3. Die Nacht 
  Mennis Wohnung nahm die gesamte vierte Etage eines großen Hauses  ein, das sich von den Häuschen am Stadtrand' abhob. Niemand empfing  uns. Die Zimmer, durch die wir schritten, waren leer, und beim hellen  Licht der elektrischen Lampen wirkte diese Leere besonders unheimlich  und unnatürlich. Im dritten Zimmer blieb Menni stehen und zeigte auf  eine Tür. 
    »Dort befindet sich die Fluggondel, mit der wir gleich  zum Sternschiff fliegen werden. Vorher muss ich mich jedoch ein wenig  verwandeln. In dieser Maske könnte ich schwerlich die Gondel lenken.« 
    Er knöpfte den Kragen auf und zog eine kunstvoll gefertigte Maske von  seinem Kopf, die wir alle bisher für sein Gesicht gehalten hatten. Ich  war verblüfft von dem Anblick, der sich mir bot. Mennis Augen waren  zwei glotzende Kugeln, weit größer als bei einem Menschen mit  fortgeschrittener Basedowscher Krankheit. Sogar im Vergleich zu dieser  unnatürlichen Augengröße waren die Pupillen erweitert, was beinahe  furchterregend aussah. Der obere Teil des Gesichts und des Kopfes waren  so breit, wie es für solche Augen notwendig war, dagegen war die untere  Gesichtshälfte, übrigens ohne den Anflug eines Bartes, vergleichsweise  schmal. Alles zusammen machte den Eindruck äußerster Originalität, der  Kopf war zwar missgestalt, wirkte aber nicht wie eine Karikatur. 
    »Sie sehen, mit was für einem Äußeren mich die Natur bedacht hat«,  sagte Menni. »Und Sie werden verstehen, dass ich mein Gesicht verbergen  muss, schon um die Leute nicht zu erschrecken, von den Erfordernissen  der Konspiration gar nicht zu reden. Aber Sie werden sich an meine  Hässlichkeit gewöhnen müssen, denn Sie werden viel Zeit mit mir  verbringen.« 
    Er öffnete die Tür zum nächsten Zimmer und schaltete das Licht ein. Es  war ein großer Saal. In seiner Mitte lag ein kleines, recht breites  Boot. Seitenwände und Boden waren gläsern und hatten stählerne  Einfassungen, das durchsichtige Glas von zwei Zentimeter Dicke war  offenbar sehr stabil. über dem Bug sollten zwei flache Kristallplatten,  die im spitzen Winkel zueinander standen, die Luft durchschneiden und  die Passagiere beim schnellen Flug vor dem Wind schützen. Der Motor  nahm den mittleren Teil des Bootes ein, die Luftschraube mit drei  Flügelblättern von einem halben Meter Länge befand sich am Heck. Vorn  war das Boot mit einem dünnen transparenten Schutzdach bedeckt, das mit  leichten Stahlstiften an den Metalleinfassungen der Seitenwände  befestigt war. Bei näherem Betrachten wirkte diese Fluggondel  geschmackvoll wie ein großes Spielzeug. 
    Menni befahl mir, auf einer Seitenbank Platz zu nehmen, bevor er das  elektrische Licht löschte und das riesige Fenster öffnete. Er selbst  setzte sich vorn vor den Motor und warf einige Säcke Ballast hinaus,  die auf dem Boden lagen. Dann drückte er auf einen Hebel. Die Gondel  schwankte, erhob sich langsam und glitt durch das geöffnete Fenster  hinaus. 
    »Dank der Minus-Materie brauchen wir für unsere Flugapparate keine  zerbrechlichen plumpen Flügel«, bemerkte Menni. 
    Ich saß wie angeschmiedet auf der Bank und wagte nicht, mich zu  bewegen. Das Rauschen der Schraube wurde immer vernehmlicher, kalte  Winterluft gelangte unter das Schutzdach und erfrischte mein glühendes  Gesicht, drang jedoch nicht unter meine warme Kleidung. über uns  blinkten Tausende von Sternen, sie zogen dahin, während unten .. . Ich  sah durch den durchsichtigen Boden der Gondel, wie die schwarzen Flecke  der Häuser kleiner wurden und die hellen Pünktchen der elektrischen  Straßenlaternen flimmerten. Die Hauptstadt entschwand den Blicken, tief  unten schimmerten verschneite Ebenen in trübem bläulichem Licht. Das  leichte Schwindelgefühl, das ich erst kaum spürte, wurde immer stärker,  und ich schloss die Augen, um mich davon zu befreien. 
    Die Luft wurde immer dünner, das Rauschen der Schraube und das Pfeifen  des Luftzuges klangen immer höher — offenbar flogen wir schneller. Bald  unterschied mein Ohr unter all den Lauten einen feinen, sehr  gleichmäßigen silbrigen Ton — die gläserne Bugwand der Gondel  vibrierte, während sie die Luft durchschnitt. Wunderbare Musik erfüllte  mein Inneres, meine Gedanken entglitten mir, ich empfand nur eine  elementar-leichte und freie Bewegung, die mich vorwärts trug, vorwärts  in den endlosen Raum. 
    »Vier Kilometer pro Minute«, sagte Menni. 
    Ich öffnete die Augen und fragte: »Ist es noch weit?« 
    »Ungefähr eine Stunde. Wir landen auf einem vereisten See.« 
    Wir befanden uns in einer Höhe von mehreren hundert Metern, die Gondel  flog waagerecht, ohne zu sinken oder zu steigen. Meine Augen gewöhnten  sich an die Finsternis, und ich konnte alles deutlich erkennen. Unter  uns breitete sich eine Gegend mit Seen und Granitfelsen aus. Die Felsen  hoben sich an einigen Stellen schwarz vom Schnee ab. Zwischen ihnen  klebten kleine Dörfer. 
    Linkerhand blieb das Schneefeld eines vereisten Meerbusens hinter uns  zurück, rechterhand lagen die weißen Ebenen eines riesigen Sees. In  dieser leblosen Winterlandschaft sollte meine Verbindung zur alten Erde  zerreißen. Und auf einmal spürte ich — kein Zweifel, nein, es war die  echte Gewissheit —, dass das ein Abschied für immer sein würde. 
    Die Gondel sank langsam zwischen Felsen nieder und schwebte in die  kleine Bucht eines Gebirgssees. Ein dunkles Gebilde erhob sich aus dem  Schnee. Weder Fenster noch Türen waren zu sehen. Eine Metallwand wurde  langsam beiseitegeschoben und gab eine dunkle Öffnung frei, in die  unsere Gondel hineinflog. Danach schloss sich die Wand wieder. Der  Raum, in dem wir uns befanden, erstrahlte in elektrischem Licht. Es war  ein großer, länglicher Saal ohne Möbel, auf dem Boden lagen lediglich  Ballastsäcke. 
    Menni befestigte die Gondel an speziell dafür bestimmten Pfosten und  öffnete eine Seitentür. Wir betraten einen schwach beleuchteten Gang  mit einer Reihe von Türen. Ich wurde in ein Zimmer geführt. 
    »Das ist Ihre Kajüte«, sagte Menni. »Machen Sie es sich bequem, ich  muss in den Maschinenraum. Wir sehen uns morgen früh.« 
    Ich war froh, allein zu sein. Trotz der Erregung infolge der  merkwürdigen Erlebnisse des Abends war ich ermattet. Ich rührte das  Abendessen auf dem Tisch nicht an, sondern löschte gleich die Lampe und  legte mich ins Bett. Verworrene Gedanken schwirrten durch meinen Kopf.  Ich mühte mich krampfhaft einzuschlafen, doch es gelang mir lange  nicht. Schließlich wurde mein Bewusstsein trübe, flüchtige Bilder  drängten sich mir vor die Augen, die Umgebung entschwand, und schwere  Träume bemächtigten sich meines Hirns. 
    Die Kette der Träume endete mit einem Alptraum. Ich stand an einem  schwarzen Abgrund, auf dessen Boden Sterne glänzten, und Menni wollte  mich hinunterstoßen. Er sagte, ich brauche die Schwerkraft nicht zu  fürchten, nach einigen hunderttausend Jahren Fall würden wir zum  nächsten Stern gelangen. Ich stemmte mich gegen ihn, stöhnte in  qualvollem Ringen auf und erwachte. 
    Zartes blaues Licht füllte mein Zimmer. Menni saß auf dem Bett und  neigte sich zu mir. Menni? Ja, er, aber gespenstisch-seltsam und  irgendwie anders. Er schien kleiner geworden zu sein, seine Augen  traten nicht so stark hervor, er lächelte gütig und hatte nicht den  kalten und unerschütterlichen Gesichtsausdruck wie eben im Traum. 
    »Wie gut Sie aussehen«, sagte ich benommen. 
    Er legte seine Hand auf meine Stirn. Es war eine kleine, zarte Hand.  Ich schloss wieder die Augen, und mit dem absurden Gedanken, dass ich  diese Hand küssen müsste, sank ich in einen ruhigen, tiefen Schlaf.  | 
  
    
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