Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Alexandr A. Bogdanow - Der rote Planet (1908)
http://nemesis.marxists.org

2. Der Abschied

Und dennoch kam der Tag, an den ich nicht ohne Verwünschungen denken kann. Der schwarze Schatten der unvermeidlichen, verhassten Trennung legte sich zwischen Netti und mich.
Mit ruhiger Miene erklärte Netti, sie müsse mit einer großen Expedition, die unter Mennis Leitung ausgerüstet worden war, auf die Venus fliegen. Als sie sah, wie verstört ich auf diese Nachricht reagierte, fügte sie hinzu: »Die Trennung wird nicht lange dauern. Bei einem Erfolg, an dem ich nicht zweifle, kehrt ein Teil der Expedition sehr bald zurück — darunter auch ich.«
Dann erläuterte sie mir, worum es ging. Auf dem Mars versiegten die Vorräte an radioaktiver Materie, die als Treibstoff für interplanetare Flüge und als Energie zur Zerlegung und Synthese aller Elemente diente. Es gab kein Mittel, diese Materie zu regenerieren. Die Venus, die viermal jünger ais der Mars ist, hatte nach unzweifelhaften Anzeichen riesige Radiumlager. Auf einer Insel, die inmitten des größten Ozeans lag und von den Marsbewohnern den Namen »Insel der heißen Stürme« erhalten hatte, waren die reichsten Funde entdeckt worden, und dort wollte man unverzüglich mit dem Abbau beginnen. Zuerst musste man jedoch sehr hohe und feste Mauern errichten, um die Arbeiter vor dem feuchten und heißen Wind zu schützen, der in seiner Heftigkeit die Sandstürme in unseren Wüsten weit übertrifft. Deshalb brauchte man eine Expedition von zehn Sternschiffen mit fast zweitausend Menschen, darunter nur hundert Chemiker, die anderen waren Bauspezialisten. Die besten Wissenschaftler und die erfahrensten Ärzte wurden hinzugezogen, denn gesundheitsschädlich waren neben dem Klima auch die Strahlen der radioaktiven Materie. Netti erklärte, sie hätte sich nicht weigern können, an der Expedition teilzunehmen. Man beabsichtigte jedoch, bei gutem Gelingen der Arbeiten schon nach drei Monaten ein Sternschiff mit Nachrichten und gewonnenem Material zurückzuschicken. Mit diesem Sternschiff sollte auch Netti heimkehren, sie würde also nur zehn bis elf Monate fort sein.
Ich konnte nicht verstehen, warum Netti unbedingt mitfliegen musste. Sie sagte mir, das Unternehmen sei äußerst wichtig, und es sei auch für meine Aufgabe von großer Bedeutung, da ein Erfolg häufige Flüge zur Erde ermögliche. Jeder Fehler bei der medizinischen Betreuung aber könne die Expedition von Anfang an scheitern lassen. Ali das klang überzeugend — ich hatte schon erfahren, dass Netti als bester Arzt für Fälle galt, die den Rahmen bisheriger medizinischer Erfahrung sprengten —, und dennoch schien das nicht alles zu sein. Etwas blieb unausgesprochen.
An einem zweifelte ich nicht — an Netti und ihrer Liebe. Wenn sie sagte, sie müsse fliegen, so war das notwendig. Und wenn sie mir den Grund nicht anvertraute, durfte ich sie nicht ausfragen. Ich sah Angst und Schmerz in ihren herrlichen Augen, als sie sich einmal unbeobachtet glaubte.
»Enno wird dir eine gute Freundin sein«, sagte Netti mit traurigem Lächeln, »und vergiss Nella nicht, sie liebt dich meinetwegen. Nella ist klug und erfahren, sie wird dir in schweren Stunden beistehen. Du darfst nur an das eine denken: dass ich bald wiederkomme.«
»Ich glaube an dich, Netti«, sagte ich, »und deshalb glaube ich an mich, den Mann, den du liebst.«
»Du hast recht, Lenni. Ich bin überzeugt, dass du dir bei allen Schicksalsschlägen und Katastrophen treu bleiben wirst, du wirst stärker und reiner daraus hervorgehen.«
Unsere Liebkosungen beim Abschied waren von Zukunftsangst überschattet, Netti weinte.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur