Im Verbandsbüro.
Hohl klangen Alberts Tritte, als er am anderen Morgen über die sauberen Fliesen im geräumigen Flur des Verbandshauses entlang schritt. Wartende Männer und Frauen saßen auf Bänken, die in den Fensternischen standen, andere sahen durch die Scheiben hinüber zur Verbandsdruckerei, wo mächtige Maschinen klapperten und stampften.
Etwas unsicher trat er in den langen, leeren Kassenraum ein, dessen Stille nur ab und zu durch ein kurzes Klingling unterbrochen ward. Durch die großen Fenster strahlte die Morgensonne und badete alle Gegenstände in goldene Flut. Eine mit schwarzem Leder bezogene Bank schmiegt sich wie eine Riesenschlange an der langen weißen Wand hin. Im dunklen Ton gehaltene Schreibpulte, hohe Drehsessel davor, standen wohlgeordnet an der Fensterseite. Ein schmaler Abfertigungstisch zog sich durch die ganze Länge des Raumes. Am vorderen Ende dieser langhingestreckten Tafel schloss sich ein Holzverschlag an, aus dem zwei in Mannshöhe befindliche Mattglasscheiben wie hellgraue Augen in den Raum hineinstarrten. Dahinter wiederholte sich das Klingling in kurzen Abständen.
Die Uhr über der Eingangstür schlug acht. Angestellte traten durch eine Nebentür ein. Kassierer Peinlich trat aus einer schmalen Öffnung seines Verschlages; die Schlüssel klirrten, und zur breiten Bürotür quollen die Arbeitslosen herein. Der Raum war im Nu dicht angefüllt. Fragen und Antworten flogen hin und her, stießen zuweilen hart aufeinander. Ohne Unterlass klirrte das Geld aus den Händen des Kassierers auf die Marmorplatte. Die Empfänger strichen es hastig ein, andere drängten schon ungeduldig nach.
Eine Stockung trat ein. „Soll das etwa meins sein?" presste ein älterer Mann hervor, unwillig auf das hingezählte Geld starrend.
„Ja! Nimm es man weg, damit andere herankönnen."
„Das stimmt aber nicht!"
„Es stimmt schon, zähl nur die Quittung dazu," sagte der Kassierer, wobei er auf den weißen Schein zeigte, der neben dem Gelde lag.
„Ih — Ihr seid ja gemein!" stieß der Alte bitter hervor.
„Lieber Freund, du hast sieben Jahre Zeit gehabt; da hättest du wohl mal an dein Darlehen denken können."
„Geht's dich was an? Du hast kein Recht, mir von dem Almosen etwas abzuziehen — du — du —!"
„Nicht nur ein Recht hab ich, es ist sogar meine Pflicht!" antwortete Peinlich in bestimmtem Ton.
Und weiter ging es: klingling — klirr auf der harten Marmorplatte, während der Alte sich grollend in den Hintergrund zurückzog.
Wie mit tausend Fäden umsponnen saß Albert an seinem Arbeitstisch und zählte und rechnete an Mitgliedsbüchern und vorgedruckten Tabellen herum. Die kritischen Blicke und Bemerkungen der Wartenden lähmten seine Gedanken. Immer wieder musste er den Angestellten Schweiger um Rat fragen, dem er zur Seite gegeben war.
„Hast schon wieder achtzehn Mark herausgerechnet. Der Höchstsatz beträgt siebzehn Mark fünfzig! Kannst du denn nicht zusammenzählen?" fuhr ihn dieser erregt an.
Die Wartenden horchten auf, einzelne lachten.
Albert hielt ein Weilchen an und blickte um sich. Was war das für ein Ton? Am liebsten hätte er alles hingeworfen und wäre davongegangen. Aber er blieb, zählte und rechnete in fiebernder Unruhe weiter. Er war ja im Unrecht. Indessen schob ihm Schweiger schon wieder ein falschberechnetes Buch zu. „Zwölf Mark fünfzig macht es bei 156 Beiträgen, nicht fünfzehn!"
„Du sagtest doch aber —"
„Ach was, sagtest, sagtest! Sieh doch auf die Tabelle!" unterbrach Schweiger barsch Alberts Rechtfertigung. „Ich glaub', es ist schon besser, du lässt es ganz sein, es wird ja doch nichts! Hier, schreib' Quittungen aus; abschreiben wirst du wohl können!"
So ein rücksichtsloser, ungeduldiger Mensch, dachte Albert, tat aber doch mit pochendem Herzen, wie ihm Schweiger gebot. Er sah es ein: auf Minuten kam es hier an; das Drängen und die Ungeduld der Arbeitslosen erregte eben alle und trieb den ganzen Apparat zu jagender Eile an. Immer deutlicher gaben die Wartenden ihrem Ärger Ausdruck: „Größere Räume besorgen — Kollegen zum Helfen annehmen — Zahlen schreiben könn'n wir auch für sieben Mark 'n Tag —- Hunderte stehen zur Verfügung. Aber freilich, die Arbeitslosen können warten, bis sie vor Hunger umfallen, die versäum'n ja nichts!"
So steigerte sich die Spannung immer mehr. Einige Beamte bemühten sich, durch freundliche Worte die erregten Gemüter zu beruhigen Andere fuhren heftig dazwischen. Schweigers Mund stand nicht still; er wollte es allen anderen zuvortun.
Albert wusste wohl: es war nicht leicht, den Menschen gemeinsame Pflichten aufzuerlegen, zumal hier, wo kein Gesetz die Leidenschaften der einzelnen in Grenzen hielt. Aber er meinte, nicht wie auf Polizeistuben oder Kasernenhöfen dürfe hier getadelt und zurechtgewiesen werden. Nein! Selbst die strengsten Worte mussten vom heiligen Geiste der Bewegung eingegeben sein, dann führten sie auch wohl den Verstocktesten zur Sühne, anstatt zur Erbitterung.
So dachte er, als er eben mit einer Handvoll ausgeschriebener Quittungen an den Abfertigungstisch trat und auf eine Lücke im aufgeregten Stimmengewirr wartete, um mit dem Ablesen der Namen zu beginnen.
„Lauter! Lauter!" riefen die Arbeitslosen. Er kam ins Stottern, ehe er den Namen Lawocznijewskewicz herausbrachte.
„Wenn du nicht kannst lesen richtig, scherr dich an Hobbeibank!" fuhr ihn der Träger des so langen Namens dreist an. „Bist woll Freund vom Vorstand, aber nicht rechnen und lesen kannst du!"
Diese Grobheit machte Albert verlegen. Ein inneres Zittern durchbebte ihn. Aber ehe er Zeit hatte, eine Erwiderung zu finden, durchfuhr eine neue Bewegung den Raum.
Ein Mann mit verzerrtem Gesicht schlug mit der Faust auf den Abfertigungstisch. „Ihr Betrüger, gemeinen, gebt mit mein Geld zurück, das ich in zwei Jahren einzahlte!" schrie er.
„Raus mit dir!" kreischte eine blecherne Stimme erregt dazwischen. Der Beamte Schrepp, ein schwächliches
Kerlchen, sprang behände hinter seinem Pult hervor. „Bist nicht mehr Mitglied, hast seit drei Monaten keinen Beitrag bezahlt! Raus!" fuhr er dreist auf den Wütenden los. Der packte das dünne Männchen mit seinen schweren Fäusten. Albert und Peinlich sprangen hinzu und befreiten Schrepp, während Arbeitslose den Tobenden zurückhielten und zur Tür hinausschoben.
Unterdessen keifte Schweiger auf einen jungen Kollegen ein, bis dieser sein Verbandsbuch in Stücke riss und Schweiger vor die Füße warf, weil ein Teil seiner Unterstützung für rückständige Beiträge einbehalten werden musste.
So griff die Erregung nach und nach auf fast alle über, man schalt, stritt und drohte. Die Beamten traten von ihren Pulten und sprachen beruhigend in den Lärm hinein — ohne Erfolg. Da glaubte Schweiger, etwas Wirksames tun zu müssen, kündete die Schließung der Kasse an. Das steigerte die Erregung zum Skandal. Einsichtige Arbeitslose stellten sich auf die Stühle und ermahnten zur Ruhe und Vernunft, aber auch die fanden kein Gehör. — Da — was war das? — erst leise, wie aus der Ferne sich durch die Lücken des Rumors ringend, dann immer lebhafter, den rauen Wirrwarr verschlingend, zogen die lieblichen Töne einer Mandoline wie buntglitzernde Seidenfäden durch den mit Not und Leid, Hass und Neid erfüllten Raum. Rasch gesellte sich eine Mundharmonika hinzu, und die kühne Weise der Arbeitermarseillaise unterdrückte die kleinlichen Zankstimmen des Alltags. Beim Kehrreim setzten zuerst einzelne schüchtern ein, bald aber sangen oder summten die meisten mit. Die Erbitterung wich, und als die Musikanten einen leichten Walzer folgen ließen, breitete sich eine fast heitere Stimmung über das Ganze, ja einige Paare drehten sich in einer Ecke sogar im Tanze.....
Die Mittagzeit war vorbei. Schläfrig strichen sich die Büroarbeiter übers Gesicht und erhoben sich von ihren Sitzen. Kassierer Peinlich stand schmerzenden Kopfes neben seinem Geldschrank. Immer noch einmal überflog er die langen Zahlenreihen im Kassabuch; dann trat er durch die schmale Tür seines Verschlages. „Es wird von
Tag zu Tag schlimmer," begann er zu klagen. „Unter solchen Zuständen wird es mir unmöglich, die Kasse weiterzuführen."
„Ja, wenn man dabeisteht und mit den Zähnen knirscht, wie es Freund Weigert heut machte, dann hauen uns die Kollegen eines Tages zum Tempel hinaus," begann Schweiger, um zu beweisen, dass so ein Neuling von den schweren Pflichten eines Büroarbeiters keine Ahnung habe.
„Das ist wahr," nickte der magere Schrepp.
„Es stimmt, ich hätte dem Polen entgegentreten müssen." gab Albert zu. „Mir fiel aber in der Erregung nichts Vernünftiges ein, und grob wollte ich nicht werden."
„Nein, ja nicht grob werden," ahmte Schrepp ironisch nach.
„Ihr könnt's schon glauben, nur Ruhe und Besonnenheit macht das Gemeine wirkungslos," fuhr Albert fort. Und ein jeder sollte sich bemühen, sich in den Gemütszustand der Arbeitslosen hineinzufühlen."
Schrepp wehrte ab. „Lass man Weigert, deine Pastorenweisheit kennen wir schon."
Auch Schweiger lächelte überlegen: „Konntest ja heut Vormittag dein Rezept anwenden."
„Jawohl, gerade aus dem heutigen Vorgange solltet Ihr lernen! Wirkte nicht die Musik Wunder? Erstickte sie nicht alles Hässliche und Rohe? Und haben nicht die beiden aufspielenden Kollegen uns alle beschämt?"
„Du mein Gott," erwiderte Schrepp, wir können doch nicht den Kollegen immer etwas vorblasen, wenn sie anfangen zu rasen!"
Alle lachten über Schrepps Schlagfertigkeit. Von draußen trommelte es ungeduldig an die Tür. Peinlichs Schlüssel klirrten.
Fremde, durchreisende Kollegen traten ein. Zwei echte Handwerksburschentypen waren es, die sich vordrängten; sie kamen, um ihre Reiseunterstützung abzuheben. Verwundert sahen sie dem geschäftigen Treiben zu, das sich hier an der größten Zahlstelle ihres Verbandes regte. Aus ihren wetterharten Gesichtern blickten arglose Augen schelmisch blinzelnd nach dem weitgeöffneten Geldschrank hin. Dieser protzige, blankglitzernde Koloss mit dem vielen Gold und Silber im Leibe, schien auf ihre, nur zu drei-
Kerlchen, sprang behände hinter seinem Pult hervor. „Bist nicht mehr Mitglied, hast seit drei Monaten keinen Beitrag bezahlt! Raus!" fuhr er dreist auf den Wütenden los. Der packte das dünne Männchen mit seinen schweren Fäusten. Albert und Peinlich sprangen hinzu und befreiten Schrepp, während Arbeitslose den Tobenden zurückhielten und zur Tür hinausschoben.
Unterdessen keifte Schweiger auf einen jungen Kollegen ein, bis dieser sein Verbandsbuch in Stücke riss und Schweiger vor die Füße warf, weil ein Teil seiner Unterstützung für rückständige Beiträge einbehalten werden musste.
So griff die Erregung nach und nach auf fast alle über, man schalt, stritt und drohte. Die Beamten traten von ihren Pulten und sprachen beruhigend in den Lärm hinein — ohne Erfolg. Da glaubte Schweiger, etwas Wirksames tun zu müssen, kündete die Schließung der Kasse an. Das steigerte die Erregung zum Skandal. Einsichtige Arbeitslose stellten sich auf die Stühle und ermahnten zur Ruhe und Vernunft, aber auch die fanden kein Gehör. — Da — was war das? — erst leise, wie aus der Ferne sich durch die Lücken des Rumors ringend, dann immer lebhafter, den rauen Wirrwarr verschlingend, zogen die lieblichen Töne einer Mandoline wie buntglitzernde Seidenfäden durch den mit Not und Leid, Hass und Neid erfüllten Raum. Rasch gesellte sich eine Mundharmonika hinzu, und die kühne Weise der Arbeitermarseillaise unterdrückte die kleinlichen Zankstimmen des Alltags. Beim Kehrreim setzten zuerst einzelne schüchtern ein, bald aber sangen oder summten die meisten mit. Die Erbitterung wich, und als die Musikanten einen leichten Walzer folgen ließen, breitete sich eine fast heitere Stimmung über das Ganze, ja einige Paare drehten sich in einer Ecke sogar im Tanze.....
Die Mittagzeit war vorbei. Schläfrig strichen sich die Büroarbeiter übers Gesicht und erhoben sich von ihren Sitzen. Kassierer Peinlich stand schmerzenden Kopfes neben seinem Geldschrank. Immer noch einmal überflog er die langen Zahlenreihen im Kassabuch; dann trat er durch die schmale Tür seines Verschlages. „Es wird von
Tag zu Tag schlimmer," begann er zu klagen. „Unter solchen Zuständen wird es mir unmöglich, die Kasse weiterzuführen."
„Ja, wenn man dabeisteht und mit den Zähnen knirscht, wie es Freund Weigert heut machte, dann hauen uns die Kollegen eines Tages zum Tempel hinaus," begann Schweiger, um zu beweisen, dass so ein Neuling von den schweren Pflichten eines Büroarbeiters keine Ahnung habe.
„Das ist wahr," nickte der magere Schrepp.
„Es stimmt, ich hätte dem Polen entgegentreten müssen." gab Albert zu. „Mir fiel aber in der Erregung nichts Vernünftiges ein, und grob wollte ich nicht werden."
„Nein, ja nicht grob werden," ahmte Schrepp ironisch nach.
„Ihr könnt's schon glauben, nur Ruhe und Besonnenheit macht das Gemeine wirkungslos," fuhr Albert fort. Und ein jeder sollte sich bemühen, sich in den Gemütszustand der Arbeitslosen hineinzufühlen."
Schrepp wehrte ab. „Lass man Weigert, deine Pastorenweisheit kennen wir schon."
Auch Schweiger lächelte überlegen: „Konntest ja heut Vormittag dein Rezept anwenden."
„Jawohl, gerade aus dem heutigen Vorgange solltet Ihr lernen! Wirkte nicht die Musik Wunder? Erstickte sie nicht alles Hässliche und Rohe? Und haben nicht die beiden aufspielenden Kollegen uns alle beschämt?"
„Du mein Gott," erwiderte Schrepp, wir können doch nicht den Kollegen immer etwas vorblasen, wenn sie anfangen zu rasen!"
Alle lachten über Schrepps Schlagfertigkeit.
Von draußen trommelte es ungeduldig an die Tür. Peinlichs Schlüssel klirrten.
Fremde, durchreisende Kollegen traten ein. Zwei echte Handwerksburschentypen waren es, die sich vordrängten; sie kamen, um ihre Reiseunterstützung abzuheben. Verwundert sahen sie dem geschäftigen Treiben zu, das sich hier an der größten Zahlstelle ihres Verbandes regte. Aus ihren wetterharten Gesichtern blickten arglose Augen schelmisch blinzelnd nach dem weitgeöffneten Geldschrank hin. Dieser protzige, blankglitzernde Koloss mit dem vielen Gold und Silber im Leibe, schien auf ihre, nur zu dreiviertel geöffneten Augenlider zu drücken, wie es sonst die grellen Sonnenstrahlen auf der Landstraße taten. An einer Schnur über die Schulter hing das Reisebündel.
„Dir werd' ich gleich mal ein neues Mitgliedsbuch ausstellen," sagte Peinlich, nachdem er die meist losen Blätter nach einem freien Plätzchen abgesucht hatte, um das Reisegeld eintragen zu können. Denn jedes Eckchen war mit Marken und Stempeln aus allen europäischen Ländern bunt besät. Alles Heften mit Zwirn, alles Kleben mit Leim, Siegellack und gekautem Brot konnte das spröde Papier nicht mehr zusammenhalten.
„Ach nein, Bruderherz, jetzt nicht. Sollte mich unser Herrgott wieder einmal mit Arbeit strafen, will ich gern die zwanzig Pfennig opfern. Jetzt kann ich nicht," bat der Angeredete, kniff dabei ein Auge zu und grinste verschmitzt. Hatte so 'n Geldschrankwächter 'ne Winde. Der Wert des Buches stieg mit jedem Tage. Er sollte nur einmal sehen, wie die Augen der jungen Dorf- und Kleinstadtgesellen blitzten, wenn der alte Walzbruder am Abend auf der Herberge seine Reiseabenteuer zum besten gab. Und wenn dabei manches den jungen Gemütern unglaublich vorkam, ging es, zum Zeichen der Wahrheit, an das Entziffern der Stempel und Unterschriften. Dann flossen die losen Nickel beim Abschied leicht in seine Tasche.
Am anderen Tage standen die flüggen Burschen an ihrer Hobelbank, ließen Säge und Hobel ruhen und schauten versonnen zum Fenster hinaus, den fortziehenden Wolken nach. Und wenn sie dann nach Feierabend vor das Stadttor gingen und das Abendglöcklein den sinkenden Tag in die Ewigkeit hinüberläutete, dann standen sie und sahen sehnsüchtig verträumt dem durch die Felder sausenden Eisenbahnzuge nach, bis er sich in weiter Ferne in graue Berge und dunkle Wälder hineinbohrte....
Drei junge Gesellen traten vor. Sie stellten ihre braunen Reisetaschen auf den Tisch, knöpften den dicken Sakkoüberzieher auf und gaben ihre Mitgliedsbücher ab.
„Ihr reist doch sofort wieder weiter?" fragte sie Peinlich, halb auffordernd.
„Nein!" erwiderten jene entschieden. „Hier liegen aber zwanzig Prozent der Kollegen auf dem Nachweis."
„Macht nichts, wir finden schon Arbeit." „Aber nur durch den Nachweis dürft Ihr hier Arbeit annehmen, und da könnt Ihr sieben bis acht Wochen warten."
„Das lass nur unsere Sorge sein; ein jeder sucht sich Arbeit, wo er sie am besten findet," gab der eine dreist zurück.
„Was, ihr wollt den Familienvätern hier das bisschen Arbeit noch wegnehmen? Schämt ihr euch nicht? Wo ihr noch so jung seid und euch die Welt überall offen steht?!"
Lächelnd sahen sich die drei an und gingen ohne Gruß hinaus.
„Das ist ja einzig," begann der Sprecher von vorhin, als sie auf der Straße waren.
„Ja, entweder acht Wochen bummeln, oder sofort abreisen, das schreibt uns nun der Verband vor. Dafür zahlen wir Beiträge," sagte der andere höhnisch.
„Hahahaha, die können uns sonst was mit ihrem ganzen Verband," lachte der dritte und tippte sich vielsagend mit dem Zeigefinger an die Schläfe. „Lasst mich nur die Sache machen; ich sage euch: in einer Woche haben wir alle drei Arbeit. Mein Onkel ist Werkführer in einer Tischlerei, der wird uns schon unterbringen."
Im Büro ging es weiter.
„Sterbefall?" fragte Peinlich zu einer Frau hinüber, die sich mit der schwarzen Schürze über die feuchten Augen fuhr. Sie nickte und reichte dem Kassierer die Urkunden hin. Die schleichende Krankheit ihres Mannes hatte auch an ihrer Gesundheit gezehrt, und der in ihrer Nähe weilende Tod hatte ihre Wangen gestreichelt und die Dreißigerin um zehn Jahre älter gemacht. Ihr Mund zuckte noch schmerzhaft nach, wenn sie auf Peinlichs Fragen Antwort gab.
Nun stand sie verlassen da mit den vier Kindern; das Kleinste hielt die auf der Bank sitzende Freundin im Arm. Es kam etwas Leben in die matten Züge der Witwe, und ihr dankbarer Blick umfasste Peinlich, als er einen Fünfzigmarkschein und noch ein paar Goldstücke aufzählte.
Ihre Begleiterin legte ihr tröstend die Hand auf die Schulter und sprach leise beim Hinausgehen: „Nu biste aba fein raus, Hede. Nee, soviele Jeld! Und een Kranz jibt et und in de Zeitung kommt et ooch noch! So'n Vaband is doch 'ne feine Sache, und jrade in de jrößte Not, wo een allet in der Welt valassen tut!"
„Es war aber auch meinem Willem sein ein und alles: der Verband!" sagte die Witwe stolz.
„Nee, und sone Zicken werd'n hier ooch nicht jemacht, wie anderswo," begann die Freundin wieder. „So, det haste zu kriegen, un denn is jut. Nee, Hede, wat hättste bloß anfangen sollen? Det Jeld von de Krankenkasse reichte doch nich hin und nich her! Hätt'st den Willem ooch reenweg fier arm bejraben lassen müssen."
„Na endlich!" sagte ein Mann ungeduldig, strich über seinen blonden Spitzbart, rückte den Kneifer zurecht und trat auf Peinlichs Ruf an die Kasse. Seine Frau trat neben ihn. Sie war in tiefe Trauer gehüllt und hielt ihr weißes Taschentuch vor den Mund, was ihr ein ganz aufgelöstes Aussehen gab.
„Wie?" fragte der Mann schon zum zweiten Mal zu Peinlich hinüber. „Ich versteh Sie weiß Gott nicht! — Ahaa, so meinen Sie das! Na, das ist ja ein netter Verband — ja, wirklich! Also, das ist die Gerechtigkeit der Sozialdemokraten?"
„Jawohl, mein lieber Herr," entgegnete Peinlich scharf, „das ist Gerechtigkeit! Für junge Leute, die bei Lebzeiten für niemand zu sorgen hatten, wird kein Sterbegeld gezahlt, wenn sie nicht mindestens drei Jahre Mitglied waren."
„Hörst du, Marianne, da hast du den Schwindel!"
Das Taschentuch der Frau verschwand blitzartig vom Munde, und die erst so trübselig dreinschauenden Augen stachen treffsicher auf Peinlich ein. „Pfui, das ist gemein!" kam es giftig durch das Trauergewebe. „Immer hab' ich dem Jungen abgeraten von dem roten Verein. Nun hat er das schöne Geld eingezahlt — und jetzt — Ach, der arme Junge wusste es ja. Aber wenn er nicht zahlte, durfte er in keiner Werkstatt arbeiten. — O, das schöne Geld — das schöne Geld!"
„Jetzt ist's aber genug!" unterbrach Peinlich die Frau heftig.
„Genug? Ja, das glaub' ich, nun Sie das Geld geschluckt haben!" giftete diese weiter.
„Bringen Sie sich doch nicht in so scharfen Gegensatz zu Ihrer Trauerhülle, liebe Frau! Ihr Bruder zahlte 65 Mark in den Verband ein, dafür bekam er 172 Mark an Unterstützungen aller Art heraus. Das ist sozialdemokratische Gerechtigkeit!" spottete Peinlich.
„Reg dich nicht auf," beruhigte der Mann seine Frau, „verklagen werd' ich diese Betrügergesellschaft!"
Dann flog die Tür hart ins Schloss.
*
Und heute war Geldtag der Kranken. Nicht so ungestüm wie gestern drängten sich die ersten beim Öffnen der Tür in den Kassenraum. Die Rheumatischen und die mit lahmen und schwachen Beinen, denen das Sitzen wohl am meisten not tat, kamen sacht hinterdrein gehumpelt, nachdem schon alle Stühle und die lange Bank besetzt waren. Manche, die noch gesunde Beine hatten, zupften ihren Vordermann, der, auf Stöcken gestützt, zitternd dastand, und überließen ihm den Sitzplatz. Einer klagte dem andern sein Leid, als ob es sich so leichter ertragen ließe. Die Alten sprachen von der Hausapotheke der Frau Meisterin, mit deren Hilfe in früheren Zeiten die Krankheiten der Gesellen geheilt wurden. „Wie ganz anders ist es doch heut, wenn einen die Maschine packt," hörte man klagen. — Ja, die Maschine, die bringt auch in die Leiden des Menschen Veränderungen. Sie bedrängt ihn immer mehr, nimmt ihm ein Stück Werkzeug nach dem andern aus der Hand und leistet das Dutzendfache an Arbeit. Dabei zwingt sie ihn in Abhängigkeit, schlägt, reißt und frisst ihm sogar die Glieder ab, sobald er sie nicht nach ihrem Willen bewegt. Auch sein Inneres sucht sie in ihre Gewalt zu bringen: die menschliche Stimme, das Wort schaltet sie aus, mögen sich doch die elenden Menschlein durch Gebärden verständigen. Ihr Kreischen, Pfeifen, Stoßen vereinigt sie zu einem sausenden Dröhnen und verscheucht die Milde aus ihrer Nähe. Hart und gefühllos, wie sie selbst ist, macht sie den Menschen.
Verbissen in sich gekehrt saßen sie nun da, die Opfer der Arbeit; ihre Augen mit den großen Pupillen flogen bald nach rechts, bald nach links, hin und wieder zuckte es ihnen durch eine Gesichtshälfte. Das Reden der anderen schien sie zu verdrießen; Ruhe war ihr Verlangen, denn die Nächte
brachten ihnen selten Erholung. Dazwischen saßen die Bleichen, mit den Millionen Schmarotzern im Leibe. Hin und wieder schwellte ein Hustenanfall ihre Brust, der ihnen das Blut zu Kopfe trieb. Danach schrumpften sie noch mehr in sich zusammen, schüttelten sich, als ob sie frören, und ihre wächsernen Ohren schienen durchsichtiger als zuvor.
Die Jungen taten verwundert über die Rückständigkeit der Ärzte, die ihre Lunge für angegriffen hielten. Sie richteten sich nicht nach den Vorschriften der gelehrten Doktoren, sondern suchten Kurpfuscher auf, die ihnen schnelle Besserung versprachen. So lebten sie in Hoffnung, indem sie den quälenden Husten für eine innerliche Reinigung hielten. „Wenn erst das ganze Böse herausgehustet sein wird, sind wir gesund," sagten sie mit froher Zuversicht.
Gleichgültig saßen die Alten daneben, die durch allerlei Beschwerden langsam auf das Sterben vorbereitet wurden. Welk und geduldig schlummerten sie für sich hin: Zeit hatte für sie keine Bedeutung mehr, nur das Näherrücken des Endes ihrer Unterstützung machte ihnen einige Sorgen.
Dieses ganze Jammerbild umrahmten die Frauen. Die älteren saßen abgehärmt da, sie suchten im stillen nach einem Ausweg, der auch sie dann bald aus all dem Elend hinwegführte, wenn ihnen der Tod den Mann nahm. Auf den Gesichtern der Jüngeren hatte Frau Sorge zwar auch schon ihr schändliches Mal eingebrannt, jedoch ihre Augen verrieten noch Lebenslust. Manche hielten ihre Säuglinge auf dem Schoß und mühten sich ab, sie zu beruhigen. Diese jedoch schrieen weiter in die Welt hinein. Sie erhoben ihre geballten Fäustchen, als wenn sie drohten, einst Rache zu üben für all das Ungemach, das ihren Eltern zugefügt wurde.
Karbolgeruch und allerlei Ausdünstungen sättigten die Luft im überfüllten Raume. Nur die Neueintretenden pumpten durch das Öffnen der Türflügel ein wenig Sauerstoff mit hinein. Gegen das Surren des elektrischen Absaugers beschwerten sich die Nervenschwachen, und gegen das Öffnen der Fenster erhoben die Rheumatischen und Brustkranken. Einspruch. So pressten die Kranken die verbrauchte Luft immer wieder durch ihre Lungen, was ihre Verdrossenheit noch erhöhte.
„Warum glaubt man mir nicht? Bin ich denn eine Lügnerin?" sagte eine junge Frau, halb weinend, als ein Beamter den Geburtsschein des Kindes verlangte, ehe die Wochenbettunterstützung gezahlt werden konnte. „Ich geh morgen ins Geschäft und habe weder Zeit noch Lust, mich noch einmal zu versäumen!" Sie riss das Verbandsbuch an sich und eilte dem Ausgange zu. „Behalten Sie die paar Mark; aber warten Sie, in der nächsten Versammlung wird es mein Mann Ihnen schon heimzahlen!"
„Herrgottsackrah, is dös 'n Weib!" knirschte eine tiefe Mannsstimme. Es war der böhmische Sepp, ein alter Tischler.
„Sie hat aber recht," erwiderte eine andere Frau, „mit uns Frauen machen sie überall, was sie wollen."
„A was, jeder muss sei Sach in Ordnung hab'n! Frech is dös Weib; se droht unsre Leit' mit de Versammlung, wie kleine Kinder mit'm schwarzen Mann."
Ein etwa zwölf Jahre altes Mädchen drängte sich weinend zur Tür.
„Was weinst, mein Kind?" fragte Sepp. „Ich hab kein Geld gekriegt."
„Seh'n Sie, seh'n Sie, da haben Sie's ja," fuhr die Frau von vorhin spitz dazwischen.
„Ma ruhig, ruhig!" wehrte Sepp das Weib ab.
„Warum hast' nix kriegt?"
„Weil ich Vaters Verbandsbuch nicht mit hab. Und wir wohnen in Weißensee." „Hast' Fahrgeld?"
„Nein. Mutter hatte keinen Pfennig mehr."
„Gemein ist das!" keifte das Weib schon wieder. „So sind die Herren da vorn — rücksichtslos — sogar gegen Kinder! Ja, gewiss, die Herren haben ja immer ihr Bestimmtes, die kennen keine Not. Ach, du mein Gott! So etwas nennt sich nun Verband, das soll den Arbeitern helfen, dabei haben diese Beamten überhaupt kein Herz im Leibe."
„A was, san Se still! Sie stecken voll Gift!" fuhr Sepp das Weib an, nahm das Mädchen an der Hand, und bahnte sich durch zur Kasse.
„So, mein Kind, nu hast Fahrgeld. Nu beeil dich, damit du vor Schluss wieder hier bist."
„O Gott, o Gott," seufzte eine Frau, die sich ihr zerschlissenes Tuch fester um die Schultern zog, „soviel Beiträge im Rückstand! Und ich? Nichts bekomm' ich raus, alles geht drauf auf Schulden! Oje, oje, was soll ich bloß machen mit den vier hungrigen Mäulern? 's ist schon 's beste, man springt ins Wasser."
Jablonski, ein ältlicher Beamter, der die Frau abfertigte, sprach ihr Mut zu, indem er ihr den Weg zur Armenkasse wies. „So: wird es sich ja notdürftig auskommen lassen mit der Unterstützung aus der Krankenkasse dazu," suchte er sie zu trösten.
„Ach, das ist es ja eben: die Kasse hat er auch verbummelt. Und hier acht Beiträge im Rest. — Was hat der Mann bloß mit dem Gelde gemacht? — Er liegt im Krankenhaus, er ist ja versorgt. Und wir? O, das gottverfluchte Saufen!"
Jablonski trat zu Peinlich. „Nach dem Statut nicht mehr Mitglied," sagte er leise.
„Lass, mach 'ne Ausnahme... ."
Warm dankend, nahm die Frau etliche Silberstücke vom Tisch, wobei ihr die Tränen über die Wangen liefen. Dann ging sie still hinaus.
Plötzlich ging eine unruhige Bewegung durch alle.
„Wasser her!" — „Nette Zustände sind das!" — „Stundenlang warten!" — „Luft zum Kauen, so dick!" — „Rücksichtslosigkeit gegen Kranke!" So riefen Stimmen wirr durcheinander. Ein Mann war hingefallen; er schlug mit den Händen um sich, so dass sein eben erhaltenes Geld umherflog. Dann zogen sich seine Arme zusammen und pressten sich krumm an die Brust. Der Kopf sprang hintenüber, der Körper bäumte und spannte sich. Aus den Augen trat das Weiße hervor, der Mund begann zu schäumen. Die Umstehenden traten erschrocken zurück, flüsterten mitleidig, wendeten aber ihre Blicke, wie aus Furcht, von dem zuckenden Körper ab.
Zaghaft griffen zwei Männer zu und halfen Peinlich, den Kranken auf eine Decke legen. Der Ventilator arbeitete jetzt mit voller Kraft.
„Schon wieder eine!" kam es von der Mitte des Zimmers, wo eine junge Frau bleich, mit geschlossenen Augen auf ihrem Sitz lehnte.
„Ohnmächtig," sagte der alte Sepp.
Eine Frau machte ihr Hals und Brust frei und benetzte sie mit kaltem Wasser. Bald öffnete die Kranke die Augen. Leise mit gebrochener Stimme erzählte sie: Zwei Wochen lang habe sie alle Nächte durchwacht, heute morgen nichts gegessen und im dritten Monat sei es auch schon wieder mit ihr.
„Warum geht Ihr Mann nit ins Krankenhaus, wann's gar so schlimm um ihn steht?" fragte Sepp, der mit einer Tasse Fleischbrühe und einem Dreierbrötchen von draußen hereinkam und es der Frau reichte.
„Er hat so'ne Angst vorm Sterben."
„So, so, Angst hat er. Und da möcht er die Reis' nit allein machen, da will er Sie allweil gleich mitnehm'."
Die Frau bedankte sich für die ihr erwiesene Wohltat. Dann aß und trank und weinte sie, während Sepp für sie die Unterstützung an der Kasse besorgte.
Die Bürouhr zeigte auf zwei. Die Beamten stöhnten auf: War das wieder eine Hetzjagd! Einzelne suchten ihr Frühstückbrot hervor. Alberts Kopf schmerzte. „Geh weg!" fuhr er Schweiger barsch an, der ihm neugierig über die Schulter auf seine Arbeit spähte.
„Auch schon nervös, Herr Kollege? Kaum zwei Tage hier. — Nur Geduld, es kommt noch ganz anders."
Albert bat den jungen Kollegen, der noch wartend auf der Bank saß, er möge den Empfang seiner Unterstützung quittieren. Jedoch trat an dessen Statt das neben ihm sitzende Mädchen vor und griff nach der Feder. „Meinen Namen?" fragte sie unsicher, sich dem Manne zuwendend.
„Das ist egal, kannst auch meinen schreiben."
„Nein, der Empfänger muss unterschreiben!" rief Schweiger hinter seinem Pult hervor.
Verlegen tat das Mädchen einen Schritt seitwärts, so dass es den Mann verdeckte, der hinzutrat.
„Kannst wohl nicht schreiben?" fragte Albert freundlich.
„Nein, noch nicht; er kommt eben aus dem Krankenhause," antwortete das Mädchen errötend. „Er ist mein Bräutigam." Dann schrieb sie.
Bald auf das schmucke Paar, bald auf die Summe blickend, fragte Albert, ob etwas nicht stimme, da keines
Miene machte, das Geld wegzunehmen. Der Mann nickte und die Flügel seines Umhanges teilten sich auseinander, als ob die darunter verborgenen Hände nach dem Geld greifen wollten. Da schob sich das Mädchen schnell davor, drängte den Mann sanft zurück und begann, die Summe in ihr Täschchen zu zählen. „Nicht alles, Anna," sagte ihr Bräutigam.
„Kommt es dir nicht zu?" sah sie fragend zu ihm auf. „Das wohl, aber es ist zu viel mit dem, was ich schon vorher bekam."
„Wieso zu viel?" fragt Albert.
„Na hier, damit Ihr's wisst!" Und ein bläulich roter Armstumpf und eine verkrüppelte Hand schnellten unter dem Mantel hervor und lagen auf dem Tische.
„O weh!" entfuhr es Albert. „Wie kam das?"
„Die Halbmeterkreissäge packte mich. Ich bin fertig. Ich kann's nicht wieder gutmachen, was der Verband für mich tat." J
Tränen perlten über das gesunde Gesicht des Mannes. Auch des Mädchens Mund zuckte im verhaltenen Weinen.
„Lass das, Wilhelm, sei still, sorg dich nicht schon wieder," sagte sie mit leicht zitternder Stimme. „Ich hab' ja noch ein paar gesunde Hände." Sie zog seine Arme herunter und steckte sie ihm unter den Mantel, den sie fest zuknöpfte.
Freundlich dankend, eng aneinandergeschmiegt, gingen beide hinaus.
*
Es war Sonnabend; der Tag, in dem sich Arbeiter wohl selten irren. Jedoch denen, die heut im Korridor des Verbandshauses auf den Bänken saßen, war es schon seit langem ganz gleich, welcher Tag dem anderen folgte. Es waren die Überflüssigen, die Unbrauchbaren, die hier zusammenkamen. Ihre Erwerbsfähigkeit war, nach Prozenten bemessen, noch zu hoch, um Staatsrente zu beziehen. Für den Tod waren sie noch nicht reif genug. Er ließ ihnen noch einige Jährchen zum ruhigen Genuss und Rückbesinnen, damit sie eine abgeklärte Meinung vom Leben mit in die Ewigkeit hinübernähmen.
So saßen sie nun da: ihre Krücken neben sich gelehnt oder den dicken Stock zwischen die Beine gestellt, das Kinn auf den Griff gestützt, und schwatzten von der bösen Welt, die nur allerlei Kreuz und Ungemach für sie bereit hielt. Sie schmauchten ihr Pfeifchen und blickten sich hilfesuchend nach ihren Frauen um, wenn sie ihr schwaches Gedächtnis bei der Unterhaltung im Stich ließ.
Langsam, bedächtig, den Kopf hängend wie alte Gäule, traten sie in den Kassenraum ein. Die Morgensonne legte sich voll auf ihre alten Gesichter und übergoldete die abgeschabten Kleider. Erst taten sie schüchtern wie Kinder; sie sahen dem lustigen Treiben der Sonnenstäubchen zu, die der daneben lauernde Schatten verschlang. Bald aber war eine flüsternde Unterhaltung im Gange über längst verflossene Zeiten. Der mächtige Umfang des Verbandes erinnerte sie an ihr Alter. Sie sprachen von der Zeit, in der alle Geschäfte noch in einem zweifenstrigen Zimmerchen besorgt wurden. Und nun: wer nicht gut zu lesen verstand, fand sich gar nicht zurecht unter den vielen Abteilungen. Das eine Stübchen hatte sich zu einem mächtigen Granitbau ausgewachsen, der in stark in sich ruhender Größe zum Himmel aufragte, um seine werbende Kraft, einer Telefunkenstation ähnlich, hinaus ins weite Land zu senden.
Die Auszahlung ging heute schnell vor sich. Die Männer blätterten bedächtig in ihren klebrigen Verbandsbüchern und berechneten im voraus, wie viel ihnen wohl zustand.
Alle merkten gespannt auf, als eine Frau resolut aufsprang, mit den fleischigen Armen herumfuchtelte und auf Schweiger erregt einredete: „Wat, det nennen Sie 'ne Existenz? Komm'n Se, wir wer'n tauschen! Dahinten steh'n und klugreden kann ick ooch!"
„Wer einen Erwerb hat, kann nichts kriegen! Damit basta!" sagte Schweiger kurz.
„Huhu, nana, man immer sachte; uff die Tour lass ick mir nich kriegen! Erst lächeln Se mir an und wickeln mir in een Salm ein, als ob Sie mir jleich 'nen Heiratsantrag mach'n woll'n, un nu Se mir ausjehorcht ham, schnauzen Se wie 'n Schandarm: et jibt nischt, basta! Nee, ick denke doch, hier bin ick uff 'm Vaband, hier muss et doch Jerechtigkeit jeben! Mein Oller is doch total futsch; det bißken Handel jehört doch mir! Oder soll ick etwa ooch erst uff Krücken ankomm'n, wa? — Aba ob et nich übaall ejal is:
Haste noch een Paar Arme un noch een Paar Beene, na, denn brauchste nischt!"
„Hören Sie, liebe Frau," Peinlich trat dazwischen, „das Geld zu dieser Unterstützung ist groschenweise gesammelt Kranke und Arbeitslose haben beigesteuert, weil sie meinten, es sei für die Allerärmsten bestimmt, die noch weniger haben als sie selber."
„Dazu jehör doch ick un mein Mann ooch!" unterbrach die Frau den Kassierer.
„Reich sind Sie sicherlich nicht. Aber da muss doch zunächst die Armenkasse und die Landesversicherung eingreifen."
„Ach du mein Jotte, nee, det alte Lied: Nich bei uns, bei de andern musste jeh'n, die sind vapflichtet, die müssen dir helfen!"
„Gut, gut. Wir werden die Sache untersuchen, vielleicht läßt sich etwas für Sie tun," tröstete sie Peinlich.
„Nee, nee, det lassen Se man!" wehrte die Frau ab. „Ick vazichte! Wer arbeeten tut, is ja imma der Dumme! Aba noch eene Frage, da ick nu ma hier bin: Bekommt mein Oller wat, wenn er die Ojen zumacht?"
„Dann erhalten Sie Sterbegeld."
„Soo, ooch janz bestimmt?"
„Wenn sein Buch in Ordnung ist und — wenn Sie seine Frau sind."
„Aha, det wusst ick doch, det da wieda noch een paar „Wenn" dabei sin." Die Frau schlug verlegen die Augen nieder. „Ja, ebend det is et ja: Vaheirat sin wir ja nu noch nich so janz richtig. Aba ick un mein Heinrich ham uns die fufzehn Jahre sehr jut vertragen."
„Wenn Sie zusammen gelebt und Leid und Freud miteinander geteilt haben, gelten Sie bei uns als seine Frau."
„So, det is 'n Wort, det freut mir." Sie blickte auf zur Wanduhr. Dann empfahl sie sich mit geschäftsmäßiger Freundlichkeit.
An der Straßenecke knipste Heinrich ungeduldig mit der Peitsche, und der muntere Braune wandte sich nach seiner Herrn! um. Sie schwang sich auf den Wagensitz und das Gefährt trabte schnell davon und das Wasser schwippte aus den Fischbottichen.
Im Kassenraum nahm die Auszahlung ihren Fortgang. Wie das Geld klimperte! Freudig erglänzten der Alten Gesichter, wenn der Kassierer noch einen Zehnmarkschein neben etliche Silbermünzen legte. Papiergeld! Wie großartig das aussah; so etwas war ihnen schon lange nicht mehr durch die Finger gegangen. Die Frauen griffen rasch nach dem Gelde. Ein Markstück schoben sie wohlwollend dem verlangend dreinschauenden Alten zu. Das Verbandsbuch wickelten sie fest in Papier und steckten es ganz zu unterst in das am Arm hängende Körbchen.
Als Letzter trat noch ein Alter hervor, der eifrig an seinem Rock herumfühlte, dessen Vorderteil von herabgeschütteten Speisen und Getränken schmutzig glänzte.
„Du bist wohl gar nicht Mitglied bei uns?" fragte Albert zu ihm hinüber, während er ihm ungeduldig zusah.
„O gewiss!" rief der Kassierer. „Kienast ist einer unserer treuesten Kunden!"
„Jawoll, fufzehn Jahre schon," sagte der Alte wichtig und suchte mit zittrigen Händen in allen Taschen. „Halt, jetzt fällt es mir ein!" rief er froh und taperte zur Tür hinaus, so schnell es nur ging mit seinen gichtischen Beinen.
„Du, du, Nante!" Er rüttelte seinen Freund auf, der im Korridor saß und fest schlief. „Du hast noch mein Buch von jestern."
Nante dehnte sich schläfrig. „Det kann woll sin — ja — ja."
„Nanu man fix, ick brauch et!" drängte Kienast.
„Aba, du, een duftet Jeschäft war et jestern, sa ick dir. zwee Meta ha ick damit zusammenjefochten!"
„Ach, quattle nich!" Kienast riss das Buch an sich und eilte zurück ins Büro.
„Pfui Teufel!" entsetzte sich Albert, als er die losen klebrigen Blätter durchsah. „Da muss ein neues ausgestellt werden." „Schön, mein Junge, mach's. Mit 'm Alter wird ebend allet eklich," sagte Kienast ruhig, während er seine rote Nase schnäuzte und sich den Schnupftabak aus dem weißen Schnurrbart putzte.
„Nun aber nicht leichtsinnig werden, Alter!" drohte Peinlich lächelnd, als Kienast sein Geschenk im leeren Tabaksbeutel verwahrte.
„Na, selbstverständlich, mein Junge! Det is allet sauber injedeelt: Davon koof ick ma zuerst ma zwee warme Schuhe un eene warme Weste, un denn koof ick ma noch zwee Stiebein un een vanünftigen Spazierstock dazu. Un denn koof ick noch fier meine drei Enkels zu Weihnachten wat: dem ältesten zwee Schlittschuhe, dem andern eene Mundharmonika und dem kleennen, wat mein Liebling is, dem koof ick een Schaukelpferd. — Aba, Kinners, die Freide!"
Die Beamten lachten über die guten Vorsätze des Alten. „Du willst ja lauter Winter- und Weihnachtseinkäufe machen? Es geht doch aber jetzt erst zum Sommer, lieber Freund," sagte Peinlich.
„Jaso, jaja — et jeht erst zum Sommer, det stimmt, aba det macht nischt. Wat ick mir ma vorjenomm'n hab', det setz ick durch! Valasst euch druff, Kinder!" Dann trottete er hinaus, sich durch die Tür noch einmal bedankend.
Am Abend schritt Albert über die Nepomukbrücke, die die Stadt mit einem östlichen Vorort verbindet. Auf dem träge dahinfließenden Wasser lagen flachgestreckt die goldigglitzernden Strahlen der untergehenden Sonne. Einige Gondeln trieben langsam den Fluss hinab. Am Ufer entlang, über Speicher und Fabriken hin gebreitet lag schon die Ruhe des nahenden Sonntags. Von der andern Seite des Flusses kam Gesang herüber, der sich in der Entfernung ganz feierlich ausnahm. In einer Einbauchung am Ende der Brücke standen eine Gruppe Männer vor dem steingrauen Nepomuk. Albert trat hinzu und erkannte Kienast, der in der rechten Hand eine gefüllte Schnapsflasche nach dem Takte des Gesanges schwang.
Das Lied war zu Ende, die Schnapsflasche machte die Runde. Kienast schaute verzückt zum heil'gen Nepomuk empor, der strahlenden Hauptes, leicht auf seinen Hirtenstab gestützt, auf das Treiben der betrunkenen Männer herabsah. Dann nahm Kienast seinen speckigen Hut ab, faltete die Hände und sprach laut, während der kühle Abendwind seine grauen Haare durcheinanderjagte:
„Du lieber Heil'ger, dir gings schlecht: Als du bestand'st auf deinem Recht, Da packte dich des Königs Wut, Ertränkte dich in Moldaus Flut.
Nun sitzt du an Gottvaters Seit' Und bittest für die armen Leut, Dass er in diesem Jammertal Sie schützen mög' vor Not und Qual.
Drum, wenn du mal mit'm Herrgott sprichst, Vergiß uns alte Tischler nicht. Wir leiden manchmal große Not An Branntwein und am lieben Brot.
'ne große Freud' hatt's uns gemacht, Weil der Verband an uns gedacht. Drum bringen wir dir noch ein Lied, Weil ohn' dein Fürbitt' nichts geschieht."
Albert wandte sich ab von dem trunkenen Tun, das halb ernst, halb spöttisch aussah. Noch lange hörte er den Gesang nachklingen, als er immer weiter hinausschritt — bis hinter ihm Häuser und Menschen in der Dämmerung versanken. |
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