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Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
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Weihnachtsbescherung.

Gar nicht schnell genug konnte der schneidende Nordwind die Schneemassen aus seinem grauen Reiche herunterschleudern. Er zerrte und stieß sie von den Dächern und jagte sie im sausenden Spiel die Straßen entlang. Immer wieder wirbelte er den trocknen Schnee auf, rieb ihn zu feinem Pulver, peitschte ihn den eilenden Menschen in die brennenden Gesichter und trieb ihn durch Ritzen und Löcher in die Wohnungen.
Auch die Posten der Ausgesperrten hatte der Schneesturm von den Straßen weggefegt; indes die Fabrikeingänge blieben nicht unbewacht: Die Wirte der Arbeiterlokale räumten den frierenden Posten gern ein Plätzchen am Fenster ein.
Die Ausgesperrten lebten sich immer mehr in die Entbehrungen hinein. Die meisten verrichteten die häuslichen Arbeiten, damit ihre Frauen in der Fabrik oder in der Heimarbeit tüchtig schaffen konnten. Andere fanden nach und nach Gefallen an dem Leben ohne Arbeit. Sie kümmerten sich wenig um Frau und Kinder, suchten sich hier und da einen kleinen Verdienst, verbrauchten einen Teil der Verbandsunterstützung für sich allein und lebten sorglos in den Tag hinein.
Agnes hatte ihre frühere Schürzenarbeit wieder aufgenommen. Die Maschine surrte bis in die Nacht hinein. Die Zwischenmeister des Bekleidungsgewerbes nutzten die Not der Tischlerfrauen aus und kürzten die Löhne.
Zu einem Tannenbäumchen hatte Agnes schon beiseite gelegt. Ohne Kinderfreude wollte sie das Christfest nicht verleben. Eine Sammlung für die Ausgesperrten sollte im Gange sein; darauf konnte man sich wohl nicht recht verlassen, denn niemand konnte wissen, wie sie ausfiel. Erst als ganz fabelhafte Summen im Volksblatt genannt wurden, erzählte Agnes den aufhorchenden Kleinen von dem großen
Weihnachtsmann, der richtig wie vom Himmel heruntergekommen sei.
Lieschen hielt beim Putzen des Kochherdes an und sah misstrauisch zur Mutter auf. „Gibt's ja gar nicht!" sagte sie mit überlegenem Lächeln.
„Gibt's doch!- Nicht wahr, Mutter?" stritt Bernhard. „Aber vom Himmel kommt er nicht!" sagte Lieschen. „Na ja," suchte Agnes den Streit zu schlichten, ohne von der Nähmaschine aufzublicken, „das Christkind wandert eben zur Weihnachtszeit unsichtbar umher und flüstert den Menschen ganz leis ins Ohr, was sie sich einander Gutes tun sollen, und der Weihnachtsmann vermittelt nur das Gute unter den Menschen."
Dagegen lässt sich wohl nichts einwenden, dachte Lieschen und putzte und scheuerte froh weiter.
Echtes Heiligabendwetter! Der eisige Sturm hatte sich zur Ruhe gelegt, und es fiel kein Schnee mehr. Der trübe Himmelsschleier spaltete und senkte sich nach allen Seiten, das dunkle Blau weitete sich immer mehr. Das dicke Schneepolster auf den Straßen dämpfte Tritte und Wagengeräusch, und eine feierliche „Stille Nacht" schien sich vorzubereiten. Lieschen und Bernhard schritten tapfer voraus, Vater und Mutter führten den vierjährigen Willi an der Hand, der immerfort sein kleines Gedicht vor sich hin sagte, das ihm Mutter Agnes für den Weihnachtsmann gelehrt hatte.
Als wären die Tannenbäume nur zur Erhöhung der Festesfreuden gewachsen, so sah es aus. Männer eilten, ein Bäumchen fest unter den Arm gedrückt, nach Hause. Kinder, deren Eltern es nicht zum Kauf reichte, erbettelten sich einige Zweiglein von einem Händler und rannten freudestrahlend davon.
Auch der Eingang zum Volkshaus war von frischem Tannengrün umrahmt. Daraus hervor glühte in roten Buchstaben: „Lasset die Kindlein zu mir kommen" den Eintretenden entgegen. Die breite Steintreppe, die zu den Sälen hinaufführte, war von beiden Seiten mit Tannenbäumen besäumt, die die Luft mit würzigem Harzgeruch erfüllten.
„Da is er ja!" rief der kleine Wille hocherfreut, als Familie Weigert in den hohen Vorraum eintrat.
Da stand er nun, der Weihnachtsmann, zwischen grünen Tannen, die er hoch überragte. Selbstbewusst wie ein Gott schaute er aus seinen milden Augen herab auf die Kinderschar, die ihn wie neugierige Zwerglein umstanden.
„'s ist ein ganz richtiger, der lebt", sagte Bernhard leise zu Lieschen. Diese stand und sah forschenden Blickes hinauf, wie der Alte seinen mächtigen, graubehaarten Kopf nach allen Seiten hin bedächtig drehte und wie er seine Augen und Hände hob und senkte. Gern wäre sie über das davorgezogene Tau gestiegen und hätte seine Hände befühlt, ob diese auch wirklich warm waren wie die ihren, aber da rüttelte und schüttelte der Alte schon wieder klappernd Sack und Spielzeug, mit dem er behangen war, und die Kinder jauchzten laut auf vor Überraschung und Freude. — Ja, er lebte wohl doch. Wenn er bloß einmal sprechen täte, dachte Lieschen.
Weiche Töne eines Harmoniums setzten ein, wunderhelles Licht strahlte, von zwei mächtigen Tannenbäumen aus. Warme Milde umfing die Herzen und stimmte sie andächtig.
Geräuschlos teilt sich eine Wand und weitet den Blick in einen mächtigen Saal. Alles strömt hinein. Stockfinster wirds----Großmütterchen sitzt bei mattem Lampenschein auf der Ofenbank, den Spinnrocken neben sich. Sie lässt die Arbeit ruhen, rückt ihren krummen Rücken am grünen Kachelofen ein wenig gerade, streicht mit der Hand die neben ihr schnurrende Katze und beginnt zu erzählen. Durch verwilderte Wälder geht es, an sprudelnden Quellen und plätschernden Bächen vorbei, über steile Berge und blühende Täler. Durch stille Dörfer, an weidenden Viehherden vorüber führt ihr Weg. Endlich gelangt sie in die große Stadt. Das Christkind habe sie aus fernem Lande hierher gesandt, um die armen Kinder der Ausgesperrten ein wenig zu erfreuen. Drei tiefe Glockenschläge ertönen. Großmütterchen erhebt sich, breitet in großem Bogen ihre Arme, und von hellem Licht umflutet tritt eine Schar feenhafter Mädchen mit buntangefüllten Körben hervor.
Zuerst zögernd, dann laut jubelnd empfangen die Kleinen aus lieblichen Händen die süßen Gaben.
In gedrängtem Zuge ging’s eine Treppe höher hinauf. Hochaufgetürmt   lagen  hier Kleidungsstücke   aller Art.
Mütter prüften und wählten, Kinder standen überrascht in neuen Mänteln und Schuhen. Berge von Weihnachtsstollen ragten auf zwischen langen Reihen von Paketen, Äpfeln und Nüssen, wovon jeder seinen Teil bekam. Und weiter ging es zu Puppen und Pferdchen, zur Welt der Kinderfreuden.
Agnes ließ sich müde auf einer Ruhebank im Vorraum nieder. Albert setzte sich zu ihr. Beide sahen still auf die reiche Masse der Gaben. „Was ist dir?" fragte Albert, als Agnes Tränen über die glühenden Wangen liefen. Sie schüttelte den Kopf: „Lass nur, ich freue mich so sehr."
Ja auch in seiner Brust drängte sich etwas Mächtiges, das nach Ausdruck rang. Umarmen hätte er sein Weib mögen und ihr die Freudentränen wegküssen, die aus so gutem Herzen kamen. Unsäglich glücklich fühlte er sich. Hinauschreien hätte er es mögen in die Ohren der Millionen, die noch zweifelnd der Arbeitervereinigung fern standen: Hier war etwas Hohes, Edles am Werke. Ein Hinweis auf die Not der ums Brot ringenden Brüder hatte dies Wunder hervorgebracht. Mochte man sich in Kirchen wegen der Gottlosigkeit der sozialdemokratischen Arbeiter bekreuzen, mochten weise Staatsmänner erhaben und machtbewusst ihre Lehren belächeln, sie waren doch die Pfadfinder zum wahren Gott. Weder himmlischer Lohn noch höllische Strafen der Frommen hatten es jemals vermocht, das zuwege zu bringen, was hier aus freiem Tun erstanden war. Alle kannten den freudigen Geber, vor dem sich kein Empfangender erniedrigen brauchte. —
Albert und Agnes warteten an der Haltestelle der Straßenbahn und sahen auf ihre Kinder, die froh im Schnee umhersprangen. Klägliches Weinen störte sie aus ihren Betrachtungen. Hinter ihnen schob ein betrunkener Mann eine Frau mit zwei kleinen Knaben zu einer Kneipentür heraus auf die Straße. Die Frau schluchzte: „Schöne organisierte Arbeiter sind das, die das Geschenk ihrer Kinder in Schnaps umsetzen."
„Was?" fragte Albert empört. Agnes Warnung überhörend, trat er schnell in die Wirtschaft ein. „Halt!" rief er, als eben ein Mann sein Weihnachtspaket dem Wirt über den Ladentisch reichte. „Bist wohl des Teufels!"
„Was geht's dich an?   Scher dich weg!".  Der Angetrunkene stieß Albert vor die Brust.
„Das ist sein Eigentum, damit kann er machen, was er will!" Andere traten gegen Albert auf.
„Wollen Sie etwa die Saufschulden bezahlen? Dann geb' ich gern die Waren heraus. Hier sehen Sie!". Der Wirt wies Albert auf einen Stoß Pakete, die hinter dem Ladentische aufgestapelt lagen. „Vierzehn Tage lang haben sie schon Schulden darauf gemacht!"
„Kollegen, seid ihr denn nicht recht gescheit!" rief Albert entrüstet, die Tatsache noch nicht recht begreifend.
Lachen und Höhnen war die Antwort.
Hier konnte er allein nichts ausrichten, das sah er. Er ging hinaus, kehrte aber bald mit zwei Ausschussmitglieder aus dem Volkshause zurück.
Diese traten sofort hinter den Schenktisch, drängten den Wirth beiseite. — „Niemand habe ein Anrecht auf die Geschenke, außer den Familien der Ausgesperrten!" sagten sie. Ein Tumult entstand. Erst als die Ordner mit der Polizei drohten, fügte sich der Wirth.
Betrunkene Männer entrissen ihren Frauen die Pakete, die Albert ihnen zureichte. Andere Frauen liefen mit den geretteten Paketen zur offenen Tür hinaus. Wütend verfolgten die Betrunkenen ihre Frauen, nahmen ihnen die Geschenke weg und warfen sie hinter den Ordnern her. „So — hier! Wir verzichten auf den Plunder! Mütter weinten, Kinder schrieen, wobei sie die im Schnee verstreuten Gegenstände zusammensuchten.
Zitternd vor Aufregung saß Agnes, dicht an Albert gedrückt, in der Straßenbahn. Stumm sahen sich beide in die Augen. Es schien ihnen, dass manche Arbeiter in ihrer Unvernunft Armut und Elend selber zur Unerträglichkeit steigern wollten. Erst daheim in der trauten Stube, im weichen Licht des kleinen Tannenbäumchens, wo der kleine Willi sein Gedicht geläufig aufsagte, von dem er vor dem großen Weihnachtsmann kein Wort mehr gewusst hatte, und wo Lieschen und Bernhard ihre Weihnachtslieder sangen, wurden auch die Herzen der Eltern wieder warm, und sie stimmten mit ein in die alten, klangvollen Weisen.

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