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Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
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Im Arbeitsnachweis.

Wenn sich Amsel und Star am niedrigen Gartenzaun durch kurze Rufe begrüßten und den betauten Acker nach Larven und Engerlingen absuchten, erhob sich auch Agnes vom Lager und schaute ein Weilchen durchs schmale Fensterchen hinaus ins Morgenrot, gerade der aufgehenden Sonne ins Gesicht. Wenn dann das Kaffeewasser sang, beugte sie sich über Albert und weckte ihn durch einen Kuss. Glückliche Stunden stiller Freude waren es für beide, wenn sie am kühlen Morgen in taufrischer Luft Dung und Saatkorn in die der Empfängnis harrende Erde legten. Und beiden kam oft zugleich der Gedanke: Wie leicht ist es doch, glücklich zu sein! Sattessen, Gesundheit und Liebe, das gab ein heiter Gemüt. Drängten sich einem mal die Sorgen hart auf, dann sprang ihm der andere bei und half sie vertreiben; denn dazu hatten sie sich ja zusammengetan fürs Leben. Immer hoffend vorwärtsschauen, dabei aber nicht zu viel vom Leben erwarten — das hatte den Weigert-Leuten die Erfahrung nun schon gelehrt. — Mitunter freilich drückte den Arbeitslosen bange Befürchtung....
„Sorg' dich nicht, sorg' dich nicht!" tröstete dann Agnes. „Was nützt das? Es kommt doch, wie es will; und am Ende wird's von selber wieder gut."
„Von selber?"
„Gewiss! Wir haben's doch erlebt: Alles Sorgen hätt' uns weder Aussaat noch Dünger gebracht. Na, und — wie war’s Weihnachten? Es ist eben etwas unter die Arbeiter gekommen, was früher niemand kannte. Und wenn die Not den einen Teil mal gar zu arg packt, dann regt sich etwas Unwiderstehliches unter den Armen, und — ihre Hilfe ist da. Und du findest auch bald Arbeit, ja, ja," beteuerte sie. „Wirst dir auch wieder Stiefel und Hosen kaufen können. Es wird alles wieder gut, verlass dich drauf. Warum sollte es auch nicht besser werden? Haben wir denn Böses getan, wofür wir Strafe erdulden müssen?
Zum Sommer geht's auch; manches wächst uns in den Mund, und für den Winter kommt auch Rat, denk' ich."
Solch tröstliches Wesen tat Albert wohl. Als ob sich ihr Gottesglaube nun immer mehr den Menschen zuwende, schien es ihm. So schritt er leichten Herzens dem Arbeitsnachweis zu, der im Zentrum der Stadt lag. Er ging den zwei Stunden langen Weg zu Fuß.
Trödler, Versatzgeschäfte, schmutzige Branntweinläden und Speisewirtschaften, die ein Mittagbrot für 25 Pfennig ausboten, hatten sich in der alten, grauen Straße, die zum Arbeitsnachweis führte, niedergelassen und fristeten von der Armut ihr Dasein. Jung und alt, Männer und Frauen, verwetterte und bleichwangige Gesichter wogten die schmale, dunstige Gasse hin und her. Manche kamen aus der Provinz und schleppten ihre ganze Habe mit sich, die sie in Kisten oder Bündeln auf dem Rücken trugen. Dann standen sie vor dem mächtigen Backseingebäude und drängten mit der sich stauenden Menge die breite Steintreppe hinauf.
Auch Albert reihte sich in die Kette seiner arbeitslosen Kollegen ein, die sich langsam zum zweiten Stock hinaufzog.
Immer noch stieg die Zahl der arbeitslosen Holzarbeiter; über dreitausend waren es schon bei der letzten Wochenzählung.
Mächtige Lichtbalken streckte die Sonne durch die großen Saalfenster hinein in den dunstgeschwängerten Raum. Als ob sie frischen Brotgeruch witterten, so hoben die Arbeitslosen ihre Köpfe, wenn das laute Rufen von Namen und Nummern begann. Ob alt, jung, lahm, schief, schwach oder stark, allen stand hier gleiches Recht auf Arbeit zu. Zuerst ins Auge fielen die mit bleichen Gesichtern und weit vom Kopf abstehenden Ohren, die wie gelbes Wachs glänzten; daneben andere mit rotgedunsener Nase und wässerigen Augen; auch solche, die vom Alter schon gebückt und bleich waren, rangen sich mühsam durchs Gedränge. Wie Abschaum trieben diese von Not, Laster, Schicksal Zermürbten auf der Oberfläche des Arbeitsmarktes. Alle griffen sie gierig, mit zitterigen Händen nach den ausgebotenen Stellen, obwohl sie wussten, dass die Fabrikanten sie doch abweisen würden. Mit einer wehrenden Handbewegung drängte sie der alte Vermittler zurück und
zog die Brauchbaren vor. „Das ist ungerecht!" — „Eine Gemeinheit ist's!" — „Unsere Nummer ist an der Reihe, und damit basta! Alles andere geht dich gar nichts an!" So murrten die Abgewiesenen und zogen sich widerstrebend auf ihre Plätze zurück.
Nur wenige freie Stellen kamen heut zur Ausgabe. Hunderte eilten bei jedem Aufruf nach vorn.
„Fellert sucht einen tüchtigen Tischler!" rief der alle Grunert — so hieß der Vermittler.
„Was zahlt der Frühlingsmeister? — Hält er den Vertrag?"
„Nein, Vertragsgegner!"
„Keiner geht hin! Das ist der richtige!" so riefen sich alle warnend zu.
Die Vermittlung nahm ihren Fortgang.
„Ein geübter, nüchterner Tischler auf Salonmöbel! 1560!   1546!   1531!"
„Ich habe 423, mir kommt die Stelle zu!" rief ein großer, starker Mensch mit bläulichrotem Schnapsgesicht, stieß die andern zur Seite und schob sich schwankend zum Podium vor. „Das wäre ja noch schöner! Haben wir hier zu bestimmen oder die Herren Beamten?"
„Die Stelle ist vergeben an 1531! Du erhältst heut überhaupt keine Arbeit, du bist betrunken!" wies ihn Grunert zurück.
„Was geht's dich an? Du Faulenzer! Ich versaufe mein Geld!"
„Ganz recht! Bravo!" kam es vereinzelt von den anderen.
„Ihr gebt ihm noch recht, Kollegen? Die Art bringt doch den Nachweis nur in schlechten Ruf!"
„Ist uns egal!  Wir wollen Arbeit, nichts weiter!"
„Die Stelle gibst du mir!" schrie der Betrunkene und stieg zum Podium hinauf.
„Nein! Du verkaufst sie wieder für ein paar Schnapsgroschen, wie neulich!"
„Arbeit raus, sag' ich dir!"
„Nein! Komm, wenn du nüchtern bist!"
Stoßen und Balgen begann.
Die Arbeitslosen erhoben sich und drängten nach vorn. „Immer feste!" riefen sie anfeuernd.
Der Betrunkene würgte den Alten, drückte ihn an die Wand.
„Was steht Ihr und gafft! Bringt sie doch auseinander!" rief Albert und bahnte sich- einen Weg durch die Menge.
„Ach, was schadet's! Runter mit der Bande!" schrieen andere. „Von unserem Geld fressen die sich dick, und wir warten auf Arbeit und hungern!"
„Blut färbte das weiße Kopfhaar des Alten. Nun griffen auch andere zu und trennten den Betrunkenen von seinem Opfer.
Albert half Grunert auf.
„Ein andermal gibt's noch mehr!" drohte der Große wichtig.
„Pfui, schäm' dich!" sagte Albert verächtlich.
„Warte, du Schmuser, kriegst auch noch mal dein Teil, ehe du an die Futterkrippe kommst!"
„Was willst du?" wandte sich Albert an den Betrunkenen, in dem er den ehemaligen Tischlermeister Maier erkannte, dessen Gesellen er damals aus dem Kamin herausgeholt hatte.
„Nun hört doch den Spion. Tut nichts, als bringt Menschen ins Unglück, und will noch frech werden! Glaubst wohl, ich erkenn' dich nicht wieder, he?"
„Kannst dich ja hier als Polizist anstellen lassen zum Schutze unserer Herren Beamten!" riefen andere, die gern noch ein zweites Raufen veranstaltet hätten.
Aller Blicke umlauerten Albert.   Er ging.
Was bringt doch der Neid nicht alles zuwege, dachte er. Ein Menschenalter stand nun der alte Grunert in der Bewegung, hatte Not und Entbehrungen auf sich genommen, um dem Recht der Armen den Weg zu bahnen, und nun misshandelten ihn seine einstigen Leidensgefährten. Ach, nur etwas Überlegung — und die Kollegen hätten wahrnehmen müssen, wie Trübsal, Unzufriedenheit, Gleichmut und Trunksucht bis hinab zur Verwahrlosung den Alten täglich umgaben. Wie er sich bemühte, gegen diese Freudlosen mit all dem Seelenjammer gerecht zu sein, wie er suchte, sie immer wieder mit neuen Hoffnungen zu erfüllen. Dieser Mensch musste doch wohl felsenfest an das
Gute glauben. Und dieser Glaube gab ihm wohl auch die Kraft, all das Ungemach zu ertragen. —
So in Gedanken, schlenderte Albert von Straße zu Straße. Plötzlich schob sich ihm die neueste Nummer der „Holzarbeiterzeitung" vors Gesicht.
„200 000", mit Eichenlaub umrahmt, stand an deren Kopfe in mächtigen Ziffern. Und eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter.
„Was? — Haben wir schon?, fragte er den „Pommerschen Karl", der nun neben ihm ging, „das ist ja prächtig!"
„Ja, und die Metallarbeiter haben bald 500 000 erreicht. Alles in allem sind wir nahe an die drei Millionen!" triumphierte Karl.  „Mit Riesenschritten geht es vorwärts!"
„So was hört man gern," erwiderte Albert, „wenn nur der innere Gesundheitszustand bei dem schnellen Wachstum dieses mächtigen Körpers nicht leidet."
Helle Bogenlampen flammten vor den beiden auf.
„Mensch, blase nicht Trübsal! Schau, wieder ein Granitstein in unserem Bau!" Beide gingen hinüber auf die andere Straßenseite und betrachteten den neuen, blitzenden Laden, wo flinke, saubere Mädchen die andrängende Mitgliederschar bedienten. Über dem breiten Eingange an schwarzer Stirn erstrahlte in goldflammender Aufschrift: 85. Geschäft der Arbeiterkonsum-Genossenschaft,
„Ja, siehst du, so bohren wir uns dreist hinein in die alte Gesellschaft," sprach Karl weiter.
Sie waren am Verbandshause angelangt.
Nun saß Albert im Sitzungssaal still in einer Ecke unter Beschwerdeführern und Hilfesuchenden und lauschte den mannigfaltigen Verhandlungen.
Oft musste der Vorstand sein hilfbereites Herz zum Schweigen bringen, denn manche mussten abgewiesen werden; sie hatten in guten Tagen ihre Pflicht nicht erfüllt. Diese wetterten gegen die Gefühllosigkeit des Vorstandes, gingen verbittert hinaus und, säten Hass gegen den Verband,
Auch Albert wurde abgewiesen. Er habe in der Angelegenheit, die ihn arbeitslos machte, zu voreilig eingegriffen, hieß es. Karl trat für ihn ein. Da die Arbeit im Verbandsbüro von Tag zu Tag überhand nähme, könne Weigert wohl ein wenig aushelfen, empfahl er. Der Vorstand ging darauf ein.
Etwas verwirrt von der so unverhofften Aussicht auf Arbeit, entfernte sich Albert. Er entschloss sich, den letzten Groschen für eine Straßenbahn zu opfern, denn der Himmel hing schwarz und tief über den Straßen. Warme, stickige Luft presste sich zwischen die Häuser; und jeden Augenblick konnte ein schweres Wetter losbrechen.
Draußen, hinter der Stadt, bog Albert in einen Feldweg ein. Mächtige Ulmen und Eichen zu beiden Seiten des Weges machten es stockfinster; er stolperte über freiliegende Wurzeln. Spannend still war’s. Mutter Natur hielt den Atem an. Plötzliches Blitzen und Krachen von allen Seiten durchdröhnte die laufeuchte Luft, als stürze der Himmel in Stücken zur Erde.
Besorgt um die Seinen, rannte Albert durch den strömenden Regen.
Im Häuschen war mattes Licht. Er sah durch das kleine Fenster. Nur mit dem Hemd bekleidet, saß Agnes auf dem Bettrande, die Hände fest gefaltet auf den Knien, ruhte ihr Blick auf den schlafenden Kindern. Ihr blondes Haar hing lose um das gesunde Gesicht. Einem Schutzengel glich sie in dieser Verlassenheit. Unbemerkt trat Albert ein.
Erleichtert sah Agnes auf, als er, vor Nässe triefend, vor ihr stand. Sie reichte ihm die Hand und zog ihn wie zum Schutze an sich.
„Du hast gebetet?" fragte er.
„Ja - was sollte ich wohl tun so allein mit den Kindern. Und am Ende wär' dir auch was passiert; das ist ja ein Feuer und Krachen wie in der Hölle," flüsterte sie, immer noch furchtsam. Dann raffte sie sich empor. „Wirst hungrig sein." Sie trug Brot auf. „Der Kaffee ist kalt," klagte sie, „und Feuer anmachen tut nicht gut beim Gewitter."
„Lass nur gut sein, es schmeckt auch so," beruhigte er sie, am trockenen Brote kauend. Schien ihm doch die eigene Not leicht gegenüber dem Elend, von dem er heute in der Sitzung gehört. „Glaubst du es, Agnes: uns geht's noch nicht am schlechtesten!"
„Mag sein. Solange wir gesund sind und auf Besserung hoffen können, lässt es sich schon ertragen. Manchmal, wenn ich so allein bin und mir die Kinder anseh, will es mich ja schier erdrücken, aber wenn du wieder bei mir bist, wird's mir leichter," sagte sie innig.
„Denkst du, mir ergeht es anders? Darum gehört ja auch Mann und Weib zusammen. Allein wäre das Leben für uns Armen wohl unerträglich," erwiderte Albert, während er das Wasser aus seinem Rock zu wringen begann.
„Lass das," riet Agnes, „verziehst ja die Form. Ich steh morgen beizeiten auf, hänge ihn in die Sonne, und ehe du ihn brauchst, ist er trocken."
„Nach Sonnenschein sieht es nicht gerade aus, und ich brauche ihn morgen gleich in aller Frühe."
„Gleich früh?"
„Ja, gleich früh!"
Aber erst im Bett erzählte Albert die frohe Botschaft von der Arbeit, die ihm geworden war.

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