Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
http://nemesis.marxists.org

Das Geständnis.

„Ja, ja, leider ist es so", stimmte Emil zu, als ihm Albert von all den Schwierigkeiten erzählte, die er beim Anwerben neuer Mitglieder zu überwinden hatte.
Er kam nicht dazu, sich mit den christlichen Aposteln zu vergleichen, deren Mut und Kraft stieg, je mehr sie bei der Verbreitung ihrer Heilslehre verfolgt und geächtet wurden, denn schon sprach Emil weiter: „Ja, von ferne betrachtet, da mag unsere Bewegung wohl angenehm und groß wirken; wer aber tagtäglich so mitten drin steht, den entmutigt das Rohe, Schlechte und Kleinliche, das einem immer wieder entgegentritt, schließlich doch etwas. — Ich weiß Bescheid, ich kenn das! — Ja, gewiss, aus Zeitungen und überfüllten Versammlungen strömt eine Begeisterung für unser hohes Ziel, die wie ein mächtiger Sturm die alte Gesellschaft bis auf den Grund hinwegfegen möchte! — Aber, aber — sobald man sich gründlich in unsere Reihen umschaut und sich die Genossen einzeln betrachtet — ja, das Verbandsbuch tragen sie wohl in der Tasche, aber ihr Tun und Treiben — o weh, o weh! Um Theatervereine, um Lotterie-, Skat- und Fußballklubs, und sogar um Pferderennen und Weiber dreht sich ihr Leben. — Nein, nein, es steht noch sehr schlimm!"
„Nanu, du bist ja heut mächtig hoffnungslos", sagte Albert verwundert, „du nimmst wohl den Einzelnen zu sehr unter die Lupe?"
„Verlass dich drauf, Albert, wenn man täglich Hunderte von Menschen um sich hat und keinen herausfindet, der es ernst meint mit unserer Sache und der weder unter seinen Kollegen noch in seiner Familie nach unseren Grundsätzen handelt, dann verliert man schon bald den Glauben."
Diese Zweifel nagten immer ärger an Emil, seitdem er in einer großen Maschinenfabrik, weit draußen im Norden der Stadt, als Eisendreher beschäftigt war.
„Magst schon recht haben", gab Albert zu. „Wenn du eben die schlechten Züge aus dem Leben und Treiben der einzelnen herausgreifst, dann wird wohl das Böse das Gute noch weit überwiegen. Man muss eben froh und frei die Gesamtbewegung überschauen, ja man muss sich bemühen, etwas höher zu stehen als der Durchschnitt; und ich sage dir, dann sieht man sogar die Siegesfahnen schon flattern. Wir brauchen uns wirklich nicht um die Zukunft zu bangen: denn auch im Unternehmerlager beginnen sich Kräfte zu regen, die eines Tages alle Arbeiter fest zusammentreiben werden... "
— Hergott, nun sitzen die beiden schon wieder fest bei dem prächtigen Wetter und brüten über dunklen Vermutungen und Hoffnungen, dachte Agnes, die unbemerkt ins Zimmer getreten war. Sie drehte sich vor dem Spiegel und strich sich an den runden Hüften herab. Jugendlich leicht war ihr heut in dem rosa Kleide, das sie in diesem Sommer zum ersten Mal an hatte. Es war zwar nicht mehr ganz modern, und etwas ausgebleicht war es auch schon, aber Albert sah sie so gern darin. Sie hörte auf die eifrige Unterhaltung der Männer. Manchmal schien es ihr, als ob es mit der Freundschaft der beiden aus sei, so stritten sie um ihre Meinungen. Indes die beiden lachten und scherzten im nächsten Augenblick wieder, und alles Trennende war vergessen.
Sie legte für Albert reine Oberwäsche zurecht und stellte die blanken Stiefel neben ihn hin.
„Oho, du bist schon reisefertig", er blickte zu ihr auf.
„Ja mach man auch", sie trieb ihn zur Eile an, „sonst bekommen wir wieder einen Platz, wo wir nichts hören und sehen können."
Dann bat sie Albert, er möge ihr doch eine weiße Rose von dem blütenschweren Strauch schneiden, der auf dem Fensterbrett in der hellen Sonne stand.
„Du putzt dich ja heut, wie eine Braut." Er betrachtete sie wohlgefällig, als sie die Rose am Busen befestigte.
„Vielleicht bin ich gar eine", sagte sie heiter, fügte aber gleich hinzu: „'s ist ja der erste schöne Sonntag in diesem Sommer, da darf man doch nicht so sauertöpfisch umherschleichen?"
„So ist es recht, Frau Weigert", stimmte Emil zu, „bei solch lachendem Sonnenschein sollte man sich nicht den Kopf voll schwerer Gedanken pfropfen, wie wir es eben taten."
Agnes rief Lieschen und den kleinen Bernhard herbei, putzte ihnen die Näschen und rückte noch einmal die Kleidchen und Schleifchen an ihnen zurecht.
Plötzlich erklang die Türglocke. Albert ging und öffnete. „Ein Bettler", dachte er und griff in die Tasche. Der Mann aber reichte ihm die Hand zum Gruß und trat mit einem „Guttentag ooch" gleich über die Schwelle.
„Du kennst mir woll nich mehr?" Er tapste zur Küche hinein und hing seinen Hut an den Wasserleitungshahn. „Es is heut verflucht heiß, es gibt noch was," sagte er, sich den Schweiß mit der Hand von der Stirn streichend.
Jetzt erst erkannte Albert seinen Landsmann August Gellfert wieder.   „Das trifft sich ja gut.   Komm in die Stube," nötigte er ihn, „da ist noch ein Schlesien"
„Ach herrje, wie kommt denn das Sumpfhuhn hierher!" lachte Emil, als er Gellfert erblickte, der sich bei Agnes wegen den damals entliehenen drei Mark entschuldigte und um weitere Stundung bat.
Auf Agnes' Gesicht legte sich ein trüber Schatten. Trug nicht dieser Mensch am Ende ihr ganzes Erlebnis mit Waldmann in sich? — Und gerade in den letzten Tagen war ihr, wie wenn die heilsame Wirkung der Vergessenheit dieses Geschehen endlich in das Nichts versenken wolle.
„O, Sie Ärmste," sagte Emil mit leichtem Spott, „die drei Mark schreiben Sie man mit Kohle in den Schornstein. Ob denn dieses leibhaftige Unheil nicht überall ein übles Andenken hinterlässt."
Gellfert ließ sich gleichgültig aufs Sofa nieder und lehnte sich müde in die Ecke.
„Na, greif zu, alter Frechdachs!"  Emil hielt ihm die gefüllte Zigarrentasche hin.
„Ich bin so frei," und Gellfert zog zwei Zigarren heraus. „Hoho, bist ja sehr bescheiden, immer noch wie früher," lachte Emil und zog die Tasche zurück, als Gellfert noch einmal zugreifen wollte. „Donnerwetter, 'ne gelbe Weste!" scherzte Emil weiter, als Gellfert den viel zu weiten Rock aufknöpfte und die Taschen nach Streichhölzern durchsuchte. „Hast wohl beim Gärtner die Vogelscheuchen geplündert? Helle Hose, dunklen Rock, gelbe Weste, grünen Schlips; und wie das alles sitzt! — Dazu die rote Nase und die verblühten Veilchen um die Augen — damit bist du wohl gegen eine geballte Faust gelaufen?"
„Du hast klug reden," sagte Gellfert ergeben. „Weißt viel, wie sich unsereiner durchschlagen muss."
„Durchschlagen? Meinst wohl durchfechten?"
„Ach, du!" Gellfert wurde ärgerlich.
„Woher kennt Ihr Euch so genau?" fragte Albert dazwischen.
„Er war vierzehn Tage lang mein Zuträger in der Fabrik. Später traf ich ihn oft in Versammlungen und bei seinem Nebenerwerb."
„In Versammlungen?"
„Na gewiss, er ist doch organisierter Genosse."
„Und einen Nebenberuf hat er auch?"
„Ja, das ist eine seiner Schattenseiten."
„Mach's gnädig, ja!" warf Gellfert ein. „Was soll man tun, wenn man in Not ist?"
„Gewiss, das ist zu verstehen. Es kommt aber immer auf die Ursachen der Not an, will man die Mittel zu ihrer Beseitigung rechtfertigen."
„Na, bei mir sind wohl Ursachen genug vorhanden, denk ich."
„Freilich, bloß welcher Art sind sie: Saufen, saufen und nochmals saufen!" „Bist ja verrückt!"
„So, so, meinst du etwa, du warst nüchtern, als du mir ein Gericht Gulasch auf den Leib gossest, wodurch mir ein Paar Sonntagshosen vollständig verdorben worden sind?"
„Wer soll nüchtern bleiben, wenn einem Schnaps, Schnaps und wieder Schnaps angeboten wird. Wär'st du man damals hinter mir hergekommen; nicht einmal für mich tat ich es."
„Nicht für dich?"
„Nein! Hättest dich ja überzeugen können; drüben im Torweg stand der schwindsüchtige Schlosser. Du kennst ihn, den damals deine Kollegen verpetzt hatten, weil er ihnen heimlich Flugblätter zusteckte.  Ich traf ihn, als ich von der Arbeit kam. Es war kalt und regnerisch; er hustete und jammerte und tat ganz verzweifelt vor lauter Not. Geld hatte ich keins.   Wies ihn aber auf die gefüllten Bäcker­ und Schlächterläden hin — also zum Verhungern sei es wirklich nicht, gab ich ihm zu verstehen. Er aber schüttelte bedenklich den Kopf: nein, nein, fechten könne er nicht. Das ärgerte mich eigentlich, wenn ein Mann, der für eine neue Gesellschaft kämpft, nicht einmal soviel Mut aufbringt, für die Seinen ein Stück Brot zu holen, das doch in Hülle und Fülle da ist!   Ich befahl ihm, aufzupassen, dass mich kein Blanker erwische.   Dann ging ich für ihn los. Bald hatte er alle Taschen und auch das Sacktuch voll altbackener Semmeln und Wurstenden, die ich ihm brachte. „Hör auf," sagte er ängstlich.   „Meine Frau und Kinder werden sich freuen," und er wollte davoneilen. Ich zwang ihn zum Warten.   „Von Brot und Wurst allein könnt Ihr nicht leben, sollst auch Geld haben!"  Es war ja Montag; dazu das scheußliche Wetter, und ein sauberes Verbandsbuch von einem Metallarbeiter hatte ich auch noch vom Sonnabend her in der Tasche."
„Du gehörst doch dem Verband der Bauarbeiter an, denk ich," sagte Emil.
„Dem gehör ich an, jawohl! Aber meinst du, mit meinem Buch wäre da im Norden etwas herauszuholen, wo jede Kneipe voll Metallarbeiter steckt? Da hilft man sich eben gegenseitig aus."
„Hahaa, so wird das gemacht?" „Ja, so wird's gemacht — Na, kurz und gut, es klappte großartig."
„Ja es klappte, bis der Schwindel entdeckt wurde und du im Bogen gegen meinen Tisch flogst," unterbrach ihn Emil. „Wenn du als Metalldreher fechten willst, musst du auch wissen, wie ein Gewinde berechnet wird. Warst eben mal an die Unrechten geraten. Ich weiß nämlich noch ganz genau, wie die Sache kam."
„Ach, das waren ja Geizhälse. Will man sich bei dem Geschäft erst examinieren lassen, kann man nichts dabei werden. Und in diesem Falle war erst recht keine Zeit zu verlieren. — Na, kurz und gut: als ich zu deiner Stammkneipe hinausflog, kam mir mein kranker Freund schon von der anderen Straßenseite entgegen. Ich witterte Gefahr und reichte ihm eine Handvoll Nickelgeld zu. — Ein harter Stoß ins Genick schleuderte mich nach vorn — ein fester Griff am Kragen schnürte mir die Kehle zu und ruck, ruck, ruck ging es vorwärts. Ich war verloren. Rasch noch einen Griff in die Tasche, und der Geldrest flog dem Kranken zu. Dafür sauste mir des Geheimen Faust gegen den Kopf, dass mir ganz dumm wurde. Drei Wochen kriegte ich aufgeknackt. Meine Arbeit war futsch. Nicht etwa, dass es mir leid täte. Nein! Im Gegenteil: es freut mich heute noch, dass ich den armen Kerl helfen konnte." Alle hatten still zugehört.
„Das war ein schöner Zug von dir," erkannte Emil an.
„Ja, diese Tat ehrt dich," fügte Albert hinzu.
Agnes ließ den kleinen Bernhard vom Schoß gleiten und blickte zum Fenster hinaus.
„Hast wohl keine Lust mehr zum Ausgehen?" fragte Albert, mit dem Stiefelanziehen beginnend.
„Nein, es wird zu spät. Und am Ende gibt's noch Gewitter, denn es ist so schwül," entgegnete Agnes.
Gellfert begann von Berta zu erzählen. Er fragte Albert, ob er etwa zufällig den Tischler Waldmann kenne, der sie ihm entführte und sie zu gewerbsmäßiger Unzucht anhielt.
„Ist so was möglich! Gewiss kenne ich den!" erwiderte Albert empört. „So etwas hätt' ich ihm doch nicht zugetraut! — Hörtest du, Agnes!" rief er durch die offene Tür hinüber zur Küche, wo seine Frau den Kaffee zurechtmachte.
„Ja, ich höre schon," kam es kaum vernehmbar von dort zurück.
Berta sei jetzt eine ganz Feine, erzählte Gellfert weiter, sie laufe in der Friedrichstadt. Vor langem habe er sie mal unvermutet getroffen. Sie habe sich vorbeidrücken wollen, er aber vertrat ihr kurz den Weg. Kaum begrüßt, reichte sie ihm ein Zehnmarkstück hin. Es war Lösegeld. Denn ehe er sich von der Überraschung erholt, war sie in der Menschenmenge untergetaucht.
Dieser Mensch weiß mehr, ja alles, alles weiß er, wenn er einmal mit Waldmann in Berührung gekommen ist, dächte Agnes. Sie hielt die Augen niedergeschlagen, nur auf ihre Hantierung gerichtet, als sie den Männern Kaffee und Kuchen auftrug. „Kommt, kommt, Lieschen, Bernhard!" rief sie, anscheinend heiter, zu den Kindern in die Küche hinein, die dort beim Kaffee und Kuchen saßen. „Wir gehen schnell ein wenig hinunter!"
„Magst du nicht mit uns trinken?" rief Albert ihr nach.
„Ich trinke nachher!" gab sie zurück und schloss die
Tür.
Nur Luft, Luft! Hinaus ins Freie! Es erdrückte sie rein in der Nähe dieses Menschen. Jetzt, wo sie weg war, würde er ihrem Mann alles brockenweise hinwerfen, in seiner hinterhältigen, dummdreisten Art.
Bald waren die Häuser zu beiden Seiten der Straße zu Ende. Lieschen und Bernhard jagten froh über brachliegende Felder hinter Schmetterlingen her. Erst als sie an einem hohen Roggenfeld Halt machten und angesichts der vielen Kornblumen ihrer Mutter zujubelten, erwachte Agnes aus ihren Gedanken. Sie drohte, rief und winkte. Die laue Luft fächelte ihr heißes Gesicht. Einzelne Menschenpaare strichen auf Feldrainen durch die frischgrünen Felder. Sie ließen die fruchtschwangeren Ähren kosend durch ihre Hände gleiten und führten sich wie Kinder, blickten sich heiter in die Augen und plauderten. Weit hinten über das große Exerzierfeld zuckten Blitze aus schwarzer Wolkenwand, während noch mächtiges Sonnenlicht die andere Seite des Himmels beherrschte. Aus dem im Grunde liegenden Brauereigarten tönte Musik herüber.
Auf einem Rasenhügel am Rande eines wasserlosen Grabens saß Agnes. Lieschen und Bernhard brachten ihr Kornblumen, Rittersporn und Gänseblümchen. Mechanisch legte sie Blume an Blume und wand sie zum Kranze. — Albert! Wäre er doch hier. An seine Brust werfen, sich ausweinen und gestehen wollte sie ihm alles, alles. Aus ihrem Munde sollte er erfahren, wie sie ihn betrog, wie schlecht sie war. Mochte er sie weit, weit von sich stoßen, mochte es alle Welt wissen, was für eine Schlechte sie war. Alles, alles wolle sie ertragen, nur frei, wahr wollte sie dastehen vor ihm, mit dem sie sich verbunden, der ihr vertraute wie sich selbst.
Diese Unruhe ertrug sie nicht länger. In Lieschens Blondhaar setzte sie den Blumenkranz, dann gingen sie heimwärts.
Die Männer waren heiterer Laune, als Agnes eintrat. Gellfert dehnte sich in der Sofaecke, blies gemächlich dicke Rauchwolken aus seiner Zigarre und stieß mit seinen großen Füßen gegen eine Batterie leerer Bierflaschen, dass sie klirrend umfielen. „Na, Ihr Mann bangte sich schon mächtig um Sie. Er dachte, Sie hätten sich ein Rendezvous bestellt," sagte der Bursche dreist, Agnes ins Gesicht grinsend.
Mit gezwungenem Lächeln sah sie zu Albert hin, wobei sie das Tischtuch zurechtzog.
„Nein, du, um die brauch ich mich gewiss nicht zu
bangen," entgegnete Albert heiter und zog sein Weib
leidenschaftlich an sich. „Was, du? Du bist mir ja sicherer als ich mir selber bin."
„Ähh, traut nicht den Weibern! Ihr habt es ja bei meinem gesehen: Wenn nur der richtige kommt, da sind sie nicht mehr zu halten!  Hähähähä!" lachte Gellfert.
„Darum hab' ich mir wirklich noch keine Gedanken gemacht," sagte Albert und strich weich über Agnes leicht zitternde Hand, die sie ihm entzog, um geschäftig zur Küche hinüberzueilen und das Abendbrot vorzubereiten. Ängstliches Zittern durchfuhr ihren ganzen Körper, ihr Atem ging kurz, und in ihren Schläfen hämmerte es. Beide Hände vors Gesicht gedrückt, stand sie ein Weilchen am Kochherd. Dann schnitt sie das Brot und stellte Teller und Tassen zurecht, die Lieschen behände zu den Männern hineintrug.
„Sie blühn wie eine Rose," sagte Emil, als Agnes mit einer großen Kanne Tee eintrat und mit niedergeschlagenen Blicken die Tassen füllte.
„Bitte, greifen Sie zu," forderte sie kaum vernehmbar die Männer auf, während sie sich zum Gehen wandte.
„Nanu — und wo ist dein Platz?" fragte Albert.
„In der Küche bei den Kindern, die sind hier zu laut"
Albert sah ihr besorgt nach. „Seit der Geburt des Jungen ist sie manchmal ganz sonderbar," sagte er, um ihr Verhalten zu entschuldigen.
„Äh, die Weiber haben ihre Mucken," sagte Gellfert, der dreist zu essen begann.
„Gerad' an dir hat sich Frau Weigert die gute Laune verdorben; als sie dich sah, war alle Lust zum Ausgehen hin bei ihr," scherzte Emil.
„Ach, red' doch nicht, alter Knauser; Furcht hattest du, mich freihalten zu müssen. Brauchtest nur ein Wort zu sagen: gern hätt' ich mal ein Gartenkonzert von drinnen angehört!"
Es begann schnell zu dunkeln und große Regentropfen klatschten schon auf das Schutzblech der Fensterbrüstung. „Los, los," trieb Emil Gellfert zur Eile an, „damit wir die Straßenbahn noch erreichen! Möchtest dich wohl wieder gleich auf acht Tage sattessen?"
Gellfert erhob sich. „Junge, bist du erst mal verheiratet, bin ich alle Sonntage dein Gast, verlass dich drauf!"
„Du, dann nagele ich ein paar große Hufeisen auf die Türschwelle; weißt doch, was die zu bedeuten haben!" So scherzten die beiden Freunde, als sie Albert die Treppe hinunterbegleitete.
Nach kurzem Abschied stieg Albert die Stufen wieder hinauf. Er horchte ein Weilchen am Spalt der angelehnten Wohnungstür. „Was ist los?" flüsterte er, die Tür weiter öffnend. Nun vernahm er ganz deutlich Agnes weinerliche Stimme, die aus der Küche drang. War das wirklich sein Weib, das sich hier durch furchtbare Selbstanklagen marterte? Er drückte die Küchentür geräuschlos auf, da stand sie, an den Kochherd gelehnt, den Kindern zugewandt, die im Hintergrunde von ihrem Spiel aufsahen. „Hätte ich euch nicht, meine Lieblinge — was täte ich jetzt!" keuchte sie.
„Frau — was soll das heißen? — Was ist geschehen?" fragte Albert, im Rahmen der Tür stehend.
Einen Schrei ausstoßend, sprang Agnes erschrocken nach vorn. „Du weißt es! Ja, du weißt alles!" schrie sie weinend und sah unbeweglich ihren Mann ins Gesicht. Keins wagte ein Wort. — Sekunden vergingen. — Dann, wie um Gnade flehend, die Arme ausstreckend, tat sie einen Schritt auf ihn zu, sank aber in die Knie. Albert sprang hinzu. Laut stöhnend umklammerte sie seine Füße. — „Schlag mich — werf mich auf die Straße — tritt mich in den Rinnstein! — Ich bin ja so schlecht — so schlecht wie eine Dirne!"
„Weib! Weib, was hast du denn bloß? — Was ist mit dir geschehen?"
„Betrogen! — Betrogen hab' ich dich! — Ach, ich bin ja — so schlecht — so — schlecht!" schrie sie.
„Was — mich betrogen? Du? — Wie — wer — wo? — Weib, du? — Bist ja von Sinnen! — Was red'st du?" Er fasste sie an den Schultern und suchte sie aufzurichten.
Sie hielt seine Beine umschlungen und bat flehentlich: „Glaub' es doch, glaub' es! — Schlag mich wie einen Hund! — Wochenlang trieb ich's!"
„Du? —- du, mein Weib? — j,'s ist ja unmöglich! — Dann sag' doch mit wem — mit wem triebst du es?"
Schluchzend, kaum hörbar, gestand sie. Dann ließ sie Alberts Füße frei, bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und kauerte schlaff zusammengesunken am Fußboden.
Albert sah starr und bleich auf den im Weinen zuckenden Körper. — „Also doch — mit diesem Schurken!" knirschte er. Die Hände geballt, den Fuß zum Stoß erhebend, beugte er sich nach vorn. — „Du? Du warst mein Weib?" Der Erde gleichtreten wollte er sie.
Ein kindlicher Schrei hielt ihn zurück, Lieschen war's, ihr weinendes Brüderchen loslassend, warf sie sich über die schluchzende Mutter.
Albert ließ sich schwer auf einen Stuhl nieder.
„Steh auf!" befahl er, als ein heftiger Donnerschlag die Fensterscheiben erzittern machte.
Agnes gehorchte und erhob sich mühsam.
„Dorthin setz dich!" sagte er, nach der andern Seite des Tisches weisend.
„Nun verlange ich nichts weiter von dir als die reine Wahrheit!"
Agnes ließ ihre Blicke durch alle Ecken der Küche gleiten. Auf Lieschen blieben ihre Augen haften. Lieschen hielt den kleinen Bernhard fest mit beiden Armen umschlungen und sah mit ihren großen Augen zur weinenden Mutter hin.
Agnes schüttelte den Kopf. |
„Gut," sagte Albert, ging in die Stube, suchte ein Bilderbuch hervor und rief die Kinder zu sich. Lieschen gehorchte nur widerwillig; sie blieb vor ihrer Mutter stehen und sah fragend zu ihr auf.  Erst als diese sie mit weichen Worten fortdrängte, folgte sie dem kleinen Bruder.
Erst stockend, dann immer unbefangener bekennend, legte Agnes dar, wie alles kam.  Zuerst hielt sie Alberts ruhiges Verhalten für klugberechnet; indes gestehen wollte sie ihm alles.  Wahr wollte sie vor ihm stehen; mochte er sie dann weit von sich stoßen.  Jedoch bald fühlte sie: je offener sie sich gab, desto vertraulicher klangen seine Fragen, und je tiefer er in sie drang, desto freier und erlöster ward ihr. Und endlich forderte sie seinen Entschluss: „Sag, willst du mir nun ganz verzeihen?   Kannst du es nicht, geh ich." Auch er erhob sich, erfasste sie an beiden Händen, beider Augen ruhten ineinander.  „Weib," begann er, „was fällt dir ein, jetzt wo dein Gewissen so rein ist wie das meine, solltest du mir nicht mehr gut genug sein? Gewiss, schlimm war es, sehr schlimm, was du tatest; jedoch ich, der ich selber einmal vom Wege abgewichen bin, habe kein Recht einen Stein auf dich zu werfen."
Und sie reichten einander zur Versöhnung Hand, Mund und Herz.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur