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Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
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Der Verführer.

Frau Manske wohnte auf der gegenüberliegenden Seite des Treppenflurs. Sie war eine flotte Schürzennäherin und musste ihre Familie damit erhalten; denn ihr Mann vertrank, was er verdiente. Da ging Agnes zu ihr hinüber und machte ihr die Handarbeit in den Stunden, wo Lieschen schlief. Die Frau war hübsch, und man sah ihr und den beiden Mädchen von fünf und drei Jahren nicht gerade Not an. Jedoch die Wohnung machte einen schaurigen Eindruck. Jedes Stück Möbel, dass die sorgsame Frau beim Trödler erstand, schleppte ihr trunksüchtiger Mann in unbewachten Augenblicken wieder weg; er verschleuderte es für wenige Schnapsgroschen.
Da tat es Agnes besonders wohl, wenn sie am Abend in ihrer eigenen sauberen Wohnung am offenen Fenster saß und Kleinlieschen in Schlaf sang. Wenn sie dann so ganz allein war und die frischgrünen Linden, deren Zweige bis an die Fensterbrüstung strichen, sie in abendliches Dunkel hüllten, flogen ihre Gedanken hin zu Albert. Auch seine Gedanken mochten bei ihr weilen, sie fühlte es — ja sie sah ihn förmlich im dämmerigen Zimmer —, sie bewegte ihre Lippen und sprach zu ihm. So nahm sie ihn meist mit hinüber in ihre Träume.
Eines Abend schrillte plötzlich die Türglocke in ihre Gedanken hinein. Sie öffnete vorsichtig die Tür. Ein kleiner verwahrloster Mensch verbeugte sich linkisch und fragte stammelnd nach Albert Weigert. Erschreckt lief Agnes in die Küche nach Licht. Als sie mit der Lampe zurückkehrte, saß der Fremde schon in der Stube breitspurig am Tisch. Er fuhr sich über den spitzen Mund und ließ die Hand klatschend aufs Knie fallen. „Sie sein doch Albert Weigerts Frau?" fragte er dreist.
Die schlesische Mundart gab Agnes Vertrauen. „Meinen Mann können Sie heute nicht erwarten, der ist in Prenzlau zu einer Übung."
„Ach, sou, sou, er übt. Schade, schade." „Wie heißen Sie denn?"
„August Gellfert, heiß ich." Er spuckte wichtig auf den Fußboden in die Zigarrenasche, die er mit dem Fuße breittrat. „Wir kenn uns sehr gutt. Vor'ges Jahr haben wir miteinander Steine gekarrt. Hat er von mir noch gar nischt derzählt?"
„Ja, gewiss. Ich entsinne mich. „Auch von Ihrer Braut
sprach er."
„Von meiner Braut — ja?" Er schwang eins seiner dünnen Beine übers andre, so dass der große Fuß noch eine Weile nachwippte, fuhr sich mit den hageren Fingern durch sein spärliches Kopfhaar und sprach mit verhaltener Erregung weiter: „Ja, wegen der komm' ich, die such ich." „Was soll die denn hier bei uns?" „Na, ich ducht halt, weil sie Jhren Mann gutt kennt und weil ber alle aus einem Dorfe sein, wär sie am Ende mal hier gewest."
„Davon weiß ich nichts", sagte Agnes. Und an des Burschen Schicksal, teilnehmend, fragte sie: „Übrigens wohnten Sie doch schon beieinander wie Mann und Frau, und ein kleines Mädchen haben Sie doch wohl auch schon?"
„Nu freilich, 's ging ja auch alles soweit ganz gutt. Aber da kam halt der Winter, meine Arbeit wurde alle und neue fand 'ch nich; das Mädchen ging in die Fabrike, aber ihr Verdienst reichte nich hie und nich har.   Da gab's halt manchmal Krach. Und sie tat von mir wegziehn, wenn 'ch keine Arbeit fänd. Und als ich eines Abends heimkam, sitzt a Kerl bei ihr, schwarz wie a Zigeuner, kräusliges Haar und einen Schnurrbart wie a Offizier.   Sie klaubt ihre Sachen zusamm', packt sich das Deckbett und alles, alles ein und spricht: sie zieht.   Der Mann sei der Bruder von ihrer neuen Wirtin, und er solle ihr helfen.  Ich war wütend und riß ihr die Sachen weg. Da schleuderte mich der Schwarze beiseite, ich flog übers leere Bettgestell, und sie zogen beide los.  Ich schlich mich hinter ihnen her.  Berta stand mit a Sachen auf der Straße am Laternpfahl, und der Schwarze lief nach einer Droschke.   Sie winkte und bat mich, ihr nicht böse zu sein; wenn es ihr gutt ginge, werde sie an mich denken.  Ich aber wollte wissen, wer der Mann sei und wohin sie wolle.  Er sei Tischler und seine Schwester unterhalte ein Quartier für junge Mädchen, und da könne sie viel Geld verdienen. — Die Drosche kam an, ich drückte mich in den Schatten der Hauswand — und ab ging es. Ich rannte hinterher, aber der Kutscher hieb aufs Pferd ein
wie verrückt und mir ging die Puste aus. Ich--."
„Sst, still!" winkte Agnes zum Schweigen und horchte zur Tür hin. Da — es klopfte. „Es wird Frau Manske sein", dachte sie und öffnete. Ein Schreck durchfuhr sie, als ihr Waldmann flüsternd grüßend entgegentrat. „Was wollen Sie hier? Was fällt Ihnen ein?" wehrte sie ihn ängstlich leise ab, da er sie festhielt und die Tür sacht ins Schloss drückte. „Ich ruf meinen Mann!" flüsterte sie erregt, als sie der Schwarze fest an sich zog.
„Der hört nichts, das weiß ich besser, mein Täubchen. Darum komm ich ja, weil ich weiß: Du bist so allein", und er presste in wilder Leidenschaft seinen Mund auf den ihren. Als sie ein wenig Luft bekam, entfuhr ihr in ihrer Herzensangst ein Schrei. Gellfert kam polternd herausgestürzt. Waldmann ergriff die Tür und war mit ein paar Sätzen die Treppe hinunter.
„Was hutts denn da?" fragte Gellfert.
„Nichts, nichts", gab Agnes gefaßt zurück und warf die Wohnungstür zu. Sich heiterstellend sprach sie gleich weiter, um über die Verlegenheit hinwegzukommen: „Mein Gott, was die Leute besorgt sind; mein Mann wusste es ja, dass sein Platz besetzt wurde, das brauchte mir sein Meister wahrlich nicht erst sagen zu lassen." Und sie stand und besah sich im Schein der Lampe ihre rechte Hand. „Gedrückt hat mir der Mensch die Finger", klagte sie.
„Ach, deshalb schrien Sie a so", sagte Gellfert, die Stube auf und ab schreitend.
„Ja, es war ein junger Kollege von Albert, der hat eine so harte Hand", sagte sie ganz unbefangen, da ihr die Ausrede so gut zu glücken schien.
Doch Gellfert spreizte den alten Überrock auseinander und versenkte die Hände in den Hosentaschen. „Hm, hm, a Bekannter woarsch", sagte er grinsend. Dann ließ er sich schwerfällig auf seinen Stuhl nieder. „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei", stöhnte er verschmitzt und trommelte wie gelangweilt auf der Tischplatte.
Agnes wusste nichts darauf zu erwidern, sah ihn unsicher in die grünlich schimmernden Augen und ging an ihm vorbei, hinaus in die Küche. Wie dreist dieser Mensch tat.   Was meinte er mit dem Bibelspruch?   Ihr Herz klopfte. — Ach, was weiß der freche Tölpel!   Sie schnitt Butterbrote für ihn zurecht. Ordentlich satt füttern wollte sie ihn, dann mochte er seiner Wege gehn.  Sie erschrak, als sie in den kleinen Wandspiegel überm Küchentisch blickte. Wie sah sie denn aus? Im verworrenen Haar stak eine rote Rose. Hastig griff sie danach und warf sie in den Abfalleimer. Das Blut stieg ihr siedendheiß ins Gesicht. Dann rückte und strich sie ihre Haare zurecht und trug Gellfert Brot und Kaffee auf.  „Greifen Sie zu", nötigte sie ihn kurz und trat zurück in die Küche.  Da lag die Rose zwischen Kartoffelschalen und Papierstückchen. „Waldmann", flüsterte sie, bückte sich und hob sacht die Rose empor. Ganz frisch war sie und erst halb entfaltet.  Und immer noch einmal sog sie deren süßen Duft ein. Ihr Atem ging kurz. Leidenschaftlich drückte sie die Blume an ihre heißen Lippen, schloss leicht die Augen und ließ die starken Wimpern ein Weilchen aufeinanderruhn.   „Nein!" sprach sie halblaut, warf die Rose zurück und fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht, als wenn sie erwache.
Gähnend streckte ihr Gast alle Glieder von sich, als Agnes zu ihm eintrat. Er hatte alles aufgezehrt. Nun stopfte er Zigarrenstummel in die kurze Pfeife. Mit langen Schritten durchmaß er das Zimmer und spuckte zum offenen Fenster hinaus. „'s wird Zeit, Herr Gellfert", sagte Agnes auffordernd, wobei sie ihr Bett zurechtschüttelte.
Er nahm seinen durchschwitzten Hut vom Schlüssel des Kleiderschrankes, drehte ihn verlegen in den Händen, wobei er von einem Fuß auf den andern trat. „Ach, sou a Luderleben!" stieß er verächtlich hervor. „Wenn 'ch nu bloß wüsst, wo 'ch die Nacht bleiben soll."
„Na, hier nicht, das sehn Sie wohl ein", gab Agnes
etwas hart zurück.
„Wenns draußen uf'm Korridor wär, uf'n paar alte Lumpen. Vor vierzehn Tag'n schloss mir der Wirt die Bude vor der Nase zu und behielt alles ein, für schuldige Miete."
Agnes hörte nicht mehr, wie der Kleine seine Leidensgeschichte weiter spann. Sie kam aus der Küche und reichte ihm ein Dreimarkstück. „So, dafür können Sie sich schon zur Not behelfen", sagte sie und öffnete die Tür, durch die der Kleine nach warmem Dank und Händedruck zögernd verschwand.
Befreit atmete Agnes auf, als sie ein Weilchen still am Bett stand. Langsam begann sie sich zu entkleiden. Herrgott, was war das heute? Die kühle Luft machte ihre Haut fröstelnd jucken, sie rieb sich die derben Brüste, und die Gedanken an Waldmann drängten sich gewaltsam ihr auf. Sie löschte die Lampe aus, schlich zitternd zur Küche, tastete nach dem Eimer, nahm die Rose und sog noch einmal begierig den Duft ein. Plötzlich warf sie die Blume wie im Ekel von sich. „Nein, nein, nein, ein ganz Schlechter ist er!" fuhr sie erregt auf: Braun wie ein Zigeuner war er und kräuseliges Haar hatte er — der Entführer der Braut des Kleinen."  Sie kroch ins Bett, vergrub ihr Gesicht in die Kissen, schluchzte und machte sich die bittersten Vorwürfe ob ihrer sündhaften Gedanken. Und sie bat Albert um Verzeihung ihrer Treulosigkeit wegen und schwor ihm hundertfältige Liebe.

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