5. Schlussfolgerungen
Aus dem Wirrwarr von Erinnerungen und Gedanken, der in meiner Seele herrschte, als ich sah, dass sich Netti auf der Erde befand und mit mir treffen wollte, zog ich anfangs nur eine klare Schlussfolgerung. Der Gedanke kam gleichsam von selbst, ohne jeden logischen Prozess, und er lag außerhalb jeden Zweifels. Aber ich konnte mich nicht darauf beschränken, ihn einfach und möglichst bald zu verwirklichen. Ich wollte ihn mir und anderen ausreichend und unmissverständlich begründen. Besonders lag mir daran, zu verhindern, dass Netti mich falsch verstünde und für einen Gefühlsausbruch hielte, was logische Notwendigkeit war, was unvermeidlich aus meiner ganzen Geschichte hervorging.
Deshalb musste ich vor allem folgerichtig meine Geschichte erzählen — den Genossen, mir, Netti... Dieses Manuskript ist die Frucht dieses Entschlusses. Werner, der es als erster lesen wird — einen Tag, nachdem Wladimir und ich verschwunden sind —, wird dafür sorgen, dass man es druckt — natürlich mit allen notwendigen Veränderungen, welche die Konspiration gebietet. Das ist meine einzige Bitte an ihn. Ich bedauere sehr, dass ich ihm zum Abschied nicht die Hand drücken kann.
Als ich diese Erinnerungen aufzeichnete, erhellte sich die Vergangenheit, meine Rolle und meine Lage zeichneten sich klar in meinem Bewusstsein ab. Bei gesundem Verstand und mit sicherem Gedächtnis kann ich jetzt alle Schlussfolgerungen ziehen.
Es ist völlig unbestreitbar, dass die Aufgabe, die mir auferlegt wurde, meine Kräfte überstieg. Worin liegt die Ursache für mein Versagen? Und wie ist der Fehler des klarsichtigen, großartigen Psychologen Menni zu erklären, der einen solchen Missgriff getan hat?
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit Menni, das in der glücklichen Zeit stattfand, als mir Nettis Liebe grenzenloses Vertrauen in meine Kräfte verlieh. Ich fragte ihn: »Wie sind Sie darauf gekommen, aus der Masse der unterschiedlichen Menschen, denen Sie bei Ihrer Suche begegnet sind, mich als den geeignetsten Vertreter für diese Mission auszuwählen?«
»Die Auswahl war nicht so groß«, antwortete er. »Wir mussten uns von vornherein auf Vertreter des wissenschaftlich-revolutionären Sozialismus beschränken; alle anderen Weltanschauungen stehen unserer Welt weit ferner.«
»Das sehe ich ein. Aber konnten Sie nicht unter den Proletariern, der Basis und Hauptkraft unserer Bewegung, leichter jemanden finden?«
»Ja, es wäre richtiger gewesen, dort zu suchen. Aber... den Proletariern fehlt gewöhnlich etwas, was ich für unumgänglich halte: eine allseitige Bildung, die auf der Höhe Ihrer Kultur steht. Das brachte mich dazu, unter den Intellektuellen zu suchen.«
Mennis Pläne waren nicht in Erfüllung gegangen. Hätte er also niemanden nehmen sollen, da der Unterschied beider Kulturen für einen Einzelmenschen eine unüberbrückbare Kluft bildet, die nur die Gesellschaft überwinden kann? Ein solcher Gedanke wäre für mich sehr tröstlich gewesen, aber mir blieben ernste Zweifel. Ich meine, Menni hätte seine Bedenken Arbeitern gegenüber überprüfen sollen.
Warum war ich denn gescheitert?
Beim ersten Male war eine Unmenge fremder Eindrücke auf mich eingestürzt, die grandiose Vielfalt überflutete mein Bewusstsein und unterspülte die Ufer. Mit Nettis Hilfe überlebte und bewältigte ich die Krise. Aber hat nicht die erhöhte Sensibilität und die verfeinerte Wahrnehmungsfähigkeit, die Geistesarbeitern eignet, diese Krise verstärkt? Hätte nicht ein Mensch mit einer etwas primitiveren, weniger komplizierten, dafür aber organisch gefestigteren und stabileren Natur alles leichter durchgestanden? Wäre für ihn der übergang nicht weniger schmerzhaft gewesen? Sicherlich wäre es für einen wenig gebildeten Proletarier nicht so schwer gewesen, in eine neue, höhere Existenzform zu gelangen. Er hätte zwar mehr lernen müssen, dafür aber hätte er weniger umzulernen brauchen, und gerade das ist das Schwerste. Menni ist in einen Fehler des Kalküls verfallen, indem er dem Bildungsgrad mehr Bedeutung beimaß als der Fähigkeit zu kultureller Entwicklung.
Beim zweiten Male zerbrachen meine seelischen Kräfte am Charakter der Kultur, der ich mit meinem ganzen Wesen angehören wollte: Mich bedrückte ihre Höhe, das Ausmaß ihrer sozialen Bindungen, die Reinheit und Eindeutigkeit der Beziehungen zwischen den Menschen. Sternis Rede, in der die Unvereinbarkeit zweier Lebenstypen auf plumpe Weise dargelegt wurde, war lediglich ein Vorwand, nur der letzte Anstoß, der mich in den dunklen Abgrund stürzte. Der Widerspruch zwischen meinem Empfinden und dem sozialen Milieu — in der Fabrik, in der Familie, im Umgang mit Freunden — war für mich un-überwindbar. Und wiederum: War dieser Widerspruch nicht weitaus stärker für einen revolutionären Intellektuellen, der stets neunzig Prozent seiner Arbeit entweder in der Abgeschiedenheit oder unter Bedingungen einseitiger Ungleichheit als Lehrer und Leiter von anderen vollbracht hatte — also in der Absonderung seiner Person? Wäre der Widerspruch nicht schwächer und milder für einen Menschen, der neunzig Prozent seines Arbeitslebens in einer zwar primitiven und unentwickelten, dafür jedoch kameradschaftlichen Umgebung verbringt, mit der etwas groben, aber wirklichen Gleichheit aller? Das war wohl so, und Menni sollte seinen Versuch erneuern, aber mit einem anderen Menschen,
Mir hingegen blieb, was zwischen zwei Katastrophen gewesen war, was mir Energie und Mut für einen langen Kampf gab, was mir auch jetzt erlaubt, ohne ein Gefühl der Erniedrigung meine Schlüsse zu ziehen. Das ist — Nettis Liebe.
Zweifellos war Nettis Liebe ein Missverständnis, ein Irrtum ihres edlen und leidenschaftlichen Herzens. Aber ein solcher Irrtum war möglich — das kann niemand bestreiten und ändern. Und das verbürgt die wirkliche Nähe beider Welten, ihr künftiges Verschmelzen zu einer einzigen schönen und harmonischen Welt, wie es sie bisher nie gab.
Und ich selber... Hier gibt es kein Resultat. Das neue Leben ist mir unzugänglich, und in das alte will ich nicht zurück. Ich gehöre ihm weder mit meinem Verstand noch mit meinem Gefühl an. Der Ausweg ist klar.
Ich muss die Aufzeichnungen beenden. Mein Helfer wartet im Park auf mich, da ist sein Signal. Morgen werden wir beide weit fort sein, auf dem Wege dorthin, wo das Leben brodelt und überkocht, wo es leicht ist, die verhasste Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft zu verwischen. Leben Sie wohl, Werner, mein alter, guter Genosse!
Es lebe das neue, bessere Leben! Ich grüße sein lichtes Erscheinungsbild, meine Netti! |
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