Teil IV
1. Bei Werner
Ich lebte nun in der Anstalt bei Doktor Werner, einem alten Genossen von mir. Wie ich dorthin gekommen war, wusste ich nicht. Es war eine Irrenanstalt in einem nördlichen Gouvernement, ich kannte sie aus Werners Briefen. Sie lag einige Werst von der Gouvernementsstadt entfernt, war jämmerlich eingerichtet und stets schrecklich überfüllt. Der Verwalter galt als äußerst durchtrieben, das unzureichende medizinische Personal war von Arbeit überanstrengt. Wegen des Verwalters, wegen fehlender Baracken, die sehr widerstrebend errichtet wurden, wegen der Kirche, die hingegen mit großen Kosten ständig ausgebaut wurde, wegen der Besoldung des Personals und anderer Dinge führte Doktor Werner einen beharrlichen Krieg mit den sehr gleichgültigen Behörden. Die Kranken wurden vollends schwachsinnig, statt zu genesen, und starben wegen Luft- und Nahrungsmangel an Tuberkulose. Werner hätte natürlich längst seine Stellung aufgekündigt, wenn ihn nicht persönliche Umstände, die mit seiner revolutionären Vergangenheit zusammenhingen, zum Bleiben gezwungen hätten.
Mich berührten die Reize der ländlichen Heilanstalt in keiner Weise. Werner war ein Genösse und zögerte nicht, meinetwegen auf Bequemlichkeiten zu verzichten. In seiner großen Wohnung, die ihm als Chefarzt zustand, überließ er mir zwei Zimmer in einem anderen brachte er einen jungen Feldscher unter, in einem weiteren einen in der Illegalität lebenden Genossen, den er als Krankenwärter ausgab. Ich hatte natürlich nicht den Komfort wie auf dem Mars, und bei allem Zartgefühl der jungen Genossen war die Beaufsichtigung viel plumper und bemerkbarer als vorher, aber das war für mich völlig unwichtig.
Ebenso wie die marsianischen Ärzte behandelte mich Doktor Werner kaum, er gab mir lediglich hin und wieder ein Schlafmittel und sorgte hauptsächlich dafür, dass ich es bequem und ruhig hatte. Jeden Morgen und jeden Abend besuchte er mich nach dem Bad, das die fürsorglichen Genossen für mich richteten, aber er kam nur für eine Minute und beschränkte sich auf die Frage, ob ich etwas brauche. Ich hatte mir in den langen Monaten meiner Krankheit das Reden völlig abgewöhnt und antwortete nur »nein« oder erwiderte gar nichts. Aber seine Aufmerksamkeit rührte mich, zudem meinte ich, dass ich eine solche Behandlung gar nicht verdiene und ihm das mitteilen müsste. Schließlich nahm ich meine Kräfte zusammen und sagte ihm, ich sei ein Mörder und Verräter, und meinetwegen werde die ganze Menschheit umkommen. Er erwiderte nichts, sondern lächelte nur und kam daraufhin öfter zu mir.
Allmählich wirkte der Wechsel der Umgebung wohltuend auf mich. Der Schmerz verkrampfte mein Herz seltener, die Beklemmung ließ nach, meine Gedanken wurden immer beweglicher und klarer. Ich konnte das Zimmer verlassen, im Park und im nahen Wäldchen Spazierengehen. Ein Genosse war ständig in der Nähe; das war unangenehm, aber ich begriff, dass man einen Mörder nicht frei herumlaufen lassen konnte. Zuweilen unterhielt ich mich mit meinen Wächtern, natürlich über unverfängliche Themen.
Es war zeitiges Frühjahr, und die erwachende Natur linderte meine quälenden Erinnerungen; wenn ich die Vögel zwitschern hörte, fand ich sogar eine traurige Befriedigung bei dem Gedanken, dass sie am Leben bleiben würden und nur die Menschen zum Untergang verdammt wären. Einmal begegnete mir am Wäldchen ein Geisteskranker, der mit einem Spaten zur Feldarbeit ging. Er stellte sich eiligst vor, wobei er sich mit ungewöhnlichem Stolz als Wachtmeister ausgab. Der Mann litt an Größenwahn, und ein Wachtmeister war offensichtlich der höchste Dienstrang, den er in seinem Leben kennen gelernt hatte. Zum ersten Mal während meiner Krankheit musste ich unwillkürlich lachen. Ich spürte mein Vaterland, und wie Antäus sog ich neue Kräfte aus der heimatlichen Erde. |
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