bilder. Auf die Leinwand werden gleichzeitig zwei Filme projiziert, die zwei Hälften eines Stereogramms, und im Zuschauerraum ist vor jedem Sessel eine stereoskopische Brille befestigt, welche die flachen Abbildungen in dreidimensionale verwandelt. Ich sah klar und deutlich lebendige Menschen, die redeten, ihre Gedanken und Gefühle ausdrückten, sich bewegten, und gleichzeitig wusste ich, dass sich dort lediglich eine matte Leinwand und dahinter ein Phonograph und eine elektrische Lampe mit einem Zeitmechanismus befanden. Das war beinahe mystisch-seltsam und ließ unklare Zweifel an der Wirklichkeit aufkommen.
All das erleichterte mir nicht die Aufgabe, die fremde Welt verstehen zu lernen. Ich brauchte fremde Hilfe. Aber ich wandte mich immer seltener an Menni. Es war mir peinlich, meine Schwierigkeiten in all ihrem Ausmaß zu offenbaren. Zudem war Menni gerade mit wichtigen Forschungen auf dem Gebiet der Minus-Materie beschäftigt. Er arbeitete unermüdlich, schlief oft die ganze Nacht nicht, so dass ich ihn nicht stören und ablenken wollte. Sein Arbeitseifer stachelte mich vielmehr an, in meinen Bemühungen fortzufahren.
Die anderen Freunde waren zeitweilig meinem Gesichtskreis entschwunden. Netti leitete auf der anderen Halbkugel die Einrichtung einer neuen riesigen Klinik. Enno war als Sternis Assistent sehr beansprucht; in seinem Observatorium wurden die Messungen und Berechnungen vorgenommen, die man für neue Reisen zur Erde und zur Venus benötigte; man plante auch Expeditionen zum Mond und zum Merkur, um diese Himmelskörper zu photographieren und von dort Gesteinsproben mitzubringen. Mit anderen Marsbewohnern verkehrte ich nicht, ich beschränkte mich auf notwendige Fragen und sachliche Gespräche. Es fiel mir schwer, mich fremden und höheren Wesen zu nähern.
Im Laufe der Zeit schritt meine Arbeit nicht übel voran. Ich brauchte immer weniger Erholung und sogar Schlaf. Was ich lernte, erfasste mein Hirn, das offenbar noch viel mehr aufnehmen konnte, mechanisch leicht. Freilich, wenn ich nach alter Gewohnheit versuchte, das Gelernte genau zu formulieren, gelang es mir meist nicht, aber ich hielt das nicht für wichtig und meinte, mir würden einfach die Wörter für Einzelheiten und Kleinigkeiten fehlen, während ich das Wesentliche begriffen hätte.
Meine Arbeit machte mir bald keinen Spaß mehr. Das ist völlig verständlich, dachte ich. Nach allem, was ich gesehen und erfahren habe, kann mich kaum noch etwas verwundern. Arbeit braucht nicht angenehm zu sein, ich muss nur alles Notwendige beherrschen.
Nur eines war lästig: Ich konnte mich immer weniger auf einen Gegenstand konzentrieren. Meine Gedanken schweiften ab, Erinnerungen stiegen plötzlich auf und ließen mich die Umgebung vergessen, raubten mir kostbare Minuten. Wenn ich das bemerkte, schreckte ich auf und machte mich mit neuem Eifer an die Arbeit; aber kaum waren ein paar Minuten verstrichen, beherrschten wiederum Phantasien oder flüchtige Bilder der Vergangenheit mein Hirn, und wiederum musste ich sie mit größter Anstrengung zurückdrängen.
Immer häufiger beunruhigte mich der Gedanke, ich hätte etwas Wichtiges und Eiliges nicht ausgeführt, hätte etwas für immer vergessen. Wieder tauchten bekannte Gesichter und verflossene Ereignisse auf, sie trugen mich in unaufhaltsamem Strom immer weiter zurück, bis in meine Jugend und frühe Kindheit, die sich in verschwommenen Empfindungen verlor, Da-, nach war ich besonders zerstreut.
Ein innerer Widerstand verwehrte es mir, mich auf eine Sache zu konzentrieren, immer öfter und schneller wechselte ich von einem Gegenstand zum anderen. Dafür hatte ich absichtlich ganze Bücherstapel in meinem Zimmer angehäuft und im voraus bestimmte Seiten aufgeschlagen. Außerdem lagen auf meinem Schreibtisch Tabellen, Karten, Stereogramme und Phonogramme. So wollte ich Zeitverlust vermeiden, aber die Zerstreutheit schlich sich immer unmerklicher in mein Hirn, und ich ertappte mich dabei, dass ich schon lange auf einen Punkt starrte, ohne etwas zu begreifen.
Legte ich mich ins Bett und sah durch das gläserne Dach in den Nachthimmel, begann mein Geist eigenmächtig und mit erstaunlicher Lebhaftigkeit zu arbeiten. Ganze Seiten von Zahlen und Formeln marschierten mit solcher Klarheit auf, dass ich sie Zeile für Zeile lesen konnte. Aber diese Bilder machten bald anderen Platz. Dann erblickte ich ein Panorama von Bildern, die nichts mit meiner Arbeit und meinen Sorgen zu tun hatten: Irdische Landschaften, Theaterszenen oder Ansichten aus Kindermärchen spiegelten sich ruhig in meiner Seele, tauchten unter und verwandelten sich, ohne mich innerlich zu berühren, höchstens dass schwache Neugier aufkeimte, der ein angenehmer Beigeschmack anhaftete. Diese Bilder wurden anfangs im Innern meines Bewusstseins projiziert, ohne sich mit der Umgebung zu vermengen, dann verdrängten sie die Wirklichkeit, und ich sank in einen Schlaf voller wirrer Träume, einen unruhigen Schlaf, der mir nicht das gab, was ich brauchte — Erholung.
Ein Rauschen in den Ohren hatte mich schon lange beunruhigt, jetzt wurde es immer anhaltender und stärker, so dass es mich beim Abhören der Phonogramme störte, und in den Nächten verscheuchte es den letzten Schlaf. Von Zeit zu Zeit traten aus dem Rauschen menschliche Stimmen hervor, bekannte und unbekannte, manchmal schien mich jemand mit Namen anzusprechen, manchmal vermeinte ich ein Gespräch zu vernehmen, dessen Worte ich in dem Rauschen nicht verstehen konnte. Ich begriff, dass ich nicht völlig gesund war, um so mehr, als ich immer zerstreuter wurde und nicht einmal mehrere Zeilen hintereinander lesen konnte.
Das ist einfach übermüdung, dachte ich. Ich habe zu viel gearbeitet und muss mich mehr ausruhen. Aber Menni braucht das nicht zu wissen, das gliche zu sehr einer Kapitulation gleich zu Beginn meines Werkes.
Wenn Menni in mein Zimmer kam — das geschah damals nicht oft —, tat ich, als sei ich sehr beschäftigt. Er meinte, ich wäre zu fleißig und würde mich überanstrengen.
»Heute sehen Sie nicht gesund aus«, sagte er.
»Schauen Sie in den Spiegel, wie Ihre Augen glänzen und wie blass Sie sind. Sie müssen verschnaufen, danach holen Sie alles leicht auf.«
Ich wollte es tun, aber es gelang mir nicht. Eigentlich tat ich fast gar nichts mehr, denn mich ermüdete schon die kleinste Anstrengung, und der Strom lebendiger Bilder und Erinnerungen riss Tag und Nacht nicht ab. Die Umgebung verblasste und wurde zu einer Geisterwelt.
Schließlich musste ich mich geschlagen geben. Ich wurde immer schlaffer und apathischer und konnte immer weniger gegen meinen Zustand ankämpfen. Als ich eines Morgens aufstand, wurde mir schwarz vor den Augen. Das verging bald, und ich trat ans Fenster und betrachtete die Parkbäume. Plötzlich spürte ich, dass mich jemand ansah. Ich drehte mich um — vor mir stand Anna Nikolajewna. Ihr Gesicht war bleich und traurig, in ihrem Blick las ich Vorwürfe. Das betrübte mich, und ohne mich im geringsten über das Seltsame der Erscheinung zu wundern, schritt ich auf sie zu und wollte sie ansprechen. Aber sie verschwand, als wäre sie ein Geist.
Da begann eine Gespensterorgie. An vieles erinnere ich mich nicht mehr, und offenbar war mein Verstand im Wachen so verwirrt wie im Traum. Die unterschiedlichsten Menschen, denen ich im Leben begegnet war, sogar völlig unbekannte Leute kamen und gingen, oder sie tauchten plötzlich auf und verschwanden wieder. Aber alles waren Erdenmenschen, meist solche, die ich lange Zeit nicht gesehen hatte — Schulkameraden, mein jüngerer Bruder, der schon als Kind gestorben war. Einmal sah ich durchs Fenster einen bekannten Spitzel, der mich mit unsteten Raubtieraugen musterte und boshaft lächelte. Die Gespenster sprachen nicht mit mir, doch nachts, wenn es still war, verstärkten sich die akustischen Halluzinationen, wurden zu zusammenhängenden, aber sinnlosen, inhaltsleeren Gesprächen, meist zwischen mir unbekannten Personen: Ein Fahrgast feilschte mit einem Kutscher, ein Verkäufer pries einem Kunden einen Stoff an, Studenten lärmten im Auditorium der Universität, und der Subinspektor bat um Ruhe, weil der Herr Professor gleich erscheinen würde. Die optischen Halluzinationen waren wenigstens interessant, sie störten mich weit weniger.
Nach Anna Nikolajewnas Erscheinen erzählte ich selbstverständlich alles Menni. Er empfahl mir gleich Ruhe, rief einen Arzt und telefonierte über sechstausend Kilometer mit Netti. Der Arzt wagte nichts zu unternehmen, weil er die Körperfunktionen von Erdenmenschen ungenügend kannte, in jedem Fall wäre jedoch das Wichtigste für mich Ruhe und Entspannung, dann sei es nicht gefährlich, die wenigen Tage bis zu Nettis Ankunft abzuwarten.
Netti erschien nach drei Tagen, er hatte seine Arbeit jemand anderem übergeben. Als er mich sah, blickte er Menni vorwurfsvoll an.

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