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Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
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Aufwärts.

Öde und still, wie ein dürres Stoppelfeld lag der große Saal da mit seinen tausenden leeren Stühlen. Die Tische waren entfernt; rechnete man doch heut mit jedem Plätzchen. Die ersten Besucher sammelten sich plaudernd in den Vorhallen. Albert stieg hinauf zur Gallerie und sicherte sich einen Platz vorn an der Brüstung. Hinter ihm an den großen Fenstern riß der Wind und klatschte schwere Regentropfen an die Scheiben. Langsam füllte sich dann der Raum mit den Vertrauensleuten. Gesprochen wurde wenig; ein kurzer Gruß und Händedruck, dann saßen sie ernst da. Allenfalls fragte einer: „Na, wirds doch noch dazu kommen?" Ein Achselzucken war die Antwort. Das letzte Wort sollte heut gesprochen werden. Von ihnen hing es ab, ob ein monatelanger Kampf oder ein auf Jahre hinausreichender Friede zustande kam.
Der Vorsitzende erhob sich. Es wurde nun ganz still. Mit der zuversichtlichen Ruhe eines Säemannes, der die Fruchtbarkeit seines Ackers kennt, begann er bedächtig Satz für Satz in das stille Kopfmeer hineinzuwerfen. In dem Sprecher vereinigte sich der Wille aller Mitgliedschaften des Reiches; in ihm vereinigte sich auch alle Kenntnis von den Absichten der Gegner. Beides zusammen gab der Rede des obersten Führers Richtung und Ziel.
Den Kopf nach vorn geschoben, sogen die Versammelten die Worte in sich auf. Ihre Zustimmung gab dem Redner immer mehr Sicherheit. Er fühlte sich mit ihnen eins in dem Bewusstsein: nicht Kampf, sondern Erfolg gäbe der Bewegung den Wert.
Nicht überlaut, aber echt war der. Beifall am Schluss. Ein jeder wusste: Das Große lag jetzt in der Festigkeit, in der stillen Besonnenheit, mit der jeder einzelne seine Willenskraft zur Anwendung bringen musste.
Niemand erhob sich zum Wort. Hatte weiteres Reden noch Sinn?   Alle schienen erfüllt vom Bewusstsein ihrer
Macht, der sich das Unternehmertum gebeugt hatte. Nur ganz unbedeutende Nebendinge waren unerfüllt geblieben. Wir kommen wirklich zum sozialen Frieden durch die Verträge, dachte Albert.
Da — plötzlich lief es durch den Saal und zur Bühne hinauf. „Fellert, Fellert", kam es von allen Enden. Wie aus der Erde war dieses Unheil hervorgeschossen. Alle waren leicht erregt.  Was wollte der hier?
„Kollegen!" begann Fellert, „damals, vor Jahren, hab' ich mich bemüht —"
„Die Einigkeit zu zerstören!" rief Albert schlagfertig dazwischen.
„Sehr richtig!" riefen viele zugleich, andere lachten.
Drohende Blicke schoss Fellert hinauf zu Albert und sprach weiter: „Ganz anderer Geist beherrschte euch damals; an einem Härchen hing es, und der Vertrag wäre dem Vorstand vor die Füße geflogen! Ich warne euch: Lasst euch nicht von dem Paradepferd einschüchtern!", wobei er auf den ersten Redner wies.
„Frechheit! Gemeinheit! Strohkopf, dummer!" schrie es ihm aus allen Ecken entgegen.
Einen Augenblick stockte er, dann winkte er mit der Hand, die Rufer abweisend: „Nennt ihr das etwa einen Erfolg? Verraten, verschachert hat euch der Vorstand, genau wie damals!"
„Quatsch! Unsinn! Schluss! Schluss! riefen die Versammelten, rückten ungeduldig mit den Stühlen und sprachen laut miteinander.
Fellert forderte Sorge für Ruhe von der Leitung. Sobald er aber zu reden begann, brach die Unruhe von neuem los.  Endlich trat er unter Gelächter ab.
Albert bat ums Wort.
„Es wäre Feigheit, sich von Fellert die Freude an unserer Kraft verderben zu lassen. Als Meister zahlte gerade er seinen Gesellen weniger als der Vertrag vorschrieb.
„Sehr wahr! Sehr richtig!" rief die Versammlung.
„Gelernt hat er in der Zeit, wo er von uns weg war, nichts. Sein Gift, seine Bosheit raubt ihm alle Vernunft. Sein Sinnen und Trachten ist nur auf Zerstörung gerichtet. Er glaubt nichts, hofft nichts, weiß nichts! Er ist unbelehrbar vor lauter Niedertracht."
„Ausschließen! Raus mit ihm aus dem Verband!" riefen einzelne.
„Nein, Kollegen, wir wollen duldsam sein! Trotz seiner schlechten Eigenschaft, kann er uns doch nützen. Betrachten Sie ihn immer nur als warnendes Beispiel, und lernen Sie von ihm, wie ein vernünftiger, gemeinnütziger Mensch nicht handeln darf."
Fellert drohte zu Albert hinauf und rief ums Wort.
Die Versammelten aber forderten stürmisch Abstimmung über den Vertrag.
Unter wüsten Drohungen gegen den Vorstand verließ Fellert mit einem Anhang von zehn Kollegen den Saal, als alle anderen die Hände erhoben für den Vertrag.
Flügellahm mit gebrochener Kraft lag nun der so kampflüsterne Schutzverband der Holzindustrie am Boden. Ein Zurückdrängen der Holzarbeiter bedeutet eine Niederlage für uns alle, sagten sich die Arbeiter im Lande. Somit standen sie wie ein Mann hinter den bedrohten Kameraden, um die Aussperrung durch einen mächtigen Generalstreik abzuwehren.
Nun ließ es sich auf Jahre hinaus friedlich arbeiten. Ganz automatisch erhöhte sich der Lohn und verkürzte sich die Arbeitszeit von Jahr zu Jahr. So war der langsame Aufstieg gesichert.
Albert schritt in Gedanken versunken dem Bahnhofe
zu.
„Hast es brav gemacht, Junge; dem Burschen musste endlich mal das Handwerk gelegt werden!" Der Pommersche Karl war es, der hinter ihm ging; seine kleine Frau hing fest angeschmiegt an des starken Mannes Arm. Karl war seit einigen Jahren Werkführer in einer großen Fabrik. Wollte er diesen Posten als ehrlicher Kerl verwalten, dann mussten die Gesellen unter guten, festgelegten Bedingungen arbeiten. „Glaubst du's: so bringen wir auch bald die technische Seite der Betriebe unter unseren Willen."
„Ja, gewiss, wir sind auf dem Wege zur Demokratie in der Fabrik. Es hängt eins am andern. Die Arbeit ist auf dem Marsche zur Freiheit."
Albert fühlte sich grob zur Seite geschoben. „Mach Platz, du, sonst trete ich dich in den Dreck!"
„Flegel, nimm dich in acht!" fuhr Karl dazwischen und wollte Fellert zu Leibe, der hastig ausschritt. Die kleine Frau aber hielt ihn resolut zurück.
„Wir sprechen uns heut noch", drohte Fellert auf Albert.
Karl nahm kurz Abschied. Alberts Zug fuhr schon in die danebenliegende Bahnhofshalle ein. Die elektrischen Bogenlampen blinkten wie müde Augen im trüben Dunst der weiten Halle. Die Fahrgäste nickten schläfrig. Auch Albert überfiel bald ein leichter Schlummer.
Er schrak auf, als der Zug das vierte Mal anhielt. Er war am Ziel. Schnell lief er die Stufen zum Ausgang hinunter, um die vor ihm huschende Gestalt zu erkennen. Ach, Unsinn, dachte er, als er sah, wie sie um die Ecke verschwand.
Ein Weilchen stand er still und sah zum Himmel. Er entschied sich für den Weg durch den Park und übers freie Feld, der an den Gärtnereien vorbei hinaus zur Genossenschaftskolonie führt. Diesen einsamen Weg wählte er meist, wenn er im Dunkeln seinem Heim zu schritt. Was ihn sonst nur als unklares Gefühl durchzog nahm hier in stiller Finsternis klare Gestalt an. So schritt er auch heut andächtig seinen Gedanken nachhängend durch die süßlich duftenden Hyazinthenwellen, die aus Blumengärten herüberwehten.
Da — aus dem tiefer liegenden Tor der Gärtnerei stürzte es plötzlich hervor und ein mächtiger Stoß schleuderte ihn auf die Mitte des Weges. Rasch hieb er mit dem Regenschirm auf die Gestalt ein, dass die Krücke zersplitterte. „Du Hund, sollst doch einen Denkzettel haben," keuchte es auf ihn los. Ein Ringen begann. Mit wütendem Gebell sprang der Wachhund am Gartentor hoch. Ein Lichtstrahl fiel auf die Ringenden. Albert erkannte jetzt deutlich Fellert, der ins tiefe Wagengeleise gestolpert unter ihm lag.
„Lassen Sie ab, oder ich lasse den Hund frei!" rief der Mann im Torrahmen.
Fellert ergab sich. Albert sprang zu dem Alten hin­über, in dem er den Gärtnereiwächter erkannte.
„Mit Messern haben Sie sich wohl bearbeitet," wies der Wächter auf Alberts Hand von der im Laternenlicht das Blut tropfte.
Albert schilderte den Überfall, wobei ihm der Alte das Taschentuch fest um die Wunde am Oberarm band.
— Die Verletzung war ungefährlich; der Stich saß in der rechten Armmuskel. „Ein paar Tage Ruhe wirst du wohl vertragen können," sagte Agnes, als Albert, gegen den Willen des Arztes, seiner Beschäftigung nachgehen wollte. „Wir leiden doch keine Not: Dein Gehalt geht weiter und Krankengeld gibt's dazu," rechnete sie.
Wenn er nun allein in der guten Stube über Büchern saß, den Arm in der Binde ruhend, kam öfter das kleine Blondköpfchen die dreijährige Agnes still hereingeschlichen. „Nein, nein, Papa, ich störe nicht, ich mach gar keinen Radau," sagte sie halblaut und trat an die Sofaecke. Dann zog sie den Fenstervorhang fest zu.
„Aber Kind, nun kann doch Papa nicht mehr lesen. Nun ist es doch ganz finster!"
„Puppi hat doch Masern! Musst auch ganz ruhig sein, Papa," sagte sie leise, den Finger warnend erhebend und auf den Fußspitzen zu ihrer Kranken schleichend.
„Hol doch mal ein Glas Wasser, hörst du, Papa?" bat die Kleine, während sie die Fußbank ans Sofa schob und sich neben ihre Puppe setzte.
„Was willst du mit dem Wasser?"
„Na, Puppi muss doch trinken; die kriegt doch Durst beim Schwitzen."
Albert, dem da Spiel gefiel, gehorchte und wandte sich der Tür zu.
„Ja ja, Vaterchen," lachte ihm Mutter Agnes entgegen, die dem Spiel ein Weilchen von der Tür aus zugeschaut hatte, „so will es die kleine Dame haben: einen Diener zu ihrer Puppi."
„Es macht aber Spaß," lachte Albert.
„Spaß? Ja, gewiss, so'n halbes Stündchen, nur nicht den ganzen Tag, und dann dabei arbeiten.
Es klopfte; und hereingepoltert kamen der elfjährige Bernhard und der siebenjährige Willi. Hei, wie die Schulranzen aufs Bücherbrett flogen! Nur schnell waschen und dann zu Tisch, und während Vaters Ausgehstunden mit ihm hinaus in die nahen Wälder und Felder!

*

Siehst du, Vater, ich steh beim alten Petrus gut angeschrieben", sagte Agnes am folgenden Sonntag morgen, beim Ankleiden durchs Fenster schauend.
„Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben," gab Albert zurück und streckte sich noch einmal wohlig in den Federn. Dann warf er beide Beine zugleich über den Bettrand und fuhr in die Hosen.
Agnes öffnete die Balkontür und trat hinaus. Er folgte ihr. Herrgott, beinah' hätt' er's ganz vergessen! Wie frisch und heiter sie heut mit ihren 36 Jahren zwischen den üppiggrünen Blumentöpfen herumhantierte. Von dem über der Straße sich weithinstreckenden Laubenland strömte ein würziger Erdhauch herüber. Sonst regte sich kein Lüftchen. Vom Osten her, hinter den Bäumen des Genossenschaftsparkes, zog die Morgensonne goldendrein hoch. „Hast recht, das ist Geburtstagswetter," sagte Albert, Agnes Rechte mit beiden Händen erfassend. „So möge dir die Sonne das ganze Jahr ins Herz scheinen, damit du immer so heiter ausschaust wie jetzt." Sie erwiderte dankbar seinen Händedruck, indem sie ihm auch ihre Linke hinreichte. Wusste sie doch, wie aufrichtig sein Wunsch gemeint war. Gern hätte sie ihn ein wenig an sich gezogen, indes sie musste aufhorchen: die Kinder begannen sich im Nebenzimmer zu regen. Aber ihm ein Weilchen so recht warm in die Augen schaun, das konnte sie.
Und während beide so standen, begann Musik sanft an ihr Ohr zu klingen. Wie aus der Ferne kam es — nein, es kam von drinnen her. „Lieschen und Bernhard sind es," sagte Albert, „die bringen dir einen frohen Gruß auf Zither und Geige."
Beide ließen sich auf die schmale Bank in der warmen Sonne nieder und lauschten den Tönen. Bald ging die Stubentür auf und alle fünf Kinder kamen heraus auf den Balkon marschiert, Bernhard voran, einen Marsch fiedelnd. Alle beglückwünschten ihre Mutter. Auch Kleinagnes reichte ihr ihr Händchen, wie es die anderen taten, hatte aber die Gratulationsworte vergessen; verlegen ergriff es den Hemdzipfel und steckte ihn in den Mund. Mutter Agnes nahm ihren Liebling hoch und küsste ihm lachend die kleine Sorge weg.
Immer wieder ging es heut Agnes durch den Kopf, wie traurig so mancher ihrer Geburtstage verlaufen war. Nun geht es wohl doch aufwärts, dachte sie. Albert hatte ja immer gesagt: Lass nur, wenn sich das ganze hebt, bleiben wir gewiss nicht unten. Und heut war sie wieder so recht voll froher Hoffnungen.
Bernhard und Willi konnten das Mittagessen gar nicht erwarten. Kaum hatten sie den Löffel weggelegt, liefen sie, die kleine Agnes an den Händen führend, unter blühenden Obstbäumen die Genossenschaftsallee hinunter. An der Haltestelle der Straßenbahn hielten sie Ausschau nach Familie Maiwald, auf deren Besuch Vater und Mutter heute bestimmt rechneten.
„Sapperlot, sind die fein!" rief Angnes ihren Leuten zu, als sie Maiwalds von weitem kommen sah." „Ja, das sind moderne Menschen: einen hübschen Buben und ein dralles Mädel dazu; und dann dieses Gehalt. — O ja, so lässt sich's schon leben."
Es war aber nicht Neid, der aus Agnes sprach; nein, diesen Menschen gönnte sie das Beste von ganzem Herzen.
„Nein, dass es dich gerade treffen musste — dieser blödsinnige Überfall, — dich unerschütterlichen Optimisten, das sieht ja beinah aus wie eine Schickung!" Mit diesen Worten reichte Emil seinem Freunde die Hand.
Der lachte: „Ja, was hilft es, mein Lieber, solange aber das Böse noch da ist, will es sich auch irgendwo äußern, und da es der Sache nichts mehr anhaben kann, rächt es sich an einzelnen Personen, die der Sache nahe stehen."
„Obwohl ich die Sache anerkenne, vermag ich doch nicht einzusehen, warum man sich so in den Strudel hineinstürzen und am Ende noch sein Leben aufs Spiel setzen muss!"
„Die Sache ist ja gar nicht so schlimm — eine glatte Fleischwunde.  In drei Tagen bin ich wieder im Geschäft."
„Na ja, bist eben noch mal glücklich davongekommen."
„So ist's recht, Herr Maiwald, sagen Sie ihm ordentlich Bescheid. Ruhe gönnt er sich schon gar nicht mehr: Versammlungen, Sitzungen und Vorträge, das reißt nicht ab. Und bleibt er mal einen Abend zu hause, sitzt er und studiert in Büchern bis in die tiefe Nacht hinein.  Wie lange soll er das aushalten; er kommt doch nun in die Jahre, wo er mehr der Ruhe bedarf." Agnes sagte es mehr mütterlich sorgend als tadelnd.
„Ich begreife Ihren Eifer sehr gut, Herr Weigert," nickte Frau Maiwald zu Albert hin. „Ich habe von Klara Bücher gelesen, die einen in die schöne Welt des Sozialismus hineinführen. Das gibt einem doch ein Ziel! Man weiß doch, für was man lebt!"
„Ja ja, aber das ist doch kein richtiges Familienleben so," erwiderte Agnes mild, aber bestimmt. „Die Kinder fragen mich immer: kommt Vater heut nach Hause? Bleibt er heut bei uns? und so. Ich denke mir, bei den vielen Kindern, kann ein Vater seine Weisheit schon anbringen. Ich weiß manchmal nicht, wohin vor allerhand Fragen, auf die ich keine Antwort finde. Er hat es ja jetzt in den paar Tagen gesehen, was einem die Kleinen schon alles zu schaffen machen. Na, und den Großen, den tut es erst recht Not, sie auf den rechten Weg zu bringen."
Emil klopfte Albert auf die Schulter, der sinnend da saß. „Hörst du, Freundchen? Also, warum in die Ferne schweifen, wo dir dein Arbeitsfeld so nahe liegt!"
„Schon gut, ich verspreche Besserung," sagte Albert.
Zither- und Geigenklänge drangen aus dem Hinterzimmer herein.
Alle horchten auf.
„O, das ist schön, das gibt andere Stimmung!" rief Lucie, der die Spannung unbequem war.
„Es verscheucht die Alltagsschwere," fügte Albert hinzu.
Still zuhörend sahen alle hinaus in den klaren Sonnenschein....
Ja, soweit fühlen  wir  uns  recht  glücklich  hier draußen," unterbrach Agnes das Schweigen. „Aber?" forschte Lucie.
„Mein Mann nimmt sich die Zukunft anderer Menschen zu sehr zu Herzen."
Lucie entgegnete: „Ich kann manchmal auch nicht recht froh werden, wenn ich über all die Ungerechtigkeit in der Welt nachdenke.  Und selbst Schönfeld sagte neulich: ein
denkender Mensch könne sein Leben heut nicht so recht genießen."
„O, das ist gut so, das freut mich," sagte Albert heiter.
Lucie sah ihn groß an: „Sie sind grausam."
„Grausam? Es mag so scheinen — oder wenn ich es gar bin, nun gut — dann ist es mir ein Genuss, so grausam zu sein, und mich zu freuen, weil andere die Ungerechtigkeit der Welt fühlen."
„Ja, sehen Sie," sagte Agnes leicht bedauernd, „so ist mein Mann: was andere für schlecht halten, hält er für gut, was andere unglücklich macht, macht ihn froh; und dieses ist es, was ich an ihm nicht verstehe."
„Aber Mutterchen, es liegt mir durchaus  fern,  heut über Dinge zu reden, die dich betrüben."
„Sprich nur, sprich — meinetwegen — ich weiß ja, dass du nur das Beste willst."
„Ich möchte auch gern eine nähere Erklärung haben," drängte Lucie.
„Kinder, dazu wollen wir uns aber hinaussetzen, das Wetter ist ja so prächtig!" sagte Agnes und trug Stühle auf den Balkon.
„Nanu bitte, los, los!" Lucie trat ungeduldig mit dem Fuß auf, als Albert noch lange an seiner schiefgebrannten Zigarre sog, und mit Emil hinuntersah zu den Leuten, die emsig auf ihrem Laubenland umherhantierten.
„Die da machen sich, glaub ich, keine Gedanken über die Leiden anderer Menschen," bemerkte Emil.
„Du irrst," entgegnete Albert und setzte sich zu den Frauen. „Das sind alles besser gestellte Arbeiter und kleine Beamten. Ich kenne sie: alle sind gut organisiert. Gehören auch alle unserer Genossenschaft an. Die halten aus innerster Überzeugung fest zur Bewegung und finden ihre Befriedigung in der Mitarbeit an ihr. Sie hätten es nicht nötig, sie haben alle ihr gutes Auskommen, aber weil sie wissen, es geht Millionen Menschen schlechter als ihnen, deshalb setzen sie ihr Mitgefühl in die Tat um. Dies Gefühl ist es ja auch, das sich bei vielen Reichen in Wohl tun äußert; mit der Zeit wird es manchen dazu treiben, mit uns die Ungerechtigkeit aus der Welt zu verjagen, denn wen dieses Gefühl einmal gepackt hat, den lässt es nimmer los.
Darum bin ich so grausam, mich der Unruhe der Wohlhabenden zu freuen."
„Sie meinen also: ein jeder, der nicht mit Hand anlegt, um die Welt sozialistisch gestalten zu helfen, versündige sich gegen sich und andere?" fragte Lucie.
„Ja, so mein ich's."
„Wir sind ja nicht reich," sagte Lucie. „In welcher Art sollten wir nun mit eingreifen?"
„Das will ich dir sagen, Lucie," kam Emil seinem Freunde zuvor: „Du musst Mitglied des Frauenwahlvereins werden und mindestens ein halbes Dutzend Versammlungen oder Sitzungen wöchentlich besuchen.  Und ich muss mich wieder der Partei und der Gewerkschaft anschließen. Dann müssen wir in die Genossenschaft eintreten und alle unsere Bedürfnisse, von den Streichhölzern bis zur Pelzgarnitur, durch sie befriedigen. Und am Ende müssen wir uns noch in die Freireligiöse Gemeinde und in die Freie Volksbühne aufnehmen lassen; dann wird sich die innere Ruhe und Zufriedenheit bei uns schon einstellen."
Dieser Ton schmerzte Albert. Er sah seinen Freund fast wehmütig an. Dass dieser in den letzten Jahren seine ganze Kraft dem Geschäft gewidmet und sich von der Bewegung abgewendet hatte, wusste Albert wohl, aber dass er auch mit seinem Innern der Sache schon soweit entrückt war, hatte er nicht geahnt. Im Geschäft achtete Albert Emil als Vorgesetzten; sie besprachen da nur geschäftlich notwendige Dinge. Albert hatte sich auch jegliche Bevorzugung verbeten, die sich etwa auf das Freundschaftsverhältnis zurückführen ließe. Oft genug hatten ihm seine Kollegen einen solchen Verdacht im Zeichensaal fühlen lassen, als er vor Jahren auf Emils Einladung ein Cafe besuchte, wo ihn ein Zeichner, in Begleitung des Betriebsleiters gesehen hatte. Seitdem schlug er auch Emils Einladungen zu häuslichen Besuchen aus; nur die Frauen besuchten sich hin und wieder. Und nur durch Alberts Kranksein war der heutige Besuch zustande gekommen.
Da Albert seinen Freund, der einst sein leuchtendes Vorbild gewesen, im Grunde des Herzens für einen guten Kerl hielt, wollte er die Gelegenheit wahrnehmen und alles versuchen, um ihn für die Bewegung wieder zu gewinnen.
„Nein, nein, Albert, verlass dich darauf," fuhr dieser fort, „du erhoffst zu viel von den Menschen."
„Zuviel erhoffe ich? Na, spürst du denn nicht, wie schon vieles anfängt sich zu erfüllen? Nur wollen, wollen müssen die Menschen!"
„Herr Weigert ist doch tiefer in das Ganze eingelebt als du," sagte Lucie, der der strenge Ton der Männer nicht gefiel.
„Lesen, beobachten, und nachdenken muss man; Gegenwart und Vergangenheit vergleichen, dann erkennt man schon den Fortschritt," sagte Albert mit Nachdruck.
„Hörst du, Lucie, alles Dinge, zu denen ich jetzt weder Zeit noch Ruhe habe."
„Zeit? Nein, mein Freund, dir fehlt mehr: dir fehlt der Glaube!"
„Gewiss, das geb ich gern zu, weil ich eben die Menschen kenne!"
„Mann, sag an," warf Lucie ein, „warum legtest du dich denn früher so ins Zeug für die Arbeitersache, wenn du nicht an eine Besserung glaubtest?"
„Weil ich hoffte, wir würden bald stark genug sein, um die kapitalistische Wirtschaft aufheben zu können!"
„Aufheben, Umstürzen, Zertrümmern! Nichts als leerer Schall," fuhr Albert fort. „Der Sozialismus kommt doch nicht etwa, weil ihn ein Marx, Engels und andere haben wollen, sondern, weil er kommen muss. Sein Anmarsch kann gehemmt werden, doch um so weiter schnellt er dann vorwärts, sobald die Hemmung überwunden ist. Die Bewegung ist nur eine Sucherin nach gangbaren Wegen, damit er beim Vorwärtsdringen nicht Nützliches zerstampft, vernichtet; und räumt Hindernisse hinweg, damit er keine Umwege machen braucht. Aber ebenso wenig lässt er sich gewaltsam vorwärtstreiben.
Es ist eben die große Kunst der Bahnsucherin, genau abzuwägen, wie viel Willenskraft die nachdrängende Volksmasse beseelt."
„Schon gut. Du klagst doch aber selbst immer: die Arbeiter wollen nicht recht mit."
„Leider, nicht wie man es wünscht. Es wird aber mit jedem Tag besser, je mehr sich ihnen der Kern der Bewegung offenbart."
„Kern der Bewegung? Was ist denn darunter zu verstehen?"
„Das will ich kurz erklären, wie ich es von einem Gelehrten hörte: Die heutige Gesellschaft ist wie ein Ei, sagte er, in dem der Keim eines Hühnchens lebt. Dieses zuerst unscheinbare Wesen zehrt täglich immer größere Mengen von dem es umgebenden Stoff auf. Es wachsen ihm Glieder, die immer stärker und stärker werden, und die es lebhaft zu regen beginnt, ganz unbekümmert um die es umgebende Schale. Und eines Tages wird die Schale von dem Druck der starken Glieder zersprengt und — das neue Leben tummelt sich vergnügt in die Welt."
„Der Vergleich ist gut," stimmte Lucie zu.
„Ist gut?" Emil blickte seine Frau kritisch an: „Wäre gut, wenn sich die uns noch fern stehende Volksmasse aufsaugen ließe, wie die Einlasse. Ich weiß doch, wie die Arbeiter über ihre eigene Sache denken: die Opfer sind ihnen zu groß. Und das Ganze bedeutet doch nichts weniger als das Aufgeben jeder Selbständigkeit. Nehmen wir doch das Leben wie es ist!"
„Gut, das wollen wir gleich tun. Wo hat ein Kulturmensch heute noch ein Recht auf absolut selbständiges Handeln? Hängt nicht eines jeden Leben von der Mithilfe vieler anderer Menschen ab? Und müssen nicht selbst unsere Gegner, die im vereinten Willen unserer Bewegung einen Zwang erblicken, auf Schritt und Tritt auf andere Menschen Rücksicht nehmen? Und seien es die Reichsten und Mächtigsten der Erde, niemand kann tun und lassen, was er gerade will. Sei es auf der Straße, auf der Reise, in Versammlungen, im Geschäft, bei der Arbeit, beim Vergnügen, sogar in der Familie steht der einzelne unter dem Zwange ihrer Glieder. Wer heut als ein anständiger Mensch gelten will, muss die Sittengesetze achten, sonst wird er ausgestoßen, und es ist gut so. Denn schweißt nicht die Entwicklung der Wirtschaft die Menschen immer mehr zu einem Gesamtkörper zusammen? Gilt nicht der, der sich den mechanischen Bewegungen der Gesellschaft entgegenstemmt, als rückschrittlich? Hält man nicht jene, die ohne Rücksicht auf andere in den Tag hineinleben, für roh, ungebildet, gefühllos?   Und nun sollen die gemeinnützigen
Bestrebungen der Arbeiterbewegung am Ende nicht zu ertragen sein?"
„Das ist richtig. Aber was du anführtest, wird den Menschen von kleinauf anerzogen, so, dass es ein anständiger Mensch nicht mehr als Zwang empfindet!"
„Das spricht nicht gegen, sondern für die Arbeitersache."
„Wieso denn? Die Arbeiter wollen doch nicht mehr Verpflichtungen — Freiheit, mehr Freiheit wollen sie haben. Unter Freiheit verstehen sie: ein Ausleben, nicht aber ein Fesseln ihrer Neigungen. Zu diesen Neigungen gehört, neben vielen anderen, die schlimmste, die übermächtigste: die Selbstsucht. Darum glaube ich nicht mehr an die Sache."
Bedächtig strich Albert die Asche von seinem Zigarrenstummel. „Es ist wohl wahr, es gibt noch recht arge Selbstlinge, die alles frühere vergessen, sobald ihnen das Glück ein wenig zulächelt. Bei näherem Zusehen lässt sich auch das begreifen. Mit dem Recht auf Arbeit, das ich für die Grundlage aller Sittlichkeit erachte, werden auch die Arbeiter bessere Menschen."
„Triffst arg daneben, lieber Freund! Du weißt doch ebenso gut wie ich, wie sie unter günstigeren Lebensbedingungen ihre einstigen Ideale meist sofort übern Haufen werfen!"
„Ja, gewiss. Aber erstens lässt das fortwährende Ringen um Arbeit und Brot gute Eigenschaften nicht so leicht aufkommen und zum andern fürchten die vom Glück Begünstigten ein Zurücksinken in ihre alten, unsicheren Lebensverhältnisse wie die Hölle und halten darum an der besseren Stellung, die ihnen andauernd Brot bietet, fest, wie ein wildes Tier an seiner Beute."
„Nun, rede was du willst, Albert! Gerade was du eben sagtest, beweist, dass die Bewegung die Arbeiter noch gar nicht gebessert hat und, dass sie das Große und Schöne, das im Sozialismus steckt, eben nicht wollen."
„O doch, alle wollen es, außer den oberen Zehntausend; nur der Weg ist den meisten zu beschwerlich; alle möchten gleich reife Früchte ernten. Das geht ebenso wenig wie beim Ackerbauer. Es kostet alles Mühe und dauert seine Zeit.  Und wenn der Bauer im Frühling den Acker bestellt, ihn mit übel riechender Jauche und mit Dünger vermischt, wenn er den Samen ausstreut, dann halten sich Vorübergehende die Nasen zu und beschleunigen ihre Schritte. Gehn sie aber im Sommer vorüber, wenn alles grünt und blüht, hemmen sie ihre Schritte, möchten Tag und Nacht dort verweilen; und wenn die Früchte reifen, greifen gern alle mit beiden Händen zu."
„Sehr gut, Herr Weigert," sagte Lucie, die aufmerksam zuhörte.
„Du sagst: sehr gut, mein liebes Frauchen," warf Emil ein. Nur fürchte ich, die meisten kehren um für immer, nachdem sie die mühsame Arbeit gesehen und den Dung gerochen haben!"
Albert sog an seiner Zigarre, als nähre er damit seine Gedanken, dann begann er wieder: „So wie der Landmann Vertrauen zu seinem Acker, zur Natur, hat, so müssen wir den Menschen vertrauen. Kurzum, wir müssen an die Erfüllung des Sozialismus fest glauben."
„Glauben, glauben, immer wieder das alte Wunderkind," warf Emil geringschätzig ein. „Wissen führt zur Erkenntnis!"
„Allem Wissen und aller Erkenntnis eilt der Glaube voraus."
„Der weiß, braucht keinen Glauben!"
„Richtiger gesagt: was man weiß, braucht man nicht glauben," ergänzte Albert. „Denn vertrauen, hoffen, glauben müssen wir alle, einer mehr, der andere weniger, sonst packt uns Verzweiflung. Und ich glaube an die Veredlung der Menschheit und damit an den Sozialismus."
„Ich kann's nicht!"
„Auch du kannst es. Nehmen wir mal an, unsere Vorfahren hielten sich vor zwei-, dreitausend Jahren für ebenso unverbesserlich, wie es leider die meisten Menschen heut noch tun. Und stellen wir nun ihre geistige Verfassung und deren Auswirkung dem heutigen Geistesleben gegen­über, so kannst auch du den Fortschritt zum Guten nicht leugnen."
„Das wohl nicht."
„Na also. Was hindert dich nun, zu glauben: es müssen sich in zehn, zwanzig, fünfzig Jahren die Menschen wieder um vieles gebessert haben?"
„Sehr richtig, Herr Weigert, bravo, bravo!" rief Frau Maiwald lachend. „Wieder mal reingefallen, mein liebes Männchen!"
„Geb ich zu," gestand Emil. „Es freut mich, dass dich unsere Unterhaltung nicht langweilt."
„Ih, im Gegenteil: mich drängt es, immer mehr zu wissen. Gerade über Sozialismus und Glauben, das ist mir ja so neu," sagte Lucie wissbegierig.
Grübelnd sprach Albert weiter: „Ja, die Gegner mögen noch mehr drehn und deuteln, es gibt eben nichts Stichhaltiges, was gegen den Sozialismus spräche. Wenn sich man erst die Arbeiter noch mehr bemühen möchten, um unsere kraftvolle Bewegung weit über den Magen hinaus zu erheben. Denn um leichter Nahrung zu erlangen, halten ja auch die Tiere zusammen in Schwärmen, Rudeln und Herden. — Da fällt mir soeben eine Geschichte ein, die ich als junger Handwerksbursche erlebte. Und wenn du ein wenig still hältst, Freund Emil, dann will ich sie rasch erzählen."
„Los, los, Herr Weigert, den halt ich schon in den Zügeln!" sagte Lucie.
„Es war auf der Hauptstraße von Liegnitz nach Breslau, wo ich an einem trüben Sommertage mit einem kleinen Flinsberger Schlosser auf Schlesiens Hauptstadt losmarschierte. Nach dem üblichen Woher und Wohin liefen wir schweigend nebeneinander und freuten uns der wogenden Kornfelder, über die der Wind den Blütenstaub dahin trieb. An einer Wegkreuzung trafen wir mit einem Gärtner und noch einem Tischler zusammen. Mein Berufskollege, der Tischler, hatte ein bewegliches Mundwerk, er fragte mehr, als wir drei beantworten konnten. Dem Schlosser merkte ich's an, er war der vielen Fragerei bald müde und hielt sich immer einige Schrittlängen voraus. Plötzlich stieß der Gärtner eine Hand seitwärts in die Luft. „Seht. Da, da!" rief er. Ein Schwarm Krähen flog und schrie wirr und erregt durcheinander. Knäuelartig ballten sie sich zusammen, Federn stoben im Winde und ein schwarzer Körper löste sich' aus dem Schwarm und plumpste zur Erde.
Wir setzten über den Straßengraben. Ein Taubenhabicht lag blutend am Boden, der noch sterbend in Kampfeswut mit den Fängen zuckte, während sich die
Krähen im Triumphgeschrei über den nahen Kiefernforst verteilten."
„Das sah ich öfter bei meiner Arbeit," sagte der Gärtner. „Gegen die schwarzen Räuber kommt der stärkste Habicht nicht auf; wenn er nicht flüchtet, kostet es sein Leben."
Wir ließen uns am Wegrand nieder, um ein Weilchen zu verschnaufen. Der Gärtner stocherte nachdenklich mit dem Stock in einem Maulwurfshaufen und sprach bedächtig weiter: „Ja, man kann so manches von den Tieren lernen. Wenn Hirsche oder Rehe am Abend in Rudeln grasen, da merkt eines auf, lässt einen dünnen Pfiff ertönen und hallo! schon sind alle im schützenden Gebüsch — und des versteckten Jägers Schuss geht in die Luft! — Eines Tages stieß ich beim Umgraben einer verasteten Hecke auf ein Hummelnest. Einzelne dieser graugelben Tierchen umsummten mich erregt, ich schlug sie mit dem flachen Spaten nieder. Ihr Honig zog mich an. Mein älterer Kollege stand ein wenig seitwärts und beobachtete mein Wagnis, ein tiefer Spatenstich und der warme Bau mit dem von Hümmein bedeckten Honigklumpen lag frei. Sie fuhren auf mich los. Ich schrie, schlug um mich und rannte in niedriges Strauchwerk, was meine Rettung war. Mein Kopf schmerzte fürchterlich und schwoll an wie ein gefüllter Mehlsack."
„Geht's dir nun auf, worin die Kraft der Schwachen liegt?" lachte mein Kollege, als er mir die Stacheln aus dem Gesicht zog.
Ich wusste nur zu gut, was er damit meinte. Oft genug hatte er uns jungen Burschen den Weg zur vereinten Abwehr gewiesen, wenn wir uns abends auf unserer dunklen Schlafkammer in allen Tonarten über die gemeine Behandlung des brutalen Gutsverwalters beklagten, und dabei allerhand Rachepläne aussannen.
Am darauffolgenden Zahltag ging ich mit meinem Kollegen zur Stadt und ward Mitglied im Fachverein.
„Herrjeh, soviel Kinkerlitzchen waren bei mir nicht nötig," brüstete sich der Tischler. „Ich bin sozusagen hineingeboren in den Gewerkverein. Mein Vater war eines der ältesten Mitglieder in Görlitz und meine Brüder waren auch drin. Da hab' ich's bald klein gekriegt, wie vorteilhaft es ist, von der Wiege bis zum Grabe unterstützt zu werden.
Wenn man nicht gerade zu ville Glück mit Arbeit hat, ist es 'ne ganz saubere Unterstützungskasse."
„Gewerkverein — Gewerkverein," sprach der Gärtner für sich hin.
„Na, was denn? Der ist besser als dein Fachverein!" fuhr der Tischler auf.
„Lass das, darum wollen wir nicht streiten," wehrte der Gärtner ab, wobei er sich erhob und zum Aufbruch mahnte.
Ein Weilchen war's still. Bald begann der Tischler wieder: „Auf reine Wäsche muss ein jeder halten. Wie steht’s denn bei dir, Katzenkopf, hast du alles in Schuss?"
Der Schlosser nickte bejahend.
„Und du, du kommst erst von Muttern, was?"
Diese Frage galt mir, ich errötete bis unter die Haare.
„Bist woll noch im Jünglingsverein, was? Da gilt ja woll die Bibel als Verbandsbuch."
„Alberne Späße sind das! Ist er darum etwa schlechter als ein anderer?" wies der Schlosser den Tischler zurecht.
„Wer erst mal den Schwarzen verfallen ist, kommt nicht so leicht wieder los, mein ich nur," sagte der Tischler.
„Eine gewöhnliche Redensart, nichts weiter. Ich bin auch sehr fromm erzogen und weiß darum alles Gute der christlichen Lehre zu schätzen," sprach der Schlosser dreist weiter. „Ich achte heut noch strenggläubige Christen viel mehr, als die gleichgültigen, glaubenslosen Freigeister, die so unfruchtbar sind, wie taube Kornähren."
„Ich sag ja, etwas von der schwarzen Lehre bleibt eben immer hängen," wiederholte der Tischler.
„Wenn es nur immer Gutes ist, was hängen bleibt," fuhr der Schlosser fort. „Zum Beispiel: Mein Lehrmeister war ein frommer Mann, und zur Wahlzeit überließ er seine Werkstatt den Sozialdemokraten zur Versammlung."
„Ein sonderbarer Heiliger muss das gewesen sein," lachte der Tischler.
„Was ist dabei sonderbar? Nichts als Gerechtigkeit war es, wo doch kein Gastwirt diese Partei aufnahm."
Der Gärtner, der so lange geschwiegen hatte, fragte etwas neugierig: „Wie kamst du denn von deinem Glauben ab, etwa durch die Versammlungen in der Werkstatt?"
„Nein. Was dort von der Religion gesagt wurde, stieß mich ab. Aber was ich von der Verbrüderung und von der
Hilfsbereitschaft zueinander vernahm, das zog mich an. Übrigens kam ich von meinem Glauben nicht ab, nur ge­ändert hab ich ihn. Und dazu trug wohl verschiedenes bei. Vor allem waren es Bücher von einem Gesellen, der in der Schweiz gearbeitet hatte. Und was ich einmal las, das saß, denn ich lese alles mit Andacht, wie ich es von der Bibel aus gewöhnt bin. Wie schlecht es in der Welt für den Armen bestellt ist, erfuhr ich aus einem Buch, das von der Gesunderhaltung des menschlichen Körpers handelte. Aus einem andern Buch erfuhr ich: wie die Erde mit allem was drauf ist, entstand. Dabei ging mir der Himmel mit den Engeln, das Jenseits und zu guter Letzt auch der Glaube an Gott verloren
Dieses beichtete ich eines Sonntags nach der Andachtsstunde, meinem Pastor, und sagte ihm gleich, dass ich diese nicht mehr besuchen werde. Als wir beide allein im Vereinszimmer zurückblieben, ergriff der Pastor meine Hand. „Mein Sohn," begann er, „du bist in deinem Wissensdrang zu weit gegangen. Nun bin auch ich nicht mehr imstande, dich zum Gott im Himmel zurückzuführen. Indes bitt' ich dich, merk es dir und vergiss es dein lebelang nie: dein Gott ist aus dem Himmel auf die Erde gestiegen. Suche ihn, rufe ihn, und du wirst ihn finden! Öffne ihm Brust und Herz, und er wird bei dir einziehn! Handle gegen deine Mitmenschen stets nach christlichen Grundsätzen! Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Tue andern das, was du wünschest, dass es dir getan werde! Sieh im Bösen und in den Schwächen anderer deine eigenen Fehler! Also: schau in deine Mitmenschen wie in einen Spiegel, in dem du dich selber erblickst. Meistere deinen Willen, unterdrücke deine Leidenschaften! Und bedenke stets: der Stärkste ist der, der sich selbst bezwingt! Achte auf dich, ob du auch immer nach den Grundsätzen lebst, die du andern als Richtschnur geben möchtest; denn die wirksamste Lehre ist das gute Beispiel! Vereinige dich mit den Leidenden und Schwachen zum Kampfe gegen das Unrecht der Mächtigen und Reichen; werde indes nie selber ungerecht! Indem du die Ärmsten aus ihrem leiblichen und geistigen Elend mit dir emporhebst, verhilfst du Gott zu seinem Recht: nach seinem Wohlgefallen unter den Menschen zu weilen und zu wirken! Und lebst und handelst du in diesem Geiste, mein Sohn, draußen in der noch recht bösen Welt, dann wird auch dir der Himmel nicht verschlossen bleiben, obwohl du nicht mehr an ihn glaubst! . . ."
„Des Pastors Worte sind mir ein Evangelium geworden. Als ich kurze Zeit darauf Flinsberg verließ und in Hirschberg Arbeit nahm, trat ich sofort dem Verband der Metallarbeiter bei."
„Da gehörst du wohl auch schon zu den Sozialdemokraten?" fragte der Tischler etwas spitz.
„Das weiß ich nicht. Soweit ich ihre Grundsätze kenne, bin ich mit ihnen einverstanden. Sicherlich erhalten sie meine Stimme, sobald ich wählen darf, und ich werde mich ihnen anschließen, sobald ich Gelegenheit dazu finde."
Albert machte eine Pause. „Weiter will ich jetzt nicht erzählen," schloss er, als er sah, wie alle drei noch still lauschten, in der Erwartung, die Geschichte gehe noch weiter.
Lucie richtete sich auf: „Das war schön." „Ja, besonders das, was der Pastor sagte," bestätigte Agnes.
Darauf kam es wohl auch unserem gottesleugnerischen Erzähler lediglich an," lächelte Emil.
„Ganz recht," erwiderte Albert. „Aber nicht, weil es ein Pastor sagte, sondern weil mir gerade der Sinn seiner Worte immer mehr zur Richtschnur in der Bewegung wird. Obwohl dieses Erlebnis damals, in meinem jungen Gemüt unter hunderterlei neuen Eindrücken vergraben wurde, schiebt es sich jetzt immer deutlicher hervor, wie es mir auch mit vielen anderen Dingen aus meiner Jugendzeit ergeht, die ich schon ganz der Vergessenheit überließ. Mein Gedächtnis erscheint mir mitunter wie eine alte Bodenkammer, in der so manch Wertvolles verstaubt und vergessen liegt. Zuweilen tut sich in meiner Gedankenbahn hie und da eine Lücke auf. Herrgott, dann geht's ans Grübeln und Suchen, und groß ist die Freude, finde ich dann solch passende Gedanken, die immer klarer und reiner unter dem Zeitenstaub hervorblinken. Manchmal kommt mich dann gar so ein wenig Stolz an, als habe ich das Gefundene; neugeschaffen, indes fällt es mir ein, dass ich zur Zeit nur noch keine Verwendung dafür hatte und es beiseite legte zu den hunderterlei anderen Dingen."
„Unter solchen Beschwerden hab' ich nicht zu leiden," sagte Emil, das brennende Streichholz an Alberts erloschene Zigarre haltend. „Bei mir spazieren derartige Gedanken einfach durch den Kopf, lassen sich allenfalls ein Weilchen nieder, wie zur Erholung, und verschwinden dann sacht, ohne eine Spur zu hinterlassen. Wenn ich von dem, was ich erlebte und früher las, auch nur den zehnten Teil wüsste, könnt ich heute Professor sein."
Die Frauen lachten.
Albert sagte: „Ja, so ist es leider. Viel zuviel lesen die meisten Menschen. Und weil sie eben nur lesen und das Gelesene nicht verarbeiten, wirft es kein Licht in die Köpfe. Denkt man die Gedanken aber selber um, so erhalten sie bald den ursprünglichen Glanz wieder, den sie hatten, als sie einst im Kopfe eines großen Denkers entstanden. Und wer sie dann in sich aufbewahrt, findet auch gelegentlich Verwendung für sie."
„Was um alles in der Welt haben denn diese philosophischen Betrachtungen mit der Arbeiterbewegung und dem Gottesglauben zu tun?" fragte Emil ungeduldig.
„Verzeihe. Das Programm, das der alte Pastor dem jungen Schlosser mit auf den Lebensweg gab, ergreift mich eben immer wieder so stark, und in einem Weg könnte ich ergänzend davon reden, so gedankenreich ist es. Und immer fester packt mich der Glaube: Eines Tags müssen sich die meisten Menschen in dem Strom der mächtigen Volksbewegung zusammenfinden. Ja, sie müssen hinein, eine Schicht nach der anderen, bis auf einen kleinen Rest ganz boshaft Verstockter. Viel innere Kraft wird in den Menschen frei, seitdem die Wissenschaft den Gottesglauben immer weiter zurückdrängt. Und sie wird immer mehr in der großen Menschheitsbewegung aufgehen, die aus der Arbeiterbewegung emporwächst. „Du hast Gott vom Himmel heruntergeholt, damit er unter den Menschen wirke," sagte der alte Geistliche zum jungen Schlosser. Als eine Erlösung, als eine Vertiefung und Bereicherung, ja als eine Beseligung des Lebens werden es die Menschen empfinden. Ihr Leben erhält Inhalt. Durch gemeinsames Fühlen, Denken und Handeln mit ihren Volksgenossen wird das Höchste, das Göttliche in ihrer Brust zu neuem Leben erweckt: die Liebe.  Aufrecht, furchtlos und im Herzen friedlich werden
alle zueinander stehen, sobald sie der Stimme ihres Gewissens folgen." Albert schwieg.
Still war's eine Weile.  In sich gekehrt saßen alle da.
„Bist du es nun innegeworden, wie es um uns steht?" fragte Lucie zu Emil gewendet.
„Ja, wir haben vieles gut zu machen."
„Wie Ihr es empfindet, so ist es", sagte Albert sicher
„Jetzt erinnere ich mich," sprach Lucie weiter: „Wie oft überkam uns schon so ein Nichtigkeitsgefühl, als ob unser Leben gar keinen Sinn habe, was uns beide immer sehr unzufrieden stimmte. Und nur die Aussicht auf's steigende Gehalt und somit auf neue Lebensgenüsse tröstete uns über die Öde hinweg."
„Und wenn ihr das Neue durchgekostet hattet, dann bereitete euch euer Gewissen wieder frischen Katzenjammer, und so ging's weiter," ergänzte Albert. „Nein, da gibt es keine andere Erlösung, als mitzuhelfen an der Entwicklung zum höheren Menschentum, dann kommt Freiheit, Freude, innere Ruhe und Seelenfrieden in uns."
Emil erhob sich, reichte seinem Freunde die Hand, während seine Worte in fröhlichen Kinderstimmen untergingen.
„Mutter, Mutter, Vater!" Willi und Bernhard kamen ins Zimmer gepoltert und riefen auf den Balkon hinaus: „feiner Besuch kommt mit einem Auto!" und schon stürmten sie wieder die Treppe hinunter.
Die Männer traten ans Geländer und schauten hinunter. Richtig, da umstanden die Kinder ein blitzblankes Fahrzeug, dessen Führer eben die Tür zuschlug.
Agnes eilte, die Fremden zu empfangen.
Zur Tür herein trat eine Frau, die Wohlhabenheit ausstrahlte und Agnes einen großen Blumentopf entgegenstreckte. Still wie ihr Schatten folgte ein kleiner, rundlicher Mann, der eine Pappschachtel trug. Beide beglückwünschten Agnes wie alte Bekannte, trockneten sich den Schweiß vom fetten Gesicht und klagten über die drückende Schwüle und das beschwerliche Treppensteigen.
Erst nach längerem Betrachten erkannte Albert die Gellfertleute wieder. Und Agnes musste lange die stattliche Vierzigerin betrachten, ehe sie eine Spur von der einstmaligen armen Frau Manske an ihr entdecken konnte.
Gestern bei der Geburtstagsfeier ihrer jüngsten Tochter Elli war es ihr eingefallen, dass tags darauf Agnes' Geburtstag sei. Und nun wollte sie, wie sie sagte, nur einmal in aller Eile heraufschauen; zur Abendzeit müsse sie wieder im Geschäft sein. Jetzt am Tage, wo nur wenig zu tun sei, versehe es Elli allein. Wenn man nicht die Müdigkeit das arme Kind übermannen möchte. Bis fünf Uhr früh hätten sie gefeiert, dann wäre Elli mit ihrem Herrn noch per Auto in den Grunewald gefahren und erst am Mittag todmüde heimgekehrt.
Agnes zog Lieschen leicht am Arm hinüber zur Küche, um den Kaffee zu bereiten. Auf des Mädchens Fragen gab sie ausweichende Antworten. Auch Lucie kam heraus und fragte. Mutter Agnes nötigte sie, mit einem Seitenblick auf Lieschen, zum Schweigen und sagte nur: „Im feinen Viertel haben sie ein Geschäft, weiter weiß ich auch nichts."
Lucie trat wieder zurück ins Zimmer und bewunderte weiter die auffällig gekleidete Frau, an der es von Gold und geschliffenen Steinchen glitzerte — auch zwischen ihren Zähnen funkelte Gold. Bald spielten die fleischigen Finger an der langen goldenen Uhrkette, bald zogen sie an dem Perlenhalsband und legten den goldenen Schmuck auf dem starken Busen zurecht, wie auf einem Kissen.
Emil aber dachte: Allewetter, was hat das Weib aus dem Kerl gemacht! Man müsste schon die Fettwulst, die sich von Gellferts Kinn bis zu den Ohren hinzog, wegdenken, wollte man sich seines früheren Aussehens erinnern. Die rotglänzende Nase saß ebenfalls zwischen Fettpolstern und schien kleiner geworden zu sein.
„Wie gemästet siehst du aus," lachte Emil.
„Ich fühle mich aber sauwohl dabei," erwiderte Gellfert, sich behäbig in die Sofaecke drückend, mit schmalziger Stimme. „Übrigens scheinst du auch nicht gerade an Abzehrung zu leiden."
„Aber ebenso wenig an Fettsucht. Wir leben ganz normal, wie es vernünftigen Menschen zukommt."
„Und wir passen unser Äußeres stets unserem jeweiligen Stande an! — Was Emmi?" fragte Gellfert zu seiner Frau hinüber, die sich mit Lucie in ein Gespräch von der neuesten Sommerkleidermode zu vertiefen begann. „Wenn man Almosen empfängt, kann man nicht wohlhabend aussehen, und wenn man Almosen gibt, darf man kein Mitleid erwecken."
„Ja, lieber Landsmann, Gottes Wege sind wunderbar," spottete Emil. „Manch einen führen sie in Stumpfheit und Leichtsinn zum Glück, und ein anderer erreicht es trotz aller Rechtschaffenheit und allem Verstande nicht."
„Na, ich denke doch, wir haben uns ehrlich durchringen müssen. Ein jeder macht eben das Seine," sagte Gellfert selbstgefällig und reichte seine gefüllte Zigarrentasche mit silbernem Bügel den Männern hin. „Greift zu. Kannst auch deine Hosen ersetzt kriegen," sagte er, zu Emil gewendet. „Ich will jetzt mit allen abrechnen, denen ich Böses getan habe, und auch mit denen, die mir Gutes erwiesen."
„Dann gib die Hosen nur jemandem, dem es eben so ergeht, wie es dir damals erging."
Aber, Kinder, lasst doch das Vergangene; wir wollen alle Gott danken, dass wir die Zeit hinter uns haben", suchte Frau Gellfert das Gespräch abzulenken. „Sie scheinen ja auch über den Berg zu sein, Herr Weigert?"
„Hoffentlich, wenn uns kein Unwetter mehr überrascht."
„Ist das ihre Älteste?" fragte sie, Lieschen beim Decken des Kaffeetisches beobachtend. „Ein Staatsmädel, ganz die Mutter."  Sie schnalzte mit der Zunge.
Lieschen stand mit glühenden Wangen da, ihre hellblauen Augen überflogen noch einmal den gedeckten Tisch, dann huschte sie leicht hinaus, nachdem sie einen Blick ihres Vaters aufgefangen hatte.
Agnes trat ein. Und als alle den anregenden Kaffeeduft einsogen, mischte sich leichte Walzermusik in das Geplauder.
„O, das ist was!" Frau Gellfert war entzückt. „Ihre Kinder? — Ihre Hauskapelle, ja? — Großartig, wirklich großartig!" Sie wiegte sich in den Hüften nach dem Takt der Musik. „Manne!" rief sie. „Wie im Cafe Rosenhain, was?"
Gellfert nickte, wobei sein fettes Kinn wie das eines abgerichteten Ebers wackelte.  Er trank Kaffee in kleinen
Schlückchen oder sog gemächlich an der großen Zigarre, deren Rauch er durch die Nasenlöcher stieß.
„Nun zeig doch mal, Männe, was du in deiner Kiste hast," sagte Frau Gellfert, nachdem der Kaffeetisch abgedeckt war.
Der Kleine stellte fünf Weinflaschen auf den Tisch und bat um Gläser.
Agnes entschuldigte sich: sie sei auf Weintrinken nicht eingerichtet und brachte für jeden ein Wasserglas.
„Ih, was macht das, die alten Deutschen tranken ja das Zeug aus Steintöpfen," lachte Frau Gellfert und goss eifrig die Gläser voll. „Da sollten Sie erst mal unsere Herren sehn, wenn sie auf ihrem Pferd sind, wie heut morgen — aus dem Nachtgeschirr haben sie ihn zu guterletzt gesoffen!  Was, Männe?"
„Guten Appetit! Was sind denn das für Schweine?" fragte Emil ernst.
„Oho, das sind —"
„Schscht!" warnte Gellfert.
„Hab' man keine Angst, ich werd' die Namen nicht verraten. Da sind —" Sie goss erst den Rest des zweiten Glases hinunter. „Kinder trinkt — bei der Hitze gibt’s Durst!" und sie schenkte sich das dritte Glas ein, während die anderen ihr zweites kaum angetrunken hatten. „Also — da sind," begann sie wieder langsam, während ihr Mann ihr scharf in die Augen sah, Grundbesitzer, Landräte, Reichstagsabgeordnete und sogar — Pfarrer sind dabei."
„Haben Sie eine Weinstube?" fragte Lucie.
,Weinstube? nein, — das sind —"
Gellfert richtete sich aus der Sofaecke auf und trat seiner Frau auf den Fuß.
„Das sind — unsere Zimmerherren."
„Ach, Sie unterhalten ein besseres Logis?"
„Ja, Chambre garnie separat, auf Tage und Stunden."
„Auch für Damen?" fragte Lucie mutig weiter.
„Na gewiss, das ist doch die Hauptsache! Kinder, Ihr wisst wohl noch gar nicht, wie es in der Welt zugeht?"
Gellfert lehnte sich resigniert zurück in die weiche Ecke. Hier war jede Warnung nutzlos.
„Tja, was meinen Sie, liebe Frau, schon manch armes Ding hat bei uns sein Glück gemacht. Ach, meine Älteste sollten Sie sehen, die Frieda — Frau Weigert, Sie kenn' sie ja — die hat vor einem Jahr einen Kerl geheiratet, dem gehören fünfzehn Häuser, dazu eine Menge Grundstücke in und um Berlin. — Tja und sie bewohnt eine pikfeine Villa in Schlachtensee. — Das ist ein Waisenmädel! Bloß nicht zach sein, sag ich immer!"
Agnes begegnete sich mit Alberts Blicken. Sie dachten an das arme misshandelte Weib, das damals Abschied nahm von den beiden unschuldigen Kindern.
Gellfert mahnte zum Aufbruch.
Der große Frühlingshut, der einem mächtigen Blumenbukett glich, machte Frau Gellfert um zehn Jahre jünger. Agnes war ihr beim Anlegen des kostbaren Mantels behilflich — alles roch nach dem süßlichen Duft, der in Agnes die Erinnerung an den „Seelöwen" für einen Augenblick wachrief.
„Musike!" rief die Halbtrunkene und mit einer Hand nach ihrem Glase greifend, mit dem andern Arm Agnes umschlingend, stimmte sie ein Hoch auf das Geburtstagskind an. Dann goss sie den Rest des fünften Glases hinunter, während Agnes noch an der Neige des ersten nippte.
Töne eines lustigen Marsches kamen aus dem Hinterzimmer. Frau Gellfert ergriff den Arm ihres kleinen, rundlichen Mannes und schwebte im Tanzschritt, die Musik mitsummend, zur Tür hinaus.
„Gott sei Dank!" sagte Agnes. Auch alle anderen atmeten befreit auf, als sie dem schnell davoneilenden Auto von obenher nachschauten.
„Das ist die alte Welt, die ihrem Untergange entgegenrast," meinte Albert.
Die Kinder kamen die Treppe heraufgestürmt und eins nach dem andern öffnete seine festzusammengekniffene Hand; in jeder lag ein blankes Markstück.
„Hu, das Sündengeld!" Agnes wandte sich angewidert
ab.
„Aber Muttchen!" rief Albert lachend, „so empfindlich wollen wir doch nicht sein.   Geht, Kinder, steckt es in eure Sparbüchsen — nun schüttelt sie tüchtig, dann kennt Mutter das Stück nicht mehr heraus.
„Die Gesellschaft hat uns um die schöne Zeit betrogen," sagte Lucie, nach der Uhr blickend. „Wir wollten uns doch heut gerne mal die Siedlung hier ansehn, von der die Zeitungen vor etlichen Wochen reine Wunderdinge berichteten."
„Da waren es gerade zehn Jahre her, dass wir uns, etwa zweihundert Mitglieder, zusammenfanden und den ersten Genossenschaftsladen aufmachten.  Dabei waren die Holzarbeiter wieder mit an erster Stelle; ich vollendete gerade das erste Viertelhundert," sagte Albert ein wenig stolz. „Und heute seid ihr?" fragte Emil. „Die dreimalhunderttausend mit sechshundert Verkaufsläden.   „Aber kommt, Kinder, ehe es dunkel wird können wir das Ganze vom Dachgarten aus noch flüchtig überschauen. Zu einem Rundgang müsst ihr euch ein andermal schon ein wenig früher einrichten."
Sie stiegen hinauf. Ein Garten auf dem Dache! An beiden Seiten des schmalen Kiesweges hatten die Bewohner kleine Lauben hergerichtet, jeder nach seiner Kunstfertigkeit. Überall kletterten Rankengewächse an dem grün- und weißgestrichenen Gitterwerk hinauf und Frühlingsblumen besäumten in allen Farben die lauschigen Plätzchen. Dies bunte Stillleben zog sich um das ganze Häusergeviert herum. Nur einmal ward es von einem freien Platz, zu dem eine Treppe hinaufführte, unterbrochen. Das Luft- und Sonnenbad. In niederen Holzverschlägen lag reingewaschener Sand, und an den Seiten zogen sich Schutzdächer hin mit Douschen zum Abkühlen der Badenden.
Von hier aus ließ sich das ganze Genossenschaftsgebiet bequem überschauen: Es bedeckte den Flächenraum einer kleinen Stadt. Zwischen jedem Häusergeviert breiteten sich frischgrüne Rasenflächen aus, um die sich Fliedersträucher mit noch nicht ganz erschlossenen Dolden, wie ein dunkelblauer Rahmen zogen. Wege und Stege waren von beiden Seiten in das Rosa blühender Rotdornbäume gebettet. Zwischen den Wohnungen Tausender froher Menschen lag, wie das Herz des Ganzen, ein umfangreicher Park in saftigem Grün. Fröhlicher Gesang und jauchzende Kinderstimmen drangen aus ihm herauf. Es war
die Jugend, die auf dem See gondelnd dahinglitt und auf freien Plätzen Geschick und Kraft bei frohem Spiel übte.
„Seht, dort unten am Fluss," Albert wies in die Ferne, „da, wo die Schornsteine emporragen, dort sind unsere Bäckereien, in denen täglich zweitausendfünfhundert Zentner Mehl verbacken werden. Rechts daneben, das sind die Kornmühlen. Der burgenartige Hochbau mit dem dicken Turm ist das Verwaltungsgebäude. Links davon, am Wasser hinauf, dehnt sich das Zentrallager aus. Die mit Schiefer bedachten Gebäude sind die Schlachthäuser und Wurstfabriken. Die Schuhmacher-, Schneider-, Schlosser- und Tischlereien ziehen sich von den Bäumen verdeckt den Berg hinan. Auch eine Limonaden- und Zigarrenfabrik, eine Kaffeebrennerei und noch vieles andere ist dort eingerichtet. Das ganze wird von Schienenwegen der Staatsbahn, wie ein Körper von Adern durchzogen. Über hundert Kraftwagen speisen die in der Stadt und ihrer Umgebung verbreiteten Verkaufsstellen täglich mit Waren. Und große Ländereien sind am Fluss entlang angekauft. Ingenieure und Techniker entwerfen dauernd neue Pläne. So wächst unser Zukunftsstaat in die alte Gesellschaft hinein."
Noch einmal nahm Emil bewundernd das Bild in sich auf: „Nein, das hätte ich nicht geglaubt... Wie eine Offenbarung von dem unaufhaltsamen Werden der neuen Gesellschaft ist mir das. Wirklich, Albert, ich sehe wie weltfremd ich in dieser Hinsicht geworden war. Aber darf ich denn an etwas anderes denken als an's Geschäft?"
„Deshalb nahm dich Schwager Schönfeld auf, damit er von allem frei wurde," sagte Lucie.
„Ja, er lebt seiner Kunst, — und ich?"
Die alte Gesellschaft führt nur einzelne in freie Höhen; die neue erhebt alle zugleich, in denen Wille und Kraft ist," sagte Albert.
„Aber mach dir nicht zu harte Vorwürfe, mein Freund. Auch du hast mitgeholfen an den Dingen der Zukunft zu bauen. Gerade dir verdanke ich mein neues Wollen."
„Lass das," wehrte Emil ab. „Um so schlimmer ist es jetzt für mich. — Aber ich hole es nach, verlass dich drauf!"
Das junge Paar verabschiedete sich.
Fernes Rollen kam vom Westen her. Die Sonne erstrahlte in doppelter Kraft. Als sie hinter der dunklen Wand versank, stiegen weiße Dampfwölkchen auf, als wenn das schwere Gewölk zu kochen begänne. Die blühenden Obstbäume erschienen wie Schneeberge, und die roten Dächer der Gärtnerhäuschen hoben sich scharf ab vor dem dunklen Grunde. Maiwalds winkten immer noch einmal hinauf zu den Weigertieuten, die ihnen Abschiedsgrüße nachsandten, ehe die Freunde unter dem Blütendach der Kastanienbäume, welche die Genossenschaftsallee besäumten, verschwanden.

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