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Alexandr A. Bogdanow - Der rote Planet (1908)
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4. Das Kuvert

Die heiße Sommersonne hatte gleichsam das Eis geschmolzen, das auf unserem Lande gelastet hatte. Das Leben erwachte, und die Vorzeichen eines neuen Gewitters flammten schon am Horizont auf, dumpfes Grollen drang aus den unteren Volksschichten. Die Sonne wärmte meine Seele, und das Erwachen der Natur stärkte meine Kräfte; ich spürte, dass ich bald gesund sein würde wie nie zuvor in meinem Leben.
In diesem verworren-lebensfrohen Zustand wollte ich mich nicht an die Vergangenheit erinnern, und der Gedanke war mir angenehm, dass ich von der ganzen Welt, von allen vergessen sei. Ich gedachte, erst dann zu den Genossen zurückzukehren, wenn niemandem in den Sinn käme, mich über meine jahrelange Abwesenheit zu befragen — wenn alle vollauf beschäftigt wären und meine Vergangenheit für lange in den stürmischen Wogen einer neuen Flut versinken würde. Entdeckte ich dennoch Dinge, die Zweifel an diesen Plänen weckten, stiegen Angst und Unruhe in mir auf, und ich verspürte Feindseligkeit gegenüber allen, die sich noch an mich entsinnen konnten.
Als Werner eines Sommermorgens aus der Anstalt zurückgekommen war, ging er nicht wie üblich in den Park, um sich zu erholen, weil ihn die Visiten sehr ermüdeten, sondern kam zu mir und fragte mich ausführlich nach meinem Befinden. Offensichtlich prägte er sich meine Antworten ein. Das alles war etwas ungewöhnlich, und anfangs dachte ich, er hätte unsere kleine Verschwörung entdeckt. Aus dem Gespräch ersah ich jedoch bald, dass er nichts davon wusste. Dann ging er — wiederum nicht in den Park, sondern in sein Arbeitszimmer, und erst eine halbe Stunde später sah ich, wie er seine geliebte schattige Allee entlangspazierte. Ich achtete auf solche Kleinigkeiten, weil sonst nichts geschah. Nach verschiedenen Vermutungen gelangte ich zu der wahrscheinlichsten Annahme, Werner wollte jemandem einen Bericht über meinen Gesundheitszustand schreiben, offensichtlich auf dessen Bitte hin. Seine Post wurde jeden Morgen in sein Arztzimmer in der Anstalt gebracht, er musste einen Brief mit einer Anfrage über mich erhalten haben.
Von wem war der Brief? Worum ging es? Ich musste es unbedingt und unverzüglich erfahren. Werner zu fragen wäre zwecklos gewesen — aus irgendeinem Grunde würde er mir das verheimlichen, sonst hätte er es von selbst, ohne jede Frage erzählt. Wusste Wladimir etwas? Nein, er schien nichts zu wissen. Ich überlegte, wie ich zur Wahrheit vordringen könnte.
Wladimir war bereit, mir jeden Dienst zu erweisen. Meine Neugier hielt er für völlig berechtigt und Werners Verschlossenheit für unbegründet. Ohne Bedenken durchsuchte er Werners Räume im Haus und das Arztzimmer in der Anstalt, jedoch erfolglos.
»Entweder trägt er den Brief bei sich, oder er hat ihn zerrissen und weggeworfen«, schloss Wladimir.
Ich fragte: »Wohin wirft er gewöhnlich die zerrissenen Briefe?«
»In den Papierkorb, der im Arztzimmer unter dem Tisch steht.«
»Gut, dann bringen Sie mir alles, was Sie in dem Korb finden.«
Wladimir ging und kam bald zurück. »Dort sind keine Briefe«, teilte er mir mit, »aber ein Kuvert habe ich gefunden. Dem Stempel nach ist der Brief erst heute angekommen.«
Ich nahm das Kuvert und betrachtete die Adresse. Der Böden wankte, die Wände stürzten auf mich.
Nettis Handschrift!

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