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Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
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Eine Arbeitslosenversammlung.

Eine Kette von Entbehrungen, nichts weiter brachte der Sommer, auf den Agnes so schöne Hoffnungen gesetzt hatte. Bis in die lauwarmen Abende hinein saß sie und jagte die langen Schürzennähte durch die surrende Maschine."
Und Albert sah vier Wochen lang nur ein tischgroßes Fleckchen Himmel durch die Eisenstäbe seiner Zelle.
Es ging zum Herbst, als er herauskam. Zum Glück fand er gleich Arbeit. Doch ein Schreck durchfuhr ihn, als am Weihnachtsabend auch seine Entlassungspapiere neben dem Lohnbuche lagen. Vier Wochen aussetzen, hieß es.
Als er dann mit Agnes unterm leuchtenden Tannenbäumchen frohe Weihnachtslieder singen wollte, umhüllte ein grauer Schleier die brennenden Lichter; nur Kleinlieschen sah alles klar erglänzen und jauchzte in heller Freude.
Es war ein stiller Sonntagmorgen. Albert ging im Sonnenschein und las im „Volksblatt". Das Schneewasser sickerte von den Traufen und der Frost musste sich immer weiter in den Schatten zurückziehen. Aus dem tiefer liegenden Häusermeer der Großstadt kam das Glockengeläute herauf und lockte die Kirchgänger aus den Häusern. Die Alten schritten gemächlich und taten andächtig und die Jungen gingen mit gezwungenem Ernst neben ihnen her. „Sechzig- bis siebzigtausend arbeitslose Familienväter in der Hauptstadt!" las Albert immer noch einmal halblaut für sich hin. Dann rechnete er. Herrgott, das waren ja dreimalhunderttausend Männer, Frauen und Kinder, denen es ebenso erging wie ihm! Es war ein Aufruf. Diese gewaltige Masse sollte auch in ihre Tempel pilgern. Aber nicht Gott im Himmel wollte man anflehen, oder ihn gar für all das Elend verantwortlich machen, nein: die Armen sollten endlich einmal ihre Not vor aller Welt bekennen, und die Reichen und Verantwortlichen
sollten sehen, was sie durch ihre Sucht nach Geld angerichtet hatten. Und am Ende sollte auch wohl den Armen gesagt werden, inwieweit sie selber schuld trügen an ihrem Ungemach.
Es war Montag. Wie Wasser aus kleinen Rinnsälchen kamen die Arbeitslosen aus den Seitengassen der Stadt, vereinigten sich in den Hauptstraßen, und ergossen sich in die Versammlungsräume.
Albert schritt zu einem der größten Säle, der am Rande der Stadt lag. Vor dem Haupteingange des mächtigen Gebäudes staute sich die Menge, die große Steintreppe konnte sie nicht schnell genug aufnehmen. Ernst wie zur Kirche gingen die Männer zu den Saaltüren hinein, aus denen ihnen die vollen Akkorde einer Orgel entgegentönten. Still gaben sie sich dem Genusse des Wohlklanges hin.
Die Orgel verstummte. Ein Glockenzeichen ertönte. Alle Gesichter bewegten sich nach der Bühne hin, wie wenn sie von dort Hilfe und Erlösung erhofften. Ein Polizeioberst schnitt mit einer Handbewegung dem Vorsitzenden das Wort ab. Das Kopfmeer im Saal geriet in Bewegung und ein dumpf grollendes Murmeln stieg aus ihm empor. Der Oberst schnellte vom Sitz, rückte am Säbel und rief mit schmalziger Stimme: „Im Namen des Gesetzes löse ich die Versammlung auf!" Ein donnernder Widerhall stieß ihn in den Hintergrund der Bühne. Die Versammelten saßen trotzig fest da, nur einzelne erhoben sich drohend. Abermals erklang die Glocke. Der Vorsitzende verkündete: Der Redner sei verhaftet. Mit Ruhe und Besonnenheit möohten die Arbeitslosen ihr trauriges Heim wieder aufsuchen.  Bald würde man sie von neuem rufen.
Die Orgel setzte ein. Mit ihren mächtigen Bässen erzitterte sie die Luft und die Flüche auf den Lippen der erbitterten Menge erstarben.
Auf der Empore vor einer der hohen Sandsteinsäulen stand Albert und sah hinunter auf die anschwellende Masse. Nur wenige gingen durch die Parkwege der Stadt zu. Alle standen still, wie wenn sie fühlten: gleiches Leiden müsse auch gleiches Handeln zuwege bringen.
Männer stapften immer noch im breiten Zuge die Stufen hinunter. Der Wind pfiff ihnen eisig entgegen. Sie rafften ihre alten Röcke fest zusammen, schlugen die Kragen hoch und zogen ihre Köpfe tiefer zwischen die Schultern. Der Aufmarsch der stummen Menge wollte gar kein Ende nehmen. Immer dichter schob sie sich zusammen, wie wenn der einzelne in ihr Halt fände.
Da — plötzlich schnellte ein Kopf hoch, zwei Arme breiteten sich aus. „Auf, Kameraden, zum Reichstag!" donnerte es über die geduckten Köpfe, und schon war der Rufer wieder untergetaucht. Ein Beifallssturm platzte aus der Menge und verschmolz sich in den Marschgesang der Marseillaise. Pfeifentrillern erfüllte die Luft. Helme blitzten an allen Ecken auf. Säbel und Gummiknüppel sausten auf die Menge nieder, die wie Laubblätter im Wirbelwind durcheinander stob. Verkleidete Polizisten griffen unter ihre Lodenjoppen und schlugen auf ihre Umgebung ein. Die Geängstigten stürzten in dichten Scharen in die Parkwege; aber auch von da kamen Fliehende, von prügelnden Polizisten verfolgt. Die so Zusammengetriebenen sprangen über Eisengeländer und verfingen sich in Schutzdrähten. Einer stürzte über den andern. Scharen stürmten wieder die Steintreppe hinauf und drängten sich in den Saal. Aber auch da schlugen hünenhafte Gestalten auf sie ein. So musste auch Albert mit hinunter in das Kampfgewühl.
Die Bestürzung des ersten Augenblicks war gewichen und Mutige setzten sich zur Wehr. Albert war im Begriff, den ringenden Brüdern beizuspringen, aber schon zwang ihn ein wuchtiger Schlag in die Knie. Er wand sich aus dem Gewühl und lief die Straße entlang. Über die ganze Straßenbreite gezogene Schutzmannsketten kamen ihm entgegen, die gezückten Säbel unheilverkündend nach vorn gerichtet. Berittene Wachtmänner sprengten mit ihren wiehernden Gäulen in Menschenhaufen hinein. Scharenweise rannten die Gehetzten in Vorgärten und Häuser und suchten Schutz in Läden und Hausfluren. In bloßen Köpfen, aus Wunden blutend, schlichen andere an Häusern entlang.
Aus einem Parkwege traten vier Arbeiter, langsam der Stadt zu schreitend. Zwei Schutzmänner stürmten ihnen entgegen. „Ein Schwerkranker!" riefen die Männer, ihren ohnmächtigen Kameraden in der Mitte tragend.
„Auseinander!" kommandierten die Polizisten und stießen die Männer vor die Brust.    Albert sprang hinzu
und erfasste den herabhängenden Arm des Verletzten. „Lassen Sie den Kerl los, wir werden ihm schon Beine machen!" schrie ein Schutzmann und gegen Alberts Genick sauste ein Stoß, der ihn aufs Pflaster streckte.
Kurz aufgerafft, schlug Albert blitzartig den Schutzmann ins Gesicht, bis dieser taumelnd aufschrie.
Von Hufschlägen verfolgt, jagte Albert zur Stadt hinunter, den Hausschlüssel mit der Rechten fest umklammert. Schon sprengte der Berittene dicht am Bürgersteig. Wütend riss er das Pferd auf die glatten Steinfließen, dessen warmer Atem Albert ins Genick fauchte. Feuersprühendes Klirren und ein stöhnender Fluch gaben ihm Hoffnung auf Rettung. Sein Verfolger wälzte sich neben dem aufspringenden Pferde im Schnee.
Aber schon drohte neue Gefahr. Schutzleute, die Schuppenketten unterm Kinn, die Säbel stich- und schlagbereit in der Hand, versperrten die Straße, damit nicht neue Massen aus der Stadt hinaus zum Kampfplatz zogen. Einer verließ seinen Posten und kam, seinen Säbel kühn schwingend, auf Albert zugestürmt. Durch einen Seitensprung in einen offenen Torweg entging Albert dem gutgezielten Hieb. Er rannte in den Hof, sprang über Wagendeichseln und Heubündel und wand sich zwischen Pferden, erschrockenen Kutschern und Wagenwäschern hinduroh. Und ehe die Leute den Ruf des schwerfälligen Polizisten recht begriffen, war Albert ihren Blicken entschwunden.
So jagte er über drei, vier Höfe.
„Nanu, man nicht so eilig." Ein paar Arme fingen ihn förmlich auf, als Albert sich unvermutet auf offener Straße befand. Er sah sich Waldmann gegenüber, der ihn um die nächste Ecke und in eine Kneipe zog, nachdem er aus ein paar Worten, Alberts Gefahr erkannte.
Im Hinterzimmer ließen sie sich nieder „Du bist arbeitslos?" fragte Waldmann teilnehmend. „Junge, das passt sich ja großartig! Soeben traf ich den Schinder-Schulze, der hat seinen Polierer rausgeworfen, weil er jede Woche drei Tage blau machte.' Da gehst du sofort hin. Das ist was für dich. Dort wird zwar tüchtig nach Feierabend geschuftet, aber der Verdienst ist gut."
Albert wusste gar nicht, wie er das dem Kollegen danken sollte.  Er bestellte noch zwei Bier, nachdem er sein Frühstücksbrot verzehrt hatte, doch Waldmann wehrte ab: es sei keine Zeit zu verlieren, solle Albert die Arbeitsstelle nicht entgehn. Albert bezahlte die Zeche. Und machte sich auf den Weg zu Meister Schulze.
Wunderbar, das Leben hängt doch von Zufälligkeiten ab, dachte Albert auf dem Heimwege. Nun war er der Arbeit rein in die Arme gelaufen, durch die drohende Gefahr. Das stimmte ihn froh. Seine gute Laune unterdrückte die Bedenken, die in ihm aufsteigen wollten. — Was sollte den Waldmann wohl weiter bewogen haben zu dem Freundesdienst: Und den Gruß, den er ihm an Agnes aufgab, war doch auch nur Höflichkeit.

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