Der Freund in der Not.
Ein Sonntag. Das Mittagessen war vorbei. Agnes und Lieschen standen in der schattigen Vorlaube und wuschen das Geschirr ab. Bernhard kam zum Gartentürchen hereingerannt. „Mutter, Mutter!" rief er und wies den Laubenweg hinunter, „ein feiner Herr kommt!" Mutter trocknete ihre Hände rasch an der Schürze und hielt das Mädchen zurück, das neugierig mit Teller und Tuch hinauslief. Richtig, da kam der Herr schon und bog in ihren Garten ein. Den Schirm untern Arm gekniffen, den schwarzen Gehrock fest zugeknöpft, das gab dem Manne ein recht vornehmes Aussehen. Heiter grüßte er zur Vorlaubentür hinein. Noch einmal strich Agnes mit der rechten Hand an der Schürze herunter und sah den Fremden unsicher an, ehe sie ihm die Hand zum Gruß reichte.
„Nun, wir kenn' uns doch wohl?" Er sah ihr freundlich in die Augen.
„Ja, der Stimme nach sind Sie Herr Maiwald."
„Stimmt!" nickte Emil.
Agnes räumte einen wackligen Stuhl ab und nötigte den Gast zum Hinsetzen. Ihre Ärmlichkeit machte sie verlegen. Und im Nu war sie hinaus, um Albert zu wecken, der hinter dem Häuschen, im Schatten der Sträucher, sein Mittagschläfchen hielt.
Noch einmal rief sie um die Ecke, als sie zurückkam. „Er schläft immer so fest," sagte sie halb entschuldigend. „Am Vormittag war er zur Versammlung. Und in der letzten Nacht tobte wieder ein so schweres Gewitter, da schläft es sich nicht gut unter dem dünnen Pappdach."
„Auch nachts sind Sie hier?"
„Ja, wir haben keine andre Wohnung, vorläufig," sagte sie bedrückt.
„So, so. Darum kamen auch alle meine Briefe zurück.
Eine gute Idee, alter Junge!" Emil Maiwald trat auf Albert zu, ihm die Hand reichend. „Warst ja mit einem Male wie vom Erdboden verschwunden! Bist wohl im Begriff, dir ein kleines Paradies so im stillen zurechtzumachen? — Alles grünt und blüht, Frau und Kinder gesund und frisch! Das muss ja eine Lust sein, hier zu leben!"
Albert empfand diese oberflächliche Betrachtung seines Freundes wie eine Herausforderung zur Wahrheit. „Na ja, wenn sonst alles da wäre, ließe es sich schon leben," sagte er, Daumen und Zeigefinger aneinanderreihend. Dann erzählte er, wie alles gekommen war, seitdem sie sich nicht mehr gesehen hatten.
„Das ist freilich schlimm," bedauerte Emil. „Warum hast du aber auch gar nichts von dir hören lassen? Es hat mir ja ordentlich Mühe gekostet, dich aufzufinden."
„Tja, Not macht feige, und hat immer die Neigung, sich zu verkriechen. Bei dir scheint ja wohl Glück im Spiele zu sein," sagte Albert, verwundert wegen der äußerlichen Veränderung seines Freundes. An dessen ehemals so harten Händen war keine Spur von Arbeit zu entdecken; die Fingernägel waren gepflegt und blitzten weiß, und alles, was Emil an sich trug, war aus bestem Stoff und modern gearbeitet.
„O ja, danke, mir geht es gut, sehr gut sogar. Nur tut es mir aufrichtig leid, dass es bei dir so bergab ging; ich hätte gewiss schon etwas für dich tun können."
„Ich denke, es muss wohl so sein," sprach Albert, „dass sich einzelne Menschen fortwährend mit dem Elend herumschlagen müssen, damit die anderen einen Abscheu davor bekommen und sich desto energischer zu schützen suchen. Aber wir wollen heut nicht trüben Gedanken nachhängen; ich denk' immer: der Mond muss abnehmen, damit er wieder zunehmen kann. Auch haben wir uns nie ganz unterkriegen lassen, was, Mutter?" Er klopfte Agnes auf die Schulter. „Wir hatten immer noch die Kraft, auch im Elend glückliche Stunden zu erhaschen. Sieh uns an, wir sind alle gesund! Jetzt steht noch auf Wochen hinaus guter Verdienst in Aussicht, und dann — später? Na — dann —"
„Dann? Dann lass mich sorgen!" setzte Emil rasch hinzu.
Albert kannte seinen Freund zu gut: ein Wortemacher war er nie gewesen. „Bist du des Glückes schon so voll, dass du an andere etwas abgeben kannst?"
„Es kostet mich nur ein paar Worte, nichts weiter," sagte Emil sicher.
„Du machst einen wirklich neugierig!" erwiderte Albert, auf eine Erklärung wartend.
Agnes' Blick war auf Emils linken Ringfinger geheftet, auf dem ein breiter, goldener Reif saß, von dem sie die glückliche Lebenswendung des Freundes ableitete. Sie wies auch. Albert durch ein Zeichen darauf hin; und beide reichten dem Verlobten die Hand und beglückwünschten ihn.
„O, hm, ein schönes Paar," sagte Agnes, als Emil ihr eine Photographie überreichte. „Da wird es wohl bald Hochzeit geben?"
„Nach einem halben Jahr vielleicht; erst muss ich mit meiner Schule durch sein."
„Schule — was denn für Schule?" fragte Albert.
„Tja ja, mein Lieber, technischer Betriebsleiter soll ich werden! In der Schönfeldschen Möbelfabrik, die dir vielleicht bekannt ist."
„Ja — kenne ich — Innenarchitektur — eine der besten Fabriken am Ort. — Da sollst du Betriebsleiter werden?"
„Das klingt wie ein schlechter Scherz, was? Ja, bei mir verging auch einige Zeit, ehe ich mich an die Tatsache gewöhnen konnte. Ich will den Hergang kurz erzählen, wie ich zu all dem kam. — Meine Braut ist die Tochter eines Lokomotivführers. Sie hat die Mittelschule besucht, Kochen und Musizieren gelernt, und ist eben eine richtige Kleinbeamtentochter. Ihre ältere Schwester hatte Glück, sie heiratete den Architekten und Möbelfabrikanten Schönfeld. Nun stelle dir das Gesicht vor, das der königlich preußische Eisenbahnbeamte und dessen Frau machten, als sie vernahmen, ich sei Drechslergeselle und arm wie eine Kirchenmaus. Zum Glück machten sie diese Entdeckung zu spät; und so leuchtete es den Alten bald ein: setzten sie mir den Stuhl vor die Tür, so mussten sie für ihre Tochter auch gleich einen bereithalten. Da war nun guter Rat teuer: Einem so hergelaufenen Habenichts ihre Lucie geben, ging unter keinen Umständen. Wir beide wurden also an einem Sonntag zu Sohönfelds zum Kaffee eingeladen, was mir sehr peinlich war. Ich wurde aber angenehm überrascht, denn Schönfeld und seine Frau sind gar prächtige Menschen. Ein leibhaftiger Professor der Musik mit seiner jungen Frau waren zu Gaste. Der Professor fragte mich nach dutzenderlei Dingen, was mich ein wenig ängstlich machte. Bald griff der Professor zum Cello und begleitete ein kurzes Lied, das seine Frau sang. Lucie und ich wurden immer verlegener: das Lied war uns gewidmet. Am Schluss reichte Lucie beiden dankend die Hand, ich folgte ungeschickt ihrem Beispiele. Dann griff Schönfeld zur Flöte, seine Frau setzte sich ans Klavier, und Lucie und mich nötigte man in eine Nische aus feiner Holztäfelung. Weich und mild erklangen die gefühlvollen Weisen. Mit Rosenduft geschwängerte Luft durchzogen leichte Schwaden blauen Zigarettenrauches. Ich wagte kaum zu atmen.
Als sich der hohe Besuch verabschiedet hatte, steuerten unsere Gastgeber gleich auf ihr Ziel los. Sie sprachen von unserer Zukunft. Ich ging ohne Besinnen auf Schönfelds Vorschläge ein. Erstens musste ich mich verpflichten, mich innerhalb acht Tagen mit Lucie zu verloben, was uns beiden ja keine Überwindung kostete. Dann aber: ein Jahr lang die Kunstgewerbe- und Handelsschule zu besuchen und mich nebenbei ins Geschäft hineinarbeiten; dies erschien mir schon etwas bedenklicher. Ich entschied mich aber kurzerhand für alles; fühlte ich doch: diese Menschen wollen nur das Beste für uns beide.
So gab ich nach acht Tagen meinen Beruf auf und betrat meinen neuen Lebensweg auf Kosten Schönfelds."
„Was will dieser dann tun, wenn du sein Betriebsleiter bist?" fragte Albert.
„Sich der Musik widmen, in der er es schon zu recht anerkannten Leistungen gebracht hat. Das Geschäft soll ihm nur noch als Geldquelle dienen."
Albert drückte seinem Freunde die Hand. „Hoffentlich bleibst du unserer Sache treu."
„An mir soll es nicht liegen!"
„Na, die Erfahrungen machen einen misstrauisch."
„Übrigens stehen Schönfeld und seine Frau der Arbeiterbewegung nicht unfreundlich gegenüber," sagte Emil.
„Da hast du ja keinen Widerstand zu erwarten."
„Nein, sicherlich nicht."
Die Männer saßen in der schattigen Vorlaube, an deren Holzgitter die großblätterige Winde hinauf bis aufs Dach rankte. „Nun lass uns ein wenig von deiner Zukunft plaudern," sagte Emil, seinem Freunde die gefüllte Zigarrentasche hinreichend.
„Meine Zukunft?" lachte Albert. „O, die ist sehr wandelbar."
„Ich glaub' ich ertrüg's nicht, so vom täglichen Zufall hin und hergeworfen zu werden mit den Sorgen für Frau und Kinder," sagte Emil teilnehmend.
„Gewiss, leicht ist es nicht; aber die Gewöhnung macht es eben erträglich. Was soll man auch dagegen tun, als mutig aushalten? Na, und augenblicklich geht es uns ja nicht schlecht," erwiderte Albert, sich sorglos stellend.
„Ja, augenblicklich," wandte Emil ein. „Wenn einem aber das Leben so viele Verpflichtungen auferlegt, muss man auch suchen, ihm einen festen Halt abzuzwingen."
„Das tu ich auch!"
„So? Hast wohl gar Aussicht auf eine Anstellung im Verbandsbüro?"
„Gott bewahre! Daran habe ich noch nie ernstlich gedacht. Und stellte man mich vor die Frage, würde ich es mir noch sehr überlegen."
„Aber wieso denn? Gibt es noch etwas Besseres, als im Dienste der Bewegung zu arbeiten?"
Albert erhob sich, lief im engen Raum hin und her, als wenn er erst seine Gedanken in Bewegung bringen müsse, dann begann er ein wenig bitter: „Im Dienste unserer Sache arbeiten? O ja! Aber bei unseren Kollegen in Brot stehen, wo es ihnen so unendlich sauer gemacht wird, das ihre zu verdienen, nein, das mag ich nicht für die Dauer!"
„Gefühlssache. Auf welchem Wege gedenkst du dir sonst eine feste Grundlage fürs Leben zu schaffen?"
„Ich allein könnte es allerdings nicht! Aber wir alle, wir denkenden Arbeiter, sind doch schon tüchtig dabei, indem \ wir täglich, ja, stündlich ums Recht auf Arbeit ringen, — woraus uns doch auch das Recht auf Leben und Gesundheit erwachsen muss!"
„Ach, da willst du hinaus! Ja, dabei wird aber noch manch einer zugrunde gehen."
„Zugrunde gehen werden dabei nur die, die nicht fest an unsere Sache glauben,"
„Na ja — daran glauben —"
„Freilich gibt es noch recht viele Hemmungen!" unterbrach Albert seinen schwankenden Freund. „Da ist eine der schlimmsten: das soziale Gespenst, die Arbeitslosigkeit mit ihren Folgen. Dies gefürchtete Ungeheuer begleitet ja die Arbeiter wie ihr eigener Schatten auf Schritt und Tritt. Hinterm Schraubstock, neben der Hobelbank hockt es und lugt hervor, bis es eines Tages den einen oder den anderen triumphierend angrinst und ihn anspringt, um sein schändliches Werk an ihm zu vollziehen. Es sucht dann in seinen Opfern jedes Hoffnungsflämmchen zu ersticken und peitscht in ihnen zuweilen die niedrigsten Leidenschaften auf. Aus Vertrauen wird Misstrauen, Neid steigert es zum glühenden Hass. Es verdüstert ihnen den klaren Blick, damit sie die Quellen ihrer Leiden nicht finden, und quält sie, bis sie missmutig an ihrer eigenen Sache verzweifeln... "
Gesang unterbrach Alberts Rede. Den Mittelsteg herauf kamen zwei Männer, Arm in Arm. So schwankend sie vorwärtsschritten, so unsicher war auch ihr Gesang.
„Es ist der Tischler Göbel von drüben, der andere wird sein Logisherr sein," sagte Agnes leise, indem alle drei vor die Laube traten und nach den Sängern hinübersahen.
„Göbel? — Ja, er ist es. Der war gestern im Verbandsbüro nach Unterstützung," entsann sich Albert.
„Seine Frau klagte mir heute früh ihr Leid. Er ist arbeitslos und war noch nicht zurück mit dem Gelde. Sie suche ihn und habe auch ihren Schlafburschen nach ihm ausgeschickt," sagte sie.
„Wat kickste?" fragte Göbel seinen Begleiter so laut, dass es die drei hören mussten, und sagte weiter, als der andere ein Weilchen stehen blieb: „Allet, allet vor unser Jeld, sa ick dir! Ooch een Stücke Beamter is det nämlich von unsa Büro!"
„Aber sauber, geschmackvoll ist alles angelegt," erwiderte der andere. „Hier bei dir sieht es dagegen aus wie in Wild-West."
„Wild-West, ja. Wo is denn die Olle, det faule Stücke? Macht die denn wat? Zu Hause liegt se!" grollte Göbel und stieß wütend die Tür auf. Beide verschwanden in dem windschiefen Häuschen, um ihren Rausch auszuschlafen.
„Hörtest du, wie er herübergiftete?" unterbrach Albert das Schweigen, mehr wehmütig als erregt. „Das ist einer der schlimmsten Sorte."
Emil schüttelte den Kopf. „Nein, solche Anpöbelungen würde ich nicht einen Tag ertragen."
„Sie haben recht, Herr Maiwald," stimmte Agnes dem Freunde zu, „mein Mann muss doch für seinen Lohn arbeiten, genau wie in der Werkstatt! Da möcht ich schon lieber wieder trocken Brot essen, wenns einem nicht um die Kinder wäre."
"Es wird bald besser werden, Frau Weigert, verlassen Sie sich darauf," sagte Emil beruhigend.
Ihr dankbarer Blick streifte ihn. Dann wandte sich Agnes ab, rief Lieschen herbei, überreichte ihr das Einholekörbchen und munterte sie zur Eile auf.
Sie trat in die Laube an den kleinen Kochherd und begann den Vesperkaffee zu bereiten; Wenn ihr Mann doch vernünftig wäre und zugreifen möchte. Der Emil meint es sicherlich gut mit uns, dachte sie. Ein wenig Stolz erhob sich damals in ihrer Brust, als Albert ihr die Botschaft von der Büroarbeit heimbrachte. Denn es war doch gewiss ein Beweis seiner Tüchtigkeit, wenn er zu solch einem Posten erwählt wurde. Und nun — nun war es, als wärs eine Schande, solch Brot zu essen.
Sie deckte den Kaffeetisch draußen unterm blühenden Fliederstrauch und rief die Männer, die zwischen den grünen Beeten umherschritten.
„Sofort kannst du antreten, das Geschäft geht sehr flott," sprach Emil auf Albert ein, als sich beide am Tische niederließen.
Agnes horchte auf.
„Gut, abgemacht," erwiderte Albert und reichte dem Freunde die Hand.
Froh widmete sich Agnes nun den beiden Knaben, die am Kindertischchen im Schatten der Laube saßen. Lieschen kam mit warmgelaufenen Backen angeeilt, und Mutter begann Streusel- und Butterschnecken aus dem Körbchen zu verteilen.
Albert sollte Expedient im Schönfeldschen Betriebe werden. Wenn er Lust habe, könne er nebenbei die Schule besuchen und sich nach und nach zum Möbelzeichner ausbilden. Die schlimme Zeit solle nun ein für allemal vorüber sein, versicherte ihm sein Freund.
Gern hätte Agnes dem Freunde ein Wort des Dankes gesagt, als er sich zum Aufbruch bereitmachte, fand aber keine rechte Form für ihre Gedanken. Ihr war so leicht, so froh zumute, dass sie fürchtete, etwas ganz Unpassendes zu sagen.
Emil warf ihr einen langen Seitenblick zu, als sie leicht aufstöhnte, indem sie Unkräuter aus dem Salatbeet zog.
Das war es, was ihr in letzter Zeit immer wieder durch den Kopf ging. Was sollte werden, wenn nicht bald regelmäßiger Verdienst ins Haus kam? Die Hebamme würde einfach davonlaufen und es der Polizei melden, sobald sie die Bescherung in dem engen Raume sah. Und die Kinder! — Nein, gar nicht ausdenken mochte sie es! Lieschen sah jetzt schon manchmal so still und nachdenklich an ihr hinauf. Nun war die graue Sorgenwand mit einem Male durchgerissen, neue Hoffnung durchleuchtete ihr Gemüt und vertrieb die hartnäckigen Quälgeister.
Immer noch einmal winkte Agnes dem Freunde nach, der mit Lieschen, die ihn durchs Feld zum Bahnhof weisen sollte, schnell davonging.
„Ach, ich bin ja so froh," sagte sie tief atmend und beugte sich nieder neben Albert, der im Möhrrübenbeet zu jäten begann. Er war still. In seiner Gewissenhaftigkeit machte er sich wahrscheinlich schon wieder Sorgen, ob er auch seinem neuen Posten würde vorstehen können. Recht eigenartig war er manchmal, ihr Albert, dachte Agnes. So gut er es verstand, ihr bei der leisesten Verstimmung Mut und Frohsinn einzureden, so wenig wusste er seine eigenen Grillen zu verjagen. Heute aber sollte er nicht den Kopf hängen! Sie verfiel auf einen ganz neuen Weg, ihn schnell aufzurichten.
„Expedient sollst du werden? Was ist das für ein Posten? Der wird dir wohl recht schwer fallen," begann sie.
„Schwerfallen? O nein. — Gewiss, hineinarbeiten muss man sich erst. Expedient — was das ist? — Ein besserer Hausknecht, nichts weiter! Möbel von der Fabrik zur Kundschaft oder zur Bahn befördern. Selten pünktlichen Feierabend, das wird wohl eine der Schattenseiten sein. Aber dafür gibt es auch 180 Mark Gehalt monatlich."
„Einhundert — achtzig — Mark?" wiederholte Agnes gedehnt. In ihr jubelte es förmlich. Sie warf die Handvoll Unkraut in die Furche und trat mit dem Fuß drauf. „Da können wir wohl unser Feld nun auch mehr als Pläsier betrachten, so, wie die anderen Leute," sagte sie.
Still gingen beide zwischen den Beeten hin, jeder für sich an die bessere Zukunft denkend. Hin und wieder stand eines still, sah wohlgefällig auf das üppige Grün des heranwachsenden Gemüses, oder ihre Blicke folgten verspäteten Hummeln und Schmetterlingen, die noch fleißig von einer Blüte zur anderen flogen, ehe der Abendtau die süßen Kelche schloss. Dann lauschten sie wieder in die feuchtwarme Luft hinein und achteten der Käfer, die den süßduftenden Fliederstrauch summend umflogen. In beiden schien ein neuer Sinn zu erwachen. Ein Raum begann in ihnen frei zu werden, der sich mit neuem Singen und Klingen anfüllte. Sträucher, die am hinteren Ende ihren Garten begrenzten, boten durch eine Lichtung Ausblick auf Wiesen und Kornfelder. Dunkle Schatten wuchsen immer weiter über das frische, tiefer liegende Grün; ein linder Hauch legte sich verschleiernd darüber hin und webte sacht die Brücke vom Tage zur Nacht. Lerchen erhoben sich noch einmal mit einem Triller, schossen aber gleich wieder herab zum Nest ihrer Jungen. In der Ferne erklangen Kuckucksrufe. Agnes trat ein wenig nach vorn; die Zweige beiseite drückend, wies sie hinüber übers weite Kornfeld. Beide lauschten hinein in die untergehende Sonne, deren goldene Strahlen die milden Töne eines zweistimmigen Gesanges herübertrugen. „Emil und Lieschen," sagte Albert, seine Augen mit der flachen Hand beschattend.
„Nein. Sieh doch, bis über die Schulter reicht sie ihm. Seine Braut wird es sein, die ihm so weit entgegengekommen ist." Agnes zeigte auf die beiden, die in Brusthöhe übers Kornfeld ragten.
„Ja, hast recht," bestätigte Albert, dem jungen Paare nachschauend, bis es hinter dem Birkenwäldchen verschwand. |
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