10. Der Mord
Ich war so tief bestürzt, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ein kalter eiserner Ring umklammerte mein Herz, und ich sah deutlich Sternis vierschrötige Gestalt und sein unerbittlich hartes Gesicht. Alles andere verlor sich in einem dunklen Chaos.
Wie ein Automat schritt ich aus der Bibliothek und setzte mich in meine Gondel. Wegen des eisigen Zugwinds musste ich mich fest in den Mantel hüllen. So kam mir ein Gedanke, der sich gleich in mein Hirn bohrte: Ich muss allein sein. Als ich daheim angekommen war, führte ich ihn aus - mechanisch, als handelte nicht ich, sondern ein anderer an meiner Stelle.
Ich schrieb an die Fabrikverwaltung, dass ich eine Zeitlang der Arbeit fernbleiben würde. Enno erklärte ich, dass wir uns vorläufig trennen müssten. Sie blickte mich forschend an und erblasste, sagte jedoch kein Wort. Erst beim Abflug fragte sie, ob ich nicht Nella sehen möchte. Ich verneinte das und küsste Enno zum letzten Mal.
Dann verfiel ich in eine Erstarrung. Ich spürte den Schmerz des kalten eisernen Ringes, und Bruchstücke von Gedanken irrten durch meinen Kopf. Von Nettis und Mennis Reden war eine blasse, gleichgültige Erinnerung geblieben — als wäre das alles unwichtig und uninteressant. Einmal nur blitzte es auf: Deshalb also ist Netti auf die Venus geflogen, denn von dieser Expedition hängt alles ab! Scharf und deutlich traten einzelne Worte und ganze Sätze aus Sternis Rede hervor: »Wir können nur das eine wählen... diese embryonalen Menschen... völlige Ausmerzung der Erdbevölkerung... er ist schon an tiefer psychischer Zerrüttung erkrankt... « Aber das alles ergab keinen Zusammenhang, keine Schlussfolgerung. Manchmal sah ich die Ausrottung der Menschheit als Tatsache, aber in verworrener, abstrakter Form. Der Schmerz verstärkte sich, und mir wurde bewusst, dass ich an dieser Ausrottung schuld war. Dann durchfuhr es mich, dass noch nichts geschehen sei und vielleicht nichts geschehen werde. Der Schmerz ließ jedoch nicht nach, und mein Hirn stellte fest: Alle werden sterben... auch Anna Nikolajewna... und der Arbeiter Wanja... und Netti, nein, Netti bleibt am Leben, sie ist ein Marsmensch... aber alle anderen werden sterben... und man wird nicht einmal grausam handeln, denn die Menschen werden kaum leiden ... ja, das hat Sterni gesagt... und alle werden sterben, weil ich krank war... also bin ich schuld. Diese Gedanken gefroren und blieben in meinem Gedächtnis haften, kalt, unbeweglich. Und die Zeit blieb mit ihnen stehen.
Es war eine Fieberphantasie, ein quälendes, langwährendes, auswegloses Traumbild. Die Phantome existierten nicht außerhalb meiner Einbildungskraft, ein schwarzes Phantom hatte sich in meiner Seele eingenistet. Und es blieb dort, weil die Zeit stillstand.
Der Gedanke an Selbstmord tauchte auf und setzte sich in mir fest, bezwang aber nicht mein Bewusstsein. Ein Selbstmord erschien mir nutzlos und traurig: Konnte er den schwarzen Schmerz vertreiben, der alles war? Ich vertraute einem Selbstmord nicht, weil ich nicht an meine Existenz glaubte. Die Beklemmung, die Kälte, das verhasste Alles existierten, aber mein Ich verlor sich darin als etwas Bedeutungsloses, Nichtiges, Unendlich-Kleines. Das Ich war nicht vorhanden.
In manchen Minuten wurde mein Zustand so unerträglich, dass ich den unwiderstehlichen Drang verspürte, mich auf alles zu stürzen, auf alles einzuschlagen, alles zu zerstören, zu vernichten. Aber ich wusste noch, dass das sinnlos und kindisch gewesen wäre; ich biss die Zähne zusammen und bezähmte mich.
Immer wieder musste ich an Sterni denken. Er war gleichsam das Zentrum aller Beklemmung und allen Schmerzes. Ganz allmählich, sehr langsam, aber ununterbrochen formte sich um dieses Zentrum herum eine Absicht, die dann zu einem klaren und unwiderruflichen Entschluss wurde: Ich muss Sterni sehen! Warum ich ihn sehen wollte, konnte ich nicht sagen. Es war nur unbezweifelbar, dass ich ihn aufsuchen würde. Und es war zugleich quälend schwer, aus meiner Lethargie zu erwachen, um den Entschluss auszuführen.
Endlich kam der Tag, an dem meine Energie ausreichte, um diesen inneren Widerstand zu brechen. Ich setzte mich in die Gondel und flog zu Sternis Observatorium. Unterwegs versuchte ich zu überlegen, worüber ich mit ihm sprechen wollte, aber die Kälte in meinem Herzen und der Frost in der Natur erstickten meine Gedanken. Nach drei Stunden war ich angelangt.
Nachdem ich den großen Saal des Observatoriums betreten hatte, sagte ich zu einem von Sternis Gehilfen: »Ich muss Sterni sehen.« Der Mann ging fort, kehrte nach einem Augenblick zurück und erklärte mir, Sterni wäre mit der überprüfung von Instrumenten beschäftigt und käme in einer Viertelstunde, ich sollte es mir in seinem Arbeitszimmer bequem machen.
Man führte mich in den Raum, ich setzte mich in den Schreibtischsessel und wartete. Das Zimmer war voller Geräte und Maschinen, die ich nur zum Teil kannte. Rechts von meinem Sessel stand ein kleines Instrument auf einem schweren dreibeinigen Stativ, auf dem Schreibtisch lag ein aufgeschlagenes Buch über die Erde und ihre Bewohner. Unwillkürlich begann ich zu lesen, aber nach den ersten Worten hörte ich auf und verfiel in einen Zustand, der meiner vorherigen Lethargie ähnelte. Neben der gewohnten Beklemmung verspürte ich noch eine krampfhafte Erregung. So verging eine gewisse Zeit.
Im Korridor erklangen schwere Schritte, Sterni kam mit ruhig-sachlicher Miene ins Zimmer, ließ sich in einen Sessel an der anderen Seite des Schreibtischs nieder und sah mich fragend an. Ich schwieg. Er wartete ungefähr eine Minute, ehe er sich an mich wandte: »Womit kann ich dienen?«
Ich schwieg weiter und betrachtete ihn unverwandt wie einen toten Gegenstand. Er zuckte kaum merklich die Schultern und rekelte sich abwartend im Sessel.
»Sie sind Nettis Mann... «, brachte ich endlich angestrengt hervor.
»Ich war Nettis Mann«, berichtigte er mich in gelassenem Tonfall. »Wir haben uns vor langer Zeit getrennt.«
»Die Ausrottung... wird nicht... grausam sein«, fuhr ich fort, halbbewusst den Gedanken wiederholend, der sich in meinem Hirn eingegraben hatte. »Ach, das ist es«, sagte er, ohne den Tonfall zu ändern. »Davon ist doch jetzt keine Rede mehr. Wie Sie wissen, hat man eine andere vorläufige Entscheidung getroffen.«
»Eine vorläufige Entscheidung... «, wiederholte ich automatisch.
»Was meinen damaligen Plan betrifft«, fuhr Sterni fort, »so habe ich ihn nicht völlig verworfen, aber ich muss eingestehen, dass ich ihn heute nicht mehr so überzeugt verteidigen würde.«
»Nicht völlig verworfen... «, wiederholte ich.
»Ihre Genesung und Ihre Teilnahme an unserer gemeinsamen Arbeit haben zum Teil meine Argumente zerstört... «
»Ausrottung... zum Teil«, unterbrach ich ihn. All meine Beklemmung und Qual mussten sich deutlich in meiner unbewussten Ironie spiegeln. Sterni erblasste und sah mich beunruhigt an. Wir schwiegen.
Mit unerhörter Kraft zog sich der kalte Ring des Schmerzes plötzlich zusammen. Ich klammerte mich an die Sessellehne, um nicht aufzuschreien. Meine Hände ergriffen krampfhaft etwas Festes und Kaltes. Es war ein schwerer Gegenstand. Der elementare, unbezwingbare Schmerz wurde zur wütenden Verzweiflung, Ich sprang auf, holte kräftig aus und schlug zu. Ein Bein des Stativs traf Sternis Schläfe. Ohne einen Schrei, ohne ein Stöhnen neigte sich der leblose Körper zur Seite. Ich warf meine Waffe fort, sie schlug klirrend an einen Apparat. Alles war beendet.
Ich ging hinaus und sagte dem ersten Mann, dem ich begegnete: »Ich habe Sterni getötet.« Er erbleichte und lief ins Arbeitszimmer, wo er sich offenbar gleich davon überzeugte, dass Hilfe nicht mehr nötig war. Zu mir zurückgekehrt, führte er mich in sein Zimmer, und nachdem er einem anderen Gehilfen aufgetragen hatte, einen Arzt zu rufen und selbst zu Sterni zu gehen, blieb er allein mit mir. Mich anzusprechen, wagte er nicht.
Ich fragte ihn: »Ist Enno hier?«
»Nein, sie ist für einige Tage zu Nella geflogen.«
Dann schwiegen wir wieder, bis der Arzt erschien. Er versuchte gleich, mich über das Geschehene auszufragen; ich sagte, dass ich nicht darüber sprechen möchte. Da brachte er mich in die nächstgelegene Anstalt für Geisteskranke.
Dort überließ man mir einen großen gemütlichen Raum und belästigte mich lange nicht. Mehr konnte ich mir nicht wünschen.
Die Lage schien mir klar zu sein. Ich habe Sterni getötet und damit alles verdorben, dachte ich. Die Marsmenschen sehen mit eigenen Augen, was sie von Kontakten mit den Erdenmenschen zu gewärtigen haben. Selbst der Mann, den sie für den anpassungsfähigsten gehalten haben, kann ihnen nichts als Gewalt und Tod bringen. Sterni ist tot — seine Idee wird auferstehen. Die letzte Hoffnung schwindet, die Menschen auf der Erde werden ausgerottet werden. Und ich bin schuld an allem.
Diese Gedanken kamen mir bald nach dem Mord, und sie ließen mich nicht los. Anfangs spürte ich eine gewisse Befriedigung wegen ihrer nüchternen Unanfechtbarkeit. Dann verstärkten sich wieder Beklemmung und Schmerz, anscheinend bis ins Grenzenlose.
Dazu gesellte sich ein tiefer Ekel vor mir selber. Ich fühlte mich als Verräter an der ganzen Menschheit. Die verschwommene Hoffnung keimte auf, dass die Marsmenschen mich töten würden, aber sogleich wurde mir bewusst, dass ich ihnen zu widerwärtig sei und Verachtung sie hindern würde, das zu tun. Sie verbargen zwar ihren Widerwillen, aber ich spürte ihn deutlich, sosehr sie sich auch verstellten.
Wie viel Zeit auf diese Weise verstrich, weiß ich nicht. Schließlich kam ein Arzt und sagte, ich brauchte eine andere Umgebung und würde auf die Erde gebracht. Ich dachte, damit meine er meine bevorstehende Hinrichtung, aber ich nahm es gefasst auf. Ich bat nur darum, meinen Körper möglichst weit im Weltraum aus dem Sternschiff zu werfen, damit er nicht auf einen Planeten falle und ihn beflecke.
An den Rückflug kann ich mich nur trübe erinnern. Bekannte Gesichter sah ich nicht, gesprochen habe ich mit niemandem. Mein Geist war nicht verwirrt, aber ich bemerkte fast nichts von meiner Umgebung. Mir war alles gleichgültig. |
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