Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
http://nemesis.marxists.org

Der Umzug.

Überall leuchtete heut der Frühling in hellem Glanze. Alles drängte sich auf die Sonnenseite der Straße. Der Frauen und Mädchen bunte Kleider und Bänder flatterten in allen Farben und auf den Gesichtern der Vorübergehenden spiegelten sich schon die Vorfreuden des herrlichen Sonntags. Etwas nach vorn gebeugt, beinah stolz, schob Agnes den neuen Kinderwagen aus gelbem Rohr mit schwarzem Verdeck auf dem Bürgersteig vor sich hin. Tief eingemullt lag Kleinlieschen heut zum ersten Male in den blendend weißen Betten, mit rosa Bändchen verziert. Heiter lächelnd sah Agnes hinüber zu der kleinen Ziehfuhre, hinter der Albert und zwei Kollegen aus seiner Werkstatt einherschritten.
Zu einer anderen Zeit wäre es Albert sicherlich nicht entgangen, wie die Blicke seines Kollegen Waldmann auf Agnes ruhten, und wie auch sie nicht unfreundlich oft nach diesem hinschaute. Indes er ging in sich gekehrt. Ein Brief machte ihm zu schaffen. Schon an der Aufschrift hatte er den Übungsbefehl erkannt, den ihm ein Schutzmann vorhin übergeben. — Vierzehn Tage nach Prenzlau — Seine Arbeit in der Werkstatt war eilig — ein anderer wird an seinen Platz gestellt werden — „Verdammtes Pech!" entfuhr es ihm halblaut.
Recht schonend wollte er es Agnes mitteilen. Erst spät am Abend, um ihr den frohen Tag nicht zu verderben.
Immer weiter ging es über Straßen und Brücken zur Stadt hinaus, an Kirchhöfen vorbei, eine Anhöhe hinauf.
Agnes fuhr mit Kleinlieschen ein Stück Weges voraus; zu langsam ging ihr das Fuhrwerk. Tief atmete sie auf, als sie den Berg überwunden hatte. Gelbliches Grün durchleuchtete schon das graue Geäst der Linden, die zu beiden Seiten der stillen Straße standen, in der die neue Wohnung lag. Drehorgelmusik kam vom Hofe herauf, als sie mit Lieschen durch die farbenfrischen Räume schritt.  Die be-
kannte Tanzweise brachte ihr Blut in rhythmische Schwingungen, sie wippte und drehte sich nach dem Takte der Musik.
„Kommen Sie, kommen Sie, Frau Weigert, mir kribbelt es auch in den Beinen!" rief Waldmann, der soeben den Kinderwagen inmitten der Stube absetzte. Agnes sah zwar den schmucken Burschen, der so dreist war, etwas unsicher an, doch schon lag Lieschen im Wagen, den nun beide lustig umtanzten.
Wie fest sie dieser schwarze Geselle gleich in die Gewalt nahm. Die Spitzen seines flotten Schnurrbartes kitzelten sie an den Schläfen. Das erregte ein seltsames Gefühl in ihr.
„So ist's richtig! Das macht ihr fein," sagte Albert, der eben die Betten abwarf. Er lief zum Küchenfenster und warf ein Zehnpfennigstück hinunter.
Ein Walzer begann, Agnes tänzelte ihrem Manne entgegen. Er drehte sich heut noch schwerfälliger als sonst. Sein Kummer bedrückte ihn. „Was ist dir?" fragte sie, als er mitten im Stück anhielt. Sie fürchtete, ihm Ärger bereitet zu haben.
„Nichts. Tanz nur soviel du willst, wenn's dich erfreut."
Waldmann trat eben wieder ein. Schnell warf er seine Last ab und schwenkte mit Agnes im Rheinländertakt.
Ein Weilchen sah Albert zu, dann ging er still hinunter. Er gönnte ihr die Freude von Herzen. — Allerdings.... mit dem Waldmann? Ein Luftikus. Seine Frau mit zwei Kindern sollte in Hamburg oder irgendwo sitzen — das war doch gemein von dem Kerl! — Und Albert fielen die Weibergeschichten ein, die jener zu Dutzenden von sich zu erzählen wusste. Na — und wenn nur die Hälfte wahr ist — es wäre gerade schlimm genug. — Und warum sollt's nicht wahr sein? — Gesund und forsch, dazu ein geschwungener kräftiger Bart, gutmütig dreinschauende Augen, die voller Feuer saßen — das alles mochte wohl die Weiber anziehen....
Bei dieser Betrachtung stieg in Albert ein Gefühl auf, das er nur vor seiner Verheiratung kannte. Er wehrte sich dagegen.
Mit der Matratze auf dem Rücken trat er wieder ein. Agnes saß auf dem Bündel Betten und trocknete das glühende Gesicht. „Ach, wie lange sehnte ich mich danach — aber nun hab ich genug," sagte sie erschöpft. — „Du, das ist ein gar Flotter, der macht einen warm." Albert lächelte still.
Sie trat vor ihn hin, ließ beide Hände auf seinen Schultern ruhen — so, wie sie es meist tat, wenn sie recht vertraut zu ihm reden wollte, und sah ihm eindringlich in die Augen. „Nun sag, es ist dir doch wohl nicht lieb, dass ich mit dem Manne tanzte?"
„Aber, ich weiß nicht, warum du mich immer fragst — und — na und — wenn es mir schon nicht recht wäre — so konnte ich doch nicht dazwischen fahren und Skandal machen. — Gefreut hat mich deine Lustigkeit," fügte er warm hinzu.
Sie ließ von ihm ab und begann herumzuhantieren; beruhigt war sie von seiner Antwort nicht. „Ich hab's ja gemerkt, dass er ein wilder Bursche ist," begann sie wieder, „denn geschwätzt hat er in einem weg beim Tanzen —"
„Na, wenn du nun durchaus meinen Kummer wissen willst," unterbrach er sie und reichte ihr den Übungsbefehl
hin: „Hier lies!"
„Also — vierzehn Tage", sagte sie gedehnt. „Und was
wird aus deiner Arbeit?"
„Aus meiner Arbeit? Die — na, die ist futsch!" „Futsch? — Naja —.  Aber lass gut sein, Albert, wir haben wohl schon Schlimmeres überstanden", sagte sie, um ihn aufzurichten.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur