Kleinlieschen.
„Nun sind wir wohl endlich über den Berg", sagte Agnes zuversichtlich, als ihr Albert am Sonnabend acht blanke Taler auf den Tisch zählte. Sonntag für Sonntag schob sie die zehn Mark schweigend durch den Türspalt und Klaussens Kassierer reichte ihr eben so still die Quittung zu. Jeden Pfennig verwaltete sie gewissenhaft. Alberts Taschengeld erhöhte sie um eine halbe Mark, seit ihn der alte Wieland in den Fachverein hatte aufnehmen lassen. Und ein kleines Sümmchen verschwand durch den engen Schlitz des Sparkästchens. Denn in einsamen Stunden befühlte sie sich, um in süßem Schauer die Regungen des in ihr werdenden neuen Lebens zu erlauschen.
So flossen die Sommertage recht sorglos dahin.
Und auch der Herbst verging ohne besondere Ereignisse.
Nun fegte eisiger Wind den trocknen Schnee in schäumenden Schwaden von den Dächern. Albert verbarg heut sein Gesicht nicht schützend, wenn der Sturm scharf um die Straßenecken schnitt, beinah wohl tat es ihm, dagegen ankämpfen zu müssen.
Ein Gefühl erhöhter Lebenskraft war in ihm aufgestiegen, als ihm Agnes, strahlend im Mutterglück, das kleine Lieschen durch eine winzige Öffnung des Deckbettes gezeigt hatte. Eine starke Empfindung war über ihn gekommen, die ihm sein Leben und dessen Erfordernisse in ganz neuem Lichte erscheinen ließ. Nicht mehr nach eigenem Willen durfte er entscheiden; das neue Leben trat nun mitbestimmend dazwischen. Verkettet fühlte er sich nun mit der Nachwelt".
Er räumte seine Hobelbank auf, obgleich noch eine halbe Stunde bis zur Feierabendzeit fehlte. Die Gesellen ließen die Stemmeisen in den Löchern stecken und die Sägen in den Schnitten ruhen. Ans Arbeiten dachte heut keiner mehr; sie standen beisammen, tranken auf Alberts Rechnung, und ließen es nicht an Glückwünschen und allerlei anzüglichen Witzen fehlen. Nur mit Widerstreben gaben sie ihn frei, den es heute stärker als sonst zum Heimweg drängte...
„So, für dies Mal hättest du nun gesiegt. Immer gelingt es nicht so", sagte die Hebamme, als sie die Kleine an Agnes Seite bettete.
Agnes sah dankbar auf zur Wehmutter und drückte deren Rechte mit beiden Händen, als Albert eintrat. „Was ist geschehen?" fragte er verwundert.
„Ich muss eilen." Die Frau warf sich abwehrend den Mantel über, gab Albert schnell die nötigen Anweisungen für die Nacht und lief zur Tür, wobei sie an einen harten Gegenstand stieß, der vor ihr hin kollerte. „Ohje, die Gottesmutter", bedauerte sie und stellte die kopflose Figur auf den Tisch. Dann schlug sie drei Kreuze und ging eilig hinaus.
„Wie kam die von da oben auf die Erde?" fragte Albert, von der bunten Figur auf Agnes blickend, die schon mit matter Stimme zu erzählen begann:
Elend zusammengebrochen wäre sie sicherlich, hätte sie es gewagt, aus dem Bette zu springen und das Fenster aufzureißen, um Luft zu schaffen. Denn die geringste Bewegung machte ihr schon unsägliche Schmerzen. Da sah sie auf zur heiligen Mutter, die überm Bett an der Wand auf ihrem Konsol stand. Arg gerungen hatte sie mit sich, ehe sie eine zusammengeknotete Windel nach ihr warf. Erst hatte sie zu ihr beten gewollt, doch es war keine Zeit zu verlieren: immer dichter wurde der Qualm. Die Kugeln auf dem Kopfende des Bettes saßen zu fest; ihre Kraft reichte nicht aus, sie abzudrehen. Da dachte sie: Jetzt, oder nie muss uns Hilfe werden, und mit ganzer Kraft warf sie die Muttergottes gegen das Fenster. Verzweifelt und dem Ersticken nahe war sie zurückgesunken, als das Porzellan hart ans Fensterkreuz schlug und auf den Fußboden fiel. Dann wandte sie sich noch einmal zur Seite, befühlte des Kindes Gesicht und Hände: es atmete noch. Sie deckte es fester zu, zog das Bett auch über sich zusammen. So ließ es sich wohl noch ein Weilchen aushalten. Indes so still da unten den Tod erwarten, das wollte sie nicht. Bloß Kräfte sammeln, dann aus dem Bett springen und Luft machen.
Inzwischen brachte ihr die Hebamme Rettung. „Was ist denn eigentlich geschehen?" stand Albert immer noch beunruhigt, fragend über Agnes gebeugt.
„Da sieh." Agnes wies auf eine verkohlte Windel am Fußboden. „Erstickt wär's mir bald im beißenden Rauch," sprach sie, mit Tränen in den Augen, weiter, wobei sie die Decke von des Kindes Gesicht ein wenig abzog.
„Reg dich nicht auf. Nun ist ja alles wieder gut." Albert strich beruhigend über die blasse Hand der jungen Mutter.
Er stellte alles für die Nacht zurecht. Bettete Lieschen in den Wäschekorb, wie ihm die Hebamme anbefohlen hatte. Todmüde kroch er dann ins Bett dicht an die Wand. Das Deckbett war aber heut zu schmal, er stand wieder auf, holte alte Kleider und warf sie sich über... .
„War das eine Nacht," stöhnte Albert. Als sei ihm alles Blut in den Ader erstarrt, so war ihm zumute, als er sich am Morgen frostgeschüttelt erhob. Fünfmal hatte er das Zuckerwasser anwärmen müssen. So sog wohl das junge Leben das alte auf. Als aber erst das Feuer im Ofen lustig flackerte, kam auch sein Gleichgewicht wieder.
Nachdem er für alles Vorsorge getroffen hatte, so gut es ging, machte er sich auf den Weg. Die Hauswartfrau, die im Keller wohnte, bat er, hin und wieder mal hinaufzuschauen. Dann stapfte er durch den frischen Schnee zur Arbeit. |
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