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Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
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Die Aussperrung.

Mit den Jahren schwanden wohl die leidenschaftlichen Neigungen zwischen Albert und Agnes, dafür stieg aber ihr offenherziges Vertrauen zueinander. Und aus diesem erwuchs in Albert die Kraft, mit der er all die kleinen Kümmernisse überwand, die sich tagtäglich an ihn heranschlichen. Handelten seine Kameraden schlecht an ihm oder fügten sie der Arbeitersache Schaden zu, dann suchte er nach den Grundursachen ihres Tuns und vergab ihnen am Ende ihre Niedrigkeiten. So bestärkte er seinen Herzensfrieden, der ihn immer wieder erhob und ermutigte, ihm den Erfolg bei der Werbearbeit für den Verband sicherte. Trübe Erfahrungen brachten ihm zuweilen sogar innern Gewinn. Und er fand manchmal, dass das Böse nur ein unvollkommenes Gute war.
„Lassen Sie ihn doch Tischler lernen!" hieß es, wenn jemand um die Zukunft seines Jungen besorgt war. „Die sind am weitesten vor, die werden wohl einmal die ersten sein im Zukunftstaat."
Ja, die Holzarbeiter standen dicht davor, den Arbeitstag in drei Schichten zu teilen: in Arbeit, Erholung und Schlaf, immer zu je acht Stunden. In den Fabriken, wo die zuverlässigsten Verbandsmitglieder beschäftigt waren, durchbrachen diese schon den Neunstundentag und zwackten Montags eine halbe und Sonnabends sogar schon eine ganze Stunde davon ab. Früher warfen die Meister die Wortführer einfach hinaus, und ihre Rache verfolgte sie. Dem Übelstand hatten die Gesellen vorgebeugt, sie errichteten eine Geschäftsstelle ihres Verbandes und wählten einen der tüchtigsten aus ihrer Mitte, der ihre Angelegenheiten in die Hand nahm.
„Wir sind machtlos, wir haben in unseren eigenen Betrieben nicht mehr zu bestimmen!" riefen die Meister. „Komm, Regierung, hilf uns, unterstütze uns durch deine
Polizei!" Aber auch das half nichts, denn die Gesellen taten eben nichts Ungesetzliches. „Es ist zum verzweifeln," klagten die Meister: Ließen sie sich mit dem Verbandsvertreter in Verhandlungen ein, dann mussten sie immer etwas von ihrem Profit abgeben. Warfen sie den Unterhändler zur Tür hinaus, marschierten die Gesellen geschlossen hinterdrein.
So ging es Jahr um Jahr. Die Gesellen wurden immer mächtiger und der kleinste Dorfmeister musste sich den Bestimmungen des Verbandes fügen.
Die Büfett- und Schreibtischmacher streikten schon seit acht Tagen, sie forderten zwanzig Prozent Lohnzuschlag.
„O, die Herren Gesellen werden sich ja wundern!" riefen die Fabrikanten eines Morgens ihren Werkführern zu, als sie die Reihen der kahlen Hobelbänke entlangsahen, die immer noch leblos, wie erstarrte Dickhäuter dastanden. „Hier sind unsere Forderungen!" schwenkten sie triumphierend ein Rundschreiben in der Hand. „Wenn morgen nicht Mann für Mann zur Arbeit erscheinen, fliegen 20 000 Holzarbeiter glatt auf die Straße! Wer sich unseren Bedingungen fügt: sechzig Stunden Arbeitszeit die Woche und Abgabe des Verbandsbuches an den Arbeitgeber, wird wieder eingestellt. Jetzt oder nie! — Der Winter steht vor der Tür — 20 000 Mann unterstützen — in zwei Wochen sind die Geldschränke wie ausgefegt und der Verband ist fertig."...
Schneeflocken schwebten langsam zur Erde; sie machten noch eine rasche Bewegung nach oben, ehe sie im grauen Schmutz untergingen. Seit Wochen unterbrach kein Sonnenstrahl die bleierne Trübe. Die Flammen der Straßenlaternen zitterten, als ob sie frören.  Der Kampf währte nun schon bereits zehn Wochen.  In beiden Lagern war es still, als wenn ein Eingreifen etwas Mächtigeren zu erwarten stände. Und Albert schritt nun Woche um Woche auf der breiten Promenade, vor Zillner und Flatows Fabrik, auf und ab. In der ersten Zeit fiel es ihm schwer, aus den vielen Menschen, die täglich die breite Einfahrt durchschritten, die mit schlechtem Gewissen herauszufinden. Aber bald ward sein Auge geübt, und er kannte schon von ferne die auf verbotenen Wegen wandelnden Kollegen.  Der nach der Seite geneigte Kopf, die hohen, schiefen Schultern und die meist nach innengebogenen Beine waren die fast untrüglichen
Kennzeichen des Tischlers; dazu kam das suchende Umsichblicken, das alle die Treulosen an sich hatten.
Alberts Kamerad, der Pommersche Karl, kam vom anderen Ende der Straße auf ihn zu. Er zog den breiten Schlapphut etwas tiefer in sein bärtiges Gesicht und blickte seitlich hinüber zu Flatows Wohnhaus, das an der Straßenfront vor der Fabrik stand. „Du, dem seinen Groll möcht' ich heut nicht im Leibe haben," sagte er lachend, als er Albert die Hand reichte. „Dreißig Mann trieb ich seinem Agenten gestern ab."
„Hast dich anwerben lassen?"
„Ja, in Posen, die Kenntnis der polnischen Spräche machte mich zum Gehilfen des Agenten. Und da der Kerl für jeden Streikbrecher ab Bahnhof Alexanderplatz zwanzig Mark bekommen sollte, leistete er sich aus Übermut eine Reisegefährtin. Bei der gefiel es ihm besser, als bei den stinkenden Pollacken, so überließ er mir den Transport. Von den vierzig Mann bugsierte ich beim Umsteigen dreißig in den Posener anstatt in den Berliner Zug."
„Großartig hast du das gemacht!" Albert rieb sich erfreut die Hände und schlug die Füße vor Kälte aneinander.
„Warum entführtest du dem Kerl nicht auch noch die andern?  Nicht eine Maus hätte er hereinbringen dürfen!"
„Wenn ich es gestehen soll: es tat mir leid, die armen Kunden jetzt, kurz vor Weihnachten, der Landstraße auszuliefern."
„Mögen sie draußen in kleinen Städten oder auf dem Dorfe arbeiten."
„Nein, nein, Albert! Krank, alt, zerlumpt, meist dem Trunk ergeben, wie sie sind, die mag auch kein Dorfkrauter mehr. Lass sie, ich gönne ihnen die warme Werkstatt. Die können unserer Sache nur nützen."
Albert wandte sich seitwärts, zog den Hut und erwiderte den Gruß eines Vorübergehenden.
„Wer ist das?" fragte Karl.
„Der Pfarrer drüben von der Elisabethkirche. Er geht zur Abendmesse."
„Dass der dich grüßt, wundert mich."
„Er hat Verständnis für unsere Sache; er fragte mich schon öfter nach dem Stande der Aussperrung."
Sie sahen dem Geistlichen nach, der hinüber zur matterleuchteten Kirche ging, wo die hellen Steinstufen hinauf schwarze Schatten huschten und in der offenen Tür verschwanden. Dazu erklang das eintönige Bim-bam, Bim-bam des Abendglöckleins in den Straßenlärm.
Es war Feierabend. Immer massenhafter quollen die Arbeiter aus den Fabriktoren auf die breite Straße. Autohupen brüllten warnend in die Menschenmassen hinein. Ein lauter Knall: ein blitzblankes Auto hielt an, als es eben aus Zillner und Flatows Fabriktor auf die Straße bog. „Kaputt — Reifen geplatzt —." Neugierige umstanden das Gefährt. Der Führer sprang vom Sitz und aus dem Wagen stiegen acht Männer, junge und ganz alte, die zum Teil in Arbeitskleidung waren.
„Zillner-Flatow-Streikbrecher — haut die Bande!" ging es durch die Menge.   Die Rufe steigerten sich, pflanzten sich blitzartig fort, und im Nu drangen hunderte Menschen von allen Seiten drohend auf Auto und Streikbrecher ein. In ihrer Angst flüchteten die Arbeitswilligen wieder zurück ins Fahrzeug. Der Führer sprang auf den Sitz und wollte davonjagen, aber schon lag er neben seinem Gefährt. Steine, Bierflaschen, und was die wütende Menge nur erfassen konnte, flog gegen den Wagen, die Scheiben zersprangen, und die Insassen wurden auf die Straße gezerrt.   Man schlug blindlings auf die Streikbrecher ein, bespuckte sie und trat sie mit Füßen.  Albert und Karl suchten die rasende Menge zur Vernunft zu bringen.   Vergeblich.   Da — ein Ruf des Schreckens und der Empörung: Eine blinkende Schusswaffe vor sich hinstreckend, stürzte Flatow aus der Tür seines Hauses.   „Auseinander!" schrie er, „oder ich schieße Euch über den Haufen!"
Die Menge stutzte einen Augenblick, wich der gezückten Waffe aus und machte freie Bahn. Auch Schutzleute arbeiteten sich mit gezogenem Säbel der Mitte zu. Dort wälzte sich ein Menschenknäuel. — Ein Schuss krachte aus Flatows Waffe. Karl sprang vor, aber schon ging der zweite Schuss los. Ein fürchterliches Johlen und Schreien setzte wieder ein. Karl entwand Flatow die Waffe. Hundert Fäuste stürmten auf den Schützen ein, stießen und schlugen ihn zu Boden. Endlich gelang es Karl, die Rasenden von
dem besinnungslos Daliegenden abzuwehren. Er richtete ihn mit Alberts Hilfe auf und gemeinsam führten sie ihn zurück in sein Haus.
Die in der Kirche zur Andacht Versammelten durchzuckte heftiger Schreck, als das Ewigelämpchen klirrend zur Erde fiel.  Der Geistliche hielt im Verlesen der Messe I inne und sah zum Marienfenster auf, in dessen Herzseite ein strahlenförmiges Loch klaffte.  In der Nähe des Ausgangs erhoben sich einige Männer von ihren Büßerbänken und öffneten die Tür, um die Ursache der Freveltat zu ermitteln. Stimmengewirr drang in den stillen Raum.  Die Neugierde der andern stieg, langsam erhoben sich alle und drängten zur Tür hinaus.  Auch der Pfarrer folgte in seiner Amtstracht.  Er blieb auf der obersten Stufe der Kirchentreppe stehen und sah hinab auf die johlende Menge.  Die zwei Wachtmänner waren vor den Steinwürfen in ein offenes Haus geflüchtet und sahen hin und wieder durch den Türspalt.   Nun richtete sich der Steinhagel nach Flatows Fenster.   Die Geschäftsleute schlossen ihre Läden.   Der Pfarrer hob zu reden an.   Die Menge wandte sich der Kirche zu und horchte auf, bald aber erstickte sie durch höhnische Rufe und Gelächter seine Stimme.  Da trat der pommersche Karl neben den Geistlichen, den er um Haupteslänge überragte. Das von dem breiten Hut beschattete Gesicht mit dem langen, vollen Bart wirkte sichtlich auf die Menge. „Kameraden und Freunde!" rief er mit donnernder Stimme.   „Nehmt Vernunft an und hört auf den Herrn Pfarrer er meint es gut mit den Ausgesperrten!"
„Nein! — Rede du! — Kannst es besser als der!" rief man hinauf.
„Gut — dann hört auf mich! — Ich bitt' Euch, wenn ihr es ehrlich meint mit den Ausgesperten, dann geht nach Hause! Räumt die Straße, ehe die Polizei kommt! Alle Verbandskameraden fordere ich auf, mit mir für Ruhe und Ordnung zu sorgen! Zeigt der Polizei, dass wir sie nicht brauchen!"
„Recht so! Bravo, Karl! Wir helfen dir!" riefen viele Männer. „Von all den andern hoffe ich, dass sie unserer Mahnung Folge leisten!"
Karl eilte mit Albert und andern Männern bis zur nächsten Querstraße. Immer mehr kamen und stellten sich mit in eine Reihe. Dann schritten sie langsam vorwärts und trieben unter gütlichem Zureden die tausendköpfige Menge vor sich hin.  Der Pfarrer lächelte zu Karl hinüber und schien verwundert über den mächtigen Einfluss, den dieser einfache Mann auf die erregte Masse ausübte.   Auch die beiden Schutzmänner wagten sich nun aus ihrem Versteck heraus und sahen dem Zuge nach, der sich bald in den Nebenstraßen verteilte.

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