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Alexandr A. Bogdanow - Der rote Planet (1908)
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2. In der Fabrik

Ungefähr fünfhundert Kilometer in zwei Stunden — die Geschwindigkeit des schnellsten Falken, die bisher nicht einmal von unseren elektrischen Bahnen erreicht wird. Unten entfalteten sich in raschem Wechsel seltsame Landschaften; merkwürdige Vögel schössen an uns vorbei. Die Sonnenstrahlen entflammten die Häuserdächer und die riesigen Kuppeln mir unbekannter Gebäude. Flüsse und Kanäle glitzerten wie Stahlbänder; weil sie an die Erde erinnerten, ruhten meine Augen auf ihnen aus. In der Ferne tauchte eine riesige Stadt auf, die rings um einen kleinen See lag und von einem Kanal durchschnitten wurde. Die Gondel verlangsamte ihren Flug und landete sanft neben einem hübschen kleinen Haus — Nettis Wohnstatt.
Netti kam uns erfreut entgegen. Er setzte sich in unsere Gondel, und wir flogen weiter. Die Fabrik lag an der anderen Seite des Sees.
Fünf gewaltige Gebäude, kreuzförmig angeordnet, alle von gleicher Bauweise: gläserne Gewölbe, auf einigen Dutzend dunkler Säulen ruhend, ebensolche gläserne Platten, abwechselnd durchsichtig und matt, als Wände zwischen den Säulen. Wir landeten beim zentralen und größten Komplex, vor dem zehn Meter breiten und zwölf Meter hohen Tor, das den gesamten Raum zwischen zwei Säulen einnahm. Die Einfahrt wurde von der Decke des Erdgeschosses durchschnitten, mehrere Schienenstränge führten durch das Tor hinein und verloren sich im Inneren.
Wir flogen durch die obere Hälfte der Toröffnung und gelangten gleich in den ersten Stock, wo uns Maschinenlärm entgegenschlug. Eigentlich war es gar kein Stockwerk, sondern ein Netz von Brücken, das von allen Seiten gigantische Maschinen überspannte. Einige Meter darüber sah ich ein zweites, ähnliches Netz, darüber ein drittes, viertes, fünftes; alle bestanden aus gläsernem Parkett, das mit Eisengittern durchzogen war, und alle waren durch eine Vielzahl von Aufzügen und Treppen verbunden. Jedes höhere Netz war kleiner als das vorherige.
Kein Rauch, kein Ruß, keine Gerüche, kein Staub. In reiner Luft arbeiteten die Maschinen harmonisch, von schwachem Licht übergössen, das jedoch überall hindrang. Aus Eisen, Aluminium, Nickel und Kupfer wurden Maschinenteile geschnitten, gesägt, geschliffen und gebohrt. Hebel, riesigen Stahlhänden ähnelnd, bewegten sich gleichmäßig und stufenlos, große Plattformen schoben sich mit elementarer Genauigkeit vorwärts und rückwärts, die Räder und Treibriemen schienen stillzustehen. Nicht die plumpe Kraft von Feuer und Dampf, sondern die feine, aber noch mächtigere elektrische Energie war die Seele dieses Furcht einflößenden Mechanismus.
Der Maschinenlärm klang beinahe melodisch, wenn sich das Ohr an ihn gewöhnt hatte, außer in den Momenten, da ein Hammer von mehreren tausend Tonnen Gewicht niedersauste und alles von dem Donnerschlag erzitterte.
Hunderte von Arbeitern liefen sicher zwischen den Maschinen umher, doch weder ihre Schritte noch ihre Stimmen waren in dem Meer der Geräusche zu hören. Ihre Mienen drückten keine gespannte Besorgnis aus, sondern ruhige Aufmerksamkeit; die Arbeiter schienen neugierige gelehrte Beobachter zu sein, die im Grunde mit alledem nichts zu tun hatten; es interessierte sie einfach, wie die riesigen Metallstücke, die auf Schienenplattformen unter die gläserne Kuppel glitten, in die eiserne Umarmung dunkler Ungeheuer gerieten, wie diese Ungeheuer sie sodann mit ihren festen Kiefern zerbissen, mit ihren schweren Pfoten zerquetschten, mit ihren glänzenden scharfen Krallen zerbohrten und zerkratzten und wie endlich die überreste dieses grausamen Spiels als elegante Maschinenteile auf der Rückseite des Gebäudes in leichten elektrisch betriebenen Waggons abtransportiert wurden. Es schien ganz natürlich zu sein, dass die Ungeheuer die kleinen großäugigen Betrachter, die vertrauensvoll zwischen ihnen spazierten, nicht anrührten. Sie wären eine zu armselige Beute gewesen, unwürdig der drohenden Kraft der Giganten. Die Faden, die das empfindliche Hirn des Menschen mit den unzerstörbaren Organen des Mechanismus verband, blieben unsichtbar.
»Ich habe Maschinen und Arbeiter gesehen«, sagte ich zu dem Techniker, der mich nach dem Verlassen des Gebäudes nach meinen Wünschen fragte, »doch die Arbeitsorganisation ist mir undurchschaubar geblieben. Danach wollte ich Sie fragen.«
Anstelle einer Antwort führte uns der Techniker in einen würfelförmigen Bau, der sich zwischen der zentralen Halle und einem Eckgebäude befand. Es gab noch drei weitere solche Bauten. An den schwarzen Wänden leuchteten viele Reihen weißer Zeichen. Ich beherrschte die Marssprache schon so weit, um die Zeichen zu entziffern. Auf der ersten Tafel stand:
»In der Maschinenproduktion beträgt der überschuss pro Tag 968757 Arbeitsstunden, davon 11325 Arbeitsstunden von Fachleuten.
In dieser Fabrik beträgt der überschuss 753 Arbeitsstunden, davon 29 Arbeitsstunden von Fachleuten.
Kein Mangel herrscht in folgenden Bereichen: Bergbau, Chemie, Erdarbeiten, Landwirtschaft... « In alphabetischer Reihenfolge wurden viele Arbeitsbereiche aufgeführt.
Auf der zweiten Tafel stand:
»Die Bekleidungsindustrie benötigt 392685 Arbeitsstunden pro Tag, davon 21380 Arbeitsstunden von Mechanikern für Spezialmaschinen und 7852 Arbeitsstunden von Arbeitsorganisatoren.
Die Schuhindustrie benötigt 79 360 Arbeitsstunden, davon...
Die Rechenzentrale benötigt 3078 Arbeitsstunden... « usw.
Die dritte und vierte Tafel sahen ähnlich aus. Unter den Arbeitsgebieten waren auch die von Erziehern für kleinere Kinder, Erziehern für Kinder mittleren Alters, Medizinern für Städte, Medizinern für ländliche Gebiete usw. aufgeführt.
»Warum herrscht nur in der Maschinenproduktion ein überschuss an Arbeitskräften, während überall sonst Kräfte fehlen?« fragte ich.
»Das ist leicht erklärlich«, antwortete Menni. »Mit Hilfe der Tabellen soll auf die Verteilung der Arbeit eingewirkt werden: Jeder kann sehen, wo und in welchem Umfang Arbeitskräfte fehlen. Bei gleicher oder annähernd gleicher Neigung zu zwei Beschäftigungen wählt man die aus, wo der Mangel größer ist. Und über den überschuss an Arbeitskräften braucht man nur in der Fabrik genaue Angaben zu machen, wo dieser überschuss vorhanden ist, damit jeder Arbeiter überlegen kann, ob er seinen Arbeitsplatz wechseln
soll.«
Während wir uns unterhielten, verschwanden einige Ziffern auf den Tafeln, worauf neue an ihre Stelle traten. Ich fragte, was das bedeute.
»Die Zahlen ändern sich jede Stunde«, erklärte Menni, »denn im Laufe einer Stunde haben mehrere tausend Menschen den Wunsch geäußert, den Arbeitsplatz zu wechseln. Die Rechenzentrale registriert das, und stündlich werden die Daten elektrisch überallhin weitergeleitet«
»Wie gewinnt denn die Zentrale die Daten?«
»Sie hat überall Agenturen, die den Warenbestand in den Lagern, die Produktivität der Unternehmen und die Zahl der Arbeiter registrieren. Auf diese Weise wird genau festgestellt, wie viel und was für bestimmte Zeit produziert werden soll und wie viel Arbeitsstunden dafür benötigt werden. Dann braucht die Zentrale nur noch den Unterschied zwischen Soll und Haben zu berechnen und mitzuteilen. Der Strom der Freiwilligen stellt das Gleichgewicht wieder her.«
»Und der Verbrauch von Produkten ist nicht beschränkt?«
»Nein, jeder nimmt, was er braucht und soviel er möchte.«
»Gibt es denn kein Geld, keine Zeugnisse über die geleisteten Arbeitsstunden oder etwas Ähnliches? Und keine Arbeitspflicht?«
»Nichts dergleichen. Wir leiden keinen Mangel an Arbeitskräften: Die Arbeit ist das natürliche Bedürfnis eines entwickelten, sozial denkenden Menschen, und jede Art maskierten oder offenen Zwangs ist völlig überflüssig.«
»Aber wenn der Verbrauch nicht beschränkt ist, kann es dann nicht zu Schwankungen kommen, die alle statistischen Berechnungen umstoßen?«
»Natürlich nicht. Ein einzelner mag zwei- oder dreimal soviel von einer Speise essen wie üblich, er kann an einem Tag zehn Anzüge tragen, aber eine Gesellschaft von drei Milliarden Menschen ist solchen Schwankungen nicht ausgesetzt. Bei so großen Zahlen werden Abweichungen ausgeglichen, und die Mittelwerte ändern sich sehr langsam, in strenger Kontinuität.«
»Auf diese Weise arbeitet Ihre Statistik fast automatisch — einfache Berechnungen und nichts weiter?«
»Durchaus nicht. Es gibt schon große Schwierigkeiten. Die Rechenzentrale muss wachsam die neuen Erfindungen und die veränderten Produktionsbedingungen verfolgen, um sie genau zu berücksichtigen. Wird in einem Bereich eine neue Maschine eingeführt, muss sogleich die Arbeit umgestaltet werden, das gilt für den Maschinenbau und manchmal sogar für die Gewinnung bestimmter Materialien, In einer Grube geht das Erz zur Neige, neue Lagerstätten werden erschlossen — wiederum sind mehrere Zweige betroffen: der Bergbau, das Verkehrswesen usw. All das muss berücksichtigt werden, und wenn auch präzise Berechnungen unmöglich sind, so gibt es doch annähernd richtige, und das ist gar nicht leicht, solange Daten aus direkter Beobachtung fehlen.«
»Bei solchen Schwierigkeiten muss man wohl stets einen gewissen Vorrat an Arbeitskräften haben?«
»Richtig — darauf beruht unser System. Vor zweihundert Jahren, als die Früchte der Arbeit gerade ausreichten, um die Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen, waren genaue Berechnungen notwendig, und man konnte die Arbeit nicht frei wählen. Es gab einen vorgeschriebenen Arbeitstag, und die Neigungen der Menschen konnten nicht immer berücksichtigt werden. Aber jede Erfindung, die der Statistik vorübergehend Schwierigkeiten bereitete, erleichterte die Hauptaufgabe — den übergang zur unbeschränkten Freiheit der Arbeit. Anfangs wurde der Arbeitstag verkürzt, und als auf allen Gebieten ein überangebot herrschte, wurde jegliche Verpflichtung abgeschafft. Beachten Sie, wie geringfügig der Mangel an Arbeitskräften ist: Tausende, Zehntausende, höchstens Hunderttausende Arbeitsstunden, nicht mehr — und das bei aber Millionen Arbeitsstunden, die in denselben Produktionszweigen benötigt werden.«
»Immerhin gibt es einen Mangel an Arbeitskräften«, wandte ich ein. »Er wird sicherlich durch den späteren überschuss gedeckt, nicht wahr?«
»Nicht nur dadurch. In Wirklichkeit wird die notwendige Arbeit so berechnet, dass zum Grundbedarf eine gewisse Menge hinzugefügt wird. In den wichtigsten Zweigen — bei der Produktion von Nahrung, Kleidung, beim Bau von Gebäuden, Maschinen — beträgt dieser Aufschlag sechs Prozent, bei den weniger wichtigen ein bis zwei Prozent. Auf diese Weise zeigen die Zahlen auf den Tabellen nur einen relativen, keinen absoluten Fehlbetrag an. Selbst wenn in den fehlenden Stunden nicht gearbeitet würde, heißt das nicht, dass die Gesellschaft Mangel leiden müsste.«
»Und wie viel Stunden wird gearbeitet, beispielsweise in dieser Fabrik?«
»Täglich anderthalb, zwei, zweieinhalb Stunden«, antwortete der Techniker. »Manche arbeiten weniger oder auch mehr, zum Beispiel der Genösse dort, der den großen Hammer bedient. Er ist von seiner Arbeit so begeistert, dass er sich während der ganzen Arbeitszeit des Betriebes nicht ablösen lässt, er arbeitet also sechs Stunden täglich.«
Ich rechnete diese Zahlen um, da auf dem Mars ein Tag länger dauert und in zehn Stunden eingeteilt ist. Demnach betrug die durchschnittliche Arbeitszeit fünf Stunden, die längste fünfzehn Stunden, Der Genösse am Hammer arbeitete also ebenso lange wie die Arbeiter in den schlimmsten kapitalistischen Unternehmen.
»Schadet es dem Genossen nicht, so lange zu arbeiten?« fragte ich.
»Vorläufig nicht«, antwortete Netti, »ein halbes Jahr lang darf er sich das Vergnügen noch erlauben, Ich habe ihn natürlich vor den Gefahren gewarnt. Er kann einen krampfartigen psychischen Anfall bekommen, der ihn mit unwiderstehlicher Kraft unter den Hammer zieht. Voriges Jahr hatten wir hier ebenfalls einen Mann, der starke Emotionen liebte. Nur dank einem glücklichen Zufall konnte der Hammer angehalten und der unfreiwillige Selbstmord verhindert werden. Das Verlangen nach solchen starken Emotionen ist noch keine Krankheit, aber es kann leicht dazu werden, wenn das Nervensystem vor übermüdung, seelischem Kummer oder wegen körperlicher Beschwerden angegriffen ist. Natürlich lasse ich die Genossen, die sich übermäßig einer eintönigen Arbeit hingeben, nicht aus den Augen.«
»Sollte der Genösse, von dem wir reden, seine Arbeitszeit nicht verkürzen, da es doch in der Maschinenproduktion zuviel Arbeitskräfte gibt?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Menni lächelnd. »Warum sollte gerade er das Gleichgewicht herstellen? Die Statistik verpflichtet niemanden zu irgend etwas. Jeder nimmt sie zur Kenntnis, muss sich jedoch nicht einzig nach ihr richten. Wenn Sie heute in dieser Fabrik arbeiten wollten, würde sich wahrscheinlich ein Platz für Sie finden, und in der zentralen Statistik würde sich der überschuss um ein bis zwei Stunden vergrößern, mehr nicht. Der Einfluss der Statistik äußert sich bei der Aufteilung der gesamten verfügbaren Arbeit, aber jede Person ist frei.«
Bei dem Gespräch hatten wir uns erholt, und wir fuhren mit der Besichtigung fort. Menni musste jedoch Heimfliegen, man hatte ihn ins Laboratorium gerufen.
Abends blieb ich bei Netti. Er hatte mir versprochen, mich am nächsten Tag in die »Kinderstadt« zu führen, wo seine Mutter als Erzieherin arbeitete.

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