| 2. In der Fabrik Ungefähr fünfhundert Kilometer in zwei Stunden — die Geschwindigkeit  des schnellsten Falken, die bisher nicht einmal von unseren  elektrischen Bahnen erreicht wird. Unten entfalteten sich in raschem  Wechsel seltsame Landschaften; merkwürdige Vögel schössen an uns  vorbei. Die Sonnenstrahlen entflammten die Häuserdächer und die  riesigen Kuppeln mir unbekannter Gebäude. Flüsse und Kanäle glitzerten  wie Stahlbänder; weil sie an die Erde erinnerten, ruhten meine Augen  auf ihnen aus. In der Ferne tauchte eine riesige Stadt auf, die rings  um einen kleinen See lag und von einem Kanal durchschnitten wurde. Die  Gondel verlangsamte ihren Flug und landete sanft neben einem hübschen  kleinen Haus — Nettis Wohnstatt.Netti kam uns erfreut entgegen. Er  setzte sich in unsere Gondel, und wir flogen weiter. Die Fabrik lag an  der anderen Seite des Sees.
 Fünf gewaltige Gebäude, kreuzförmig angeordnet, alle von gleicher  Bauweise: gläserne Gewölbe, auf einigen Dutzend dunkler Säulen ruhend,  ebensolche gläserne Platten, abwechselnd durchsichtig und matt, als  Wände zwischen den Säulen. Wir landeten beim zentralen und größten  Komplex, vor dem zehn Meter breiten und zwölf Meter hohen Tor, das den  gesamten Raum zwischen zwei Säulen einnahm. Die Einfahrt wurde von der  Decke des Erdgeschosses durchschnitten, mehrere Schienenstränge führten  durch das Tor hinein und verloren sich im Inneren.
 Wir flogen durch die obere Hälfte der Toröffnung und gelangten gleich  in den ersten Stock, wo uns Maschinenlärm entgegenschlug. Eigentlich  war es gar kein Stockwerk, sondern ein Netz von Brücken, das von allen  Seiten gigantische Maschinen überspannte. Einige Meter darüber sah ich  ein zweites, ähnliches Netz, darüber ein drittes, viertes, fünftes;  alle bestanden aus gläsernem Parkett, das mit Eisengittern durchzogen  war, und alle waren durch eine Vielzahl von Aufzügen und Treppen  verbunden. Jedes höhere Netz war kleiner als das vorherige.
 Kein Rauch, kein Ruß, keine Gerüche, kein Staub. In reiner Luft  arbeiteten die Maschinen harmonisch, von schwachem Licht übergössen,  das jedoch überall hindrang. Aus Eisen, Aluminium, Nickel und Kupfer  wurden Maschinenteile geschnitten, gesägt, geschliffen und gebohrt.  Hebel, riesigen Stahlhänden ähnelnd, bewegten sich gleichmäßig und  stufenlos, große Plattformen schoben sich mit elementarer Genauigkeit  vorwärts und rückwärts, die Räder und Treibriemen schienen  stillzustehen. Nicht die plumpe Kraft von Feuer und Dampf, sondern die  feine, aber noch mächtigere elektrische Energie war die Seele dieses  Furcht einflößenden Mechanismus.
 Der Maschinenlärm klang beinahe melodisch, wenn sich das Ohr an ihn  gewöhnt hatte, außer in den Momenten, da ein Hammer von mehreren  tausend Tonnen Gewicht niedersauste und alles von dem Donnerschlag  erzitterte.
 Hunderte von Arbeitern liefen sicher zwischen den Maschinen umher, doch  weder ihre Schritte noch ihre Stimmen waren in dem Meer der Geräusche  zu hören. Ihre Mienen drückten keine gespannte Besorgnis aus, sondern  ruhige Aufmerksamkeit; die Arbeiter schienen neugierige gelehrte  Beobachter zu sein, die im Grunde mit alledem nichts zu tun hatten; es  interessierte sie einfach, wie die riesigen Metallstücke, die auf  Schienenplattformen unter die gläserne Kuppel glitten, in die eiserne  Umarmung dunkler Ungeheuer gerieten, wie diese Ungeheuer sie sodann mit  ihren festen Kiefern zerbissen, mit ihren schweren Pfoten  zerquetschten, mit ihren glänzenden scharfen Krallen zerbohrten und  zerkratzten und wie endlich die überreste dieses grausamen Spiels als  elegante Maschinenteile auf der Rückseite des Gebäudes in leichten  elektrisch betriebenen Waggons abtransportiert wurden. Es schien ganz  natürlich zu sein, dass die Ungeheuer die kleinen großäugigen  Betrachter, die vertrauensvoll zwischen ihnen spazierten, nicht  anrührten. Sie wären eine zu armselige Beute gewesen, unwürdig der  drohenden Kraft der Giganten. Die Faden, die das empfindliche Hirn des  Menschen mit den unzerstörbaren Organen des Mechanismus verband,  blieben unsichtbar.
 »Ich habe Maschinen und Arbeiter gesehen«, sagte ich zu dem Techniker,  der mich nach dem Verlassen des Gebäudes nach meinen Wünschen fragte,  »doch die Arbeitsorganisation ist mir undurchschaubar geblieben. Danach  wollte ich Sie fragen.«
 Anstelle einer Antwort führte uns der Techniker in einen würfelförmigen  Bau, der sich zwischen der zentralen Halle und einem Eckgebäude befand.  Es gab noch drei weitere solche Bauten. An den schwarzen Wänden  leuchteten viele Reihen weißer Zeichen. Ich beherrschte die Marssprache  schon so weit, um die Zeichen zu entziffern. Auf der ersten Tafel stand:
 »In der Maschinenproduktion beträgt der überschuss pro Tag 968757  Arbeitsstunden, davon 11325 Arbeitsstunden von Fachleuten.
 In dieser Fabrik beträgt der überschuss 753 Arbeitsstunden,           davon 29 Arbeitsstunden von Fachleuten.
 Kein Mangel herrscht in folgenden Bereichen: Bergbau, Chemie,  Erdarbeiten, Landwirtschaft... « In alphabetischer Reihenfolge wurden  viele Arbeitsbereiche aufgeführt.
 Auf der zweiten Tafel stand:
 »Die Bekleidungsindustrie benötigt 392685 Arbeitsstunden pro Tag, davon  21380 Arbeitsstunden von Mechanikern für Spezialmaschinen und 7852  Arbeitsstunden von Arbeitsorganisatoren.
 Die Schuhindustrie benötigt 79 360 Arbeitsstunden, davon...
 Die Rechenzentrale benötigt 3078 Arbeitsstunden... « usw.
 Die dritte und vierte Tafel sahen ähnlich aus. Unter den  Arbeitsgebieten waren auch die von Erziehern für kleinere Kinder,  Erziehern für Kinder mittleren Alters, Medizinern für Städte,  Medizinern für ländliche Gebiete usw. aufgeführt.
 »Warum herrscht nur in der Maschinenproduktion ein überschuss an  Arbeitskräften, während überall sonst Kräfte fehlen?« fragte ich.
 »Das ist leicht erklärlich«, antwortete Menni. »Mit Hilfe der Tabellen  soll auf die Verteilung der Arbeit eingewirkt werden: Jeder kann sehen,  wo und in welchem Umfang Arbeitskräfte fehlen. Bei gleicher oder  annähernd gleicher Neigung zu zwei Beschäftigungen wählt man die aus,  wo der Mangel größer ist. Und über den überschuss an Arbeitskräften  braucht man nur in der Fabrik genaue Angaben zu machen, wo dieser  überschuss vorhanden ist, damit jeder Arbeiter überlegen kann, ob er  seinen Arbeitsplatz wechseln
 soll.«
 Während wir uns unterhielten, verschwanden einige Ziffern auf den  Tafeln, worauf neue an ihre Stelle traten. Ich fragte, was das bedeute.
 »Die Zahlen ändern sich jede Stunde«, erklärte Menni, »denn im Laufe  einer Stunde haben mehrere tausend Menschen den Wunsch geäußert, den  Arbeitsplatz zu wechseln. Die Rechenzentrale registriert das, und  stündlich werden die Daten elektrisch überallhin weitergeleitet«
 »Wie gewinnt denn die Zentrale die Daten?«
 »Sie hat überall Agenturen, die den Warenbestand in den Lagern, die  Produktivität der Unternehmen und die Zahl der Arbeiter registrieren.  Auf diese Weise wird genau festgestellt, wie viel und was für bestimmte  Zeit produziert werden soll und wie viel Arbeitsstunden dafür benötigt  werden. Dann braucht die Zentrale nur noch den Unterschied zwischen  Soll und Haben zu berechnen und mitzuteilen. Der Strom der Freiwilligen  stellt das Gleichgewicht wieder her.«
 »Und der Verbrauch von Produkten ist nicht beschränkt?«
 »Nein, jeder nimmt, was er braucht und soviel er möchte.«
 »Gibt es denn kein Geld, keine Zeugnisse über die geleisteten  Arbeitsstunden oder etwas Ähnliches? Und keine Arbeitspflicht?«
 »Nichts dergleichen. Wir leiden keinen Mangel an Arbeitskräften: Die  Arbeit ist das natürliche Bedürfnis eines entwickelten, sozial  denkenden Menschen, und jede Art maskierten oder offenen Zwangs ist  völlig überflüssig.«
 »Aber wenn der Verbrauch nicht beschränkt ist, kann es dann nicht zu  Schwankungen kommen, die alle statistischen Berechnungen umstoßen?«
 »Natürlich nicht. Ein einzelner mag zwei- oder dreimal soviel von einer  Speise essen wie üblich, er kann an einem Tag zehn Anzüge tragen, aber  eine Gesellschaft von drei Milliarden Menschen ist solchen Schwankungen  nicht ausgesetzt. Bei so großen Zahlen werden Abweichungen  ausgeglichen, und die Mittelwerte ändern sich sehr langsam, in strenger  Kontinuität.«
 »Auf diese Weise arbeitet Ihre Statistik fast automatisch — einfache           Berechnungen und nichts weiter?«
 »Durchaus nicht. Es gibt schon große Schwierigkeiten. Die  Rechenzentrale muss wachsam die neuen Erfindungen und die veränderten  Produktionsbedingungen verfolgen, um sie genau zu berücksichtigen. Wird  in einem Bereich eine neue Maschine eingeführt, muss sogleich die  Arbeit umgestaltet werden, das gilt für den Maschinenbau und manchmal  sogar für die Gewinnung bestimmter Materialien, In einer Grube geht das  Erz zur Neige, neue Lagerstätten werden erschlossen — wiederum sind  mehrere Zweige betroffen: der Bergbau, das Verkehrswesen usw. All das  muss berücksichtigt werden, und wenn auch präzise Berechnungen  unmöglich sind, so gibt es doch annähernd richtige, und das ist gar  nicht leicht, solange Daten aus direkter Beobachtung fehlen.«
 »Bei solchen Schwierigkeiten muss man wohl stets einen gewissen Vorrat           an Arbeitskräften haben?«
 »Richtig — darauf beruht unser System. Vor zweihundert Jahren, als die  Früchte der Arbeit gerade ausreichten, um die Bedürfnisse der  Gesellschaft zu befriedigen, waren genaue Berechnungen notwendig, und  man konnte die Arbeit nicht frei wählen. Es gab einen vorgeschriebenen  Arbeitstag, und die Neigungen der Menschen konnten nicht immer  berücksichtigt werden. Aber jede Erfindung, die der Statistik  vorübergehend Schwierigkeiten bereitete, erleichterte die Hauptaufgabe  — den übergang zur unbeschränkten Freiheit der Arbeit. Anfangs wurde  der Arbeitstag verkürzt, und als auf allen Gebieten ein überangebot  herrschte, wurde jegliche Verpflichtung abgeschafft. Beachten Sie, wie  geringfügig der Mangel an Arbeitskräften ist: Tausende, Zehntausende,  höchstens Hunderttausende Arbeitsstunden, nicht mehr — und das bei aber  Millionen Arbeitsstunden, die in denselben Produktionszweigen benötigt  werden.«
 »Immerhin gibt es einen Mangel an Arbeitskräften«, wandte ich ein. »Er  wird sicherlich durch den späteren überschuss gedeckt, nicht wahr?«
 »Nicht nur dadurch. In Wirklichkeit wird die notwendige Arbeit so  berechnet, dass zum Grundbedarf eine gewisse Menge hinzugefügt wird. In  den wichtigsten Zweigen — bei der Produktion von Nahrung, Kleidung,  beim Bau von Gebäuden, Maschinen — beträgt dieser Aufschlag sechs  Prozent, bei den weniger wichtigen ein bis zwei Prozent. Auf diese  Weise zeigen die Zahlen auf den Tabellen nur einen relativen, keinen  absoluten Fehlbetrag an. Selbst wenn in den fehlenden Stunden nicht  gearbeitet würde, heißt das nicht, dass die Gesellschaft Mangel leiden  müsste.«
 »Und wie viel Stunden wird gearbeitet, beispielsweise in dieser Fabrik?«
 »Täglich anderthalb, zwei, zweieinhalb Stunden«, antwortete der  Techniker. »Manche arbeiten weniger oder auch mehr, zum Beispiel der  Genösse dort, der den großen Hammer bedient. Er ist von seiner Arbeit  so begeistert, dass er sich während der ganzen Arbeitszeit des  Betriebes nicht ablösen lässt, er arbeitet also sechs Stunden täglich.«
 Ich rechnete diese Zahlen um, da auf dem Mars ein Tag länger dauert und  in zehn Stunden eingeteilt ist. Demnach betrug die durchschnittliche  Arbeitszeit fünf Stunden, die längste fünfzehn Stunden, Der Genösse am  Hammer arbeitete also ebenso lange wie die Arbeiter in den schlimmsten  kapitalistischen Unternehmen.
 »Schadet es dem Genossen nicht, so lange zu arbeiten?« fragte ich.
 »Vorläufig nicht«, antwortete Netti, »ein halbes Jahr lang darf er sich  das Vergnügen noch erlauben, Ich habe ihn natürlich vor den Gefahren  gewarnt. Er kann einen krampfartigen psychischen Anfall bekommen, der  ihn mit unwiderstehlicher Kraft unter den Hammer zieht. Voriges Jahr  hatten wir hier ebenfalls einen Mann, der starke Emotionen liebte. Nur  dank einem glücklichen Zufall konnte der Hammer angehalten und der  unfreiwillige Selbstmord verhindert werden. Das Verlangen nach solchen  starken Emotionen ist noch keine Krankheit, aber es kann leicht dazu  werden, wenn das Nervensystem vor übermüdung, seelischem Kummer oder  wegen körperlicher Beschwerden angegriffen ist. Natürlich lasse ich die  Genossen, die sich übermäßig einer eintönigen Arbeit hingeben, nicht  aus den Augen.«
 »Sollte der Genösse, von dem wir reden, seine Arbeitszeit nicht  verkürzen, da es doch in der Maschinenproduktion zuviel Arbeitskräfte  gibt?«
 »Natürlich nicht«, erwiderte Menni lächelnd. »Warum sollte gerade er  das Gleichgewicht herstellen? Die Statistik verpflichtet niemanden zu  irgend etwas. Jeder nimmt sie zur Kenntnis, muss sich jedoch nicht  einzig nach ihr richten. Wenn Sie heute in dieser Fabrik arbeiten  wollten, würde sich wahrscheinlich ein Platz für Sie finden, und in der  zentralen Statistik würde sich der überschuss um ein bis zwei Stunden  vergrößern, mehr nicht. Der Einfluss der Statistik äußert sich bei der  Aufteilung der gesamten verfügbaren Arbeit, aber jede Person ist frei.«
 Bei dem Gespräch hatten wir uns erholt, und wir fuhren mit der  Besichtigung fort. Menni musste jedoch Heimfliegen, man hatte ihn ins  Laboratorium gerufen.
 Abends blieb ich bei Netti. Er hatte mir versprochen, mich am nächsten  Tag in die »Kinderstadt« zu führen, wo seine Mutter als Erzieherin  arbeitete.
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