Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
http://nemesis.marxists.org

Was irgend gelten will und walten muss in der Welt zusammen halten.
Rückert

Der Einzug.

Ziehtag war. Ein etwa neunzehn Jahre altes Mädchen, das im linken Arm ein verkümmertes Rosenstöckchen hielt, stand am Rinnstein. Mit der rechten Hand streichelte es mechanisch den Kopf eines großen Hundes, der vor seinem vierräderigen Karren saß, während die blauen Augen des blonden Mädchens lebhaft die Bewegungen eines jungen Mannes verfolgten, der mit dem Führer des Hundefuhrwerks einen alten Tisch und zwei ebensolche Stühle aus dem Halse eines Trödelkellers heraufbrachte. Die Männer bemühten sich, die Möbel noch auf dem Wagen unterzubringen, der schon einen Kleiderschrank, eine Bettstelle, einen großen Reisekorb, einen rotgestrichenen Koffer und einen kleinen eisernen Ofen trug. Der schwarze Hund stand auf, reckte sich behaglich und rieb seinen Kopf an des Mädchens schneeweißer Schürze.
Die Blonde trat erschrocken zur Seite, als der alte Fuhrmann die Lenkstange ergriff, und der Hund, lustig bellend, mit krummgespanntem Rücken das Gefährt anzog, das nun polternd über das holprige Pflaster dahinschwankte.
Agnes Stolpe, so hieß die Blonde, schmiegte sich dicht an ihren Verlobten. Das Blut jagte ihr heut schneller und prickelnder durch die Adern als sonst, wenn sie in seiner Nähe war. Sie drückte seine Hand warm und fest. Ganz an sich ziehen hätte sie ihn mögen. Hatte sie doch jetzt ein Recht auf ihn — ja, nur sie ganz allein!
Vor ihr hin schwankte der Wagen. Es war i h r Schrank, Tisch, Bett — und alles andere gehörte ihr. Als ob für sie eine neue Welt erstünde, so war ihr. Ja, eine Welt, wie sie ihr so oft nur in Träumen erschienen, sah sie nun endlich in wenigen Stunden zur Wirklichkeit werden. O, sie hätte aufjauchzen mögen.
Ein Blick auf das Rosenstöckchen lenkte Agnes' Sinn auf ihre jüngste Vergangenheit. Ein kleines Mädchen hatte ihr die Blumen mit einem artigen Knicks durch die Küchentür gereicht. Zwischen frischgrünen Blättern und duftenden Blüten stak ein Brief von Albert Weigert, ihrem Verlobten. An sich gedrückt und mit den Lippen berührt hatte sie Brief und Rosen; es war ja von ihm, eine Botschaft seines Herzens war's, sie fühlte es, noch ehe sie den Brief geöffnet. Und darin stand: Ein paar Stunden freimachen für nächsten Sonntag möge sie sich. Die Ringe seien fertig; er wolle mit ihr hinausfahren in den Wald, und an einem trauten Plätzchen wolle er ihr den einen und sie solle ihm den anderen an den Finger stecken. Und so würden sie sich Treue geloben
— still, allein, niemand sollte Zeuge sein. Und während sie noch glücklich und traumverloren auf das Schreiben sah, fuhr sie plötzlich zusammen. In der Küche stand ihre Herrin und lachte, dass ihr voller Busen auf und nieder wippte. Roh und frostig klang das Lachen, mit dem sie Agnes' freudige Mitteilung beantwortete. Nein, das ginge nicht; auch nicht eine Stunde dürfe sie am nächsten Sonntag fort, denn es seien Gäste angemeldet. Dabei blieb es, trotz aller Bitten des Mädchens. Und so hatte sie sich denn am Sonntag heimlich hinunterstehlen müssen in den Hausflur
— auf ein paar Minuten —, hatte gezittert vor Aufregung, als Albert ihr nun dort den Ring aufsteckte und zornig ihren sofortigen Abgang aus dieser Stellung forderte.
Jäh ward die Blonde aus ihren Gedanken gerissen. Ihr Verlobter, der junge Tischler, drückte derb ihre Hand, zog sie eilig vorwärts. „Komm, komm, es geht bergan!"
Und jedes rannte auf eine Seite das Wagens, um dem Gefährt den steilen Brückenkopf hinaufzuhelfen.

*

In einer großen Mietskaserne, im Quergebäude vier Treppen hoch, lag die einfensterige Stube, in die das junge Paar einzog. Von allen Seiten äugten Dutzende Fenster in den engen Hof. Männer lehnten tabakrauchend über die Fensterbrüstung, blickten in die Wohnungen ihrer Nachbarn und sahen den Einziehenden zu.
Es stak mehr Schlüpfrigkeit als Witz in ihren Bemerkungen, die Agnes galten, als sie Teile ihres Bettgestells über den Hof trug.  Sie lächelte schweigsam.
Als alle Gegenstände in dem engen Stübchen kunterbunt durcheinander standen, huschte ein leichter Schatten über Alberts Gesicht.
Agnes sah von ihrer Hantierung auf. „Was guckst' so?" fragte sie, ihm in die Augen schauend. „Ist's dir etwa leid?"
„Leid? Ach du!" Er trat heiter auf sie zu. „Nein, ich dachte nur an die 150 Mark Schulden, die ich nun beim Klaussen abarbeiten soll. Da wird das Kostgeld wohl recht schmal ausfallen; gern gab mir der alte Geizhammel die Sachen nicht auf Kredit; den halben Lohn zieht er mir sicherlich jede Woche ab."
„Was schadet's? Desto eher sind wir damit fertig!" Agnes richtete sich auf und breitete ihre strotzenden Arme aus, um die sich die kurzen Ärmel prall spannten. „Meinst, die werd'n nun müßig im Schoß liegen, du?" — und schon hing sie am Halse ihres Geliebten. Ein Weilchen ruhten ihre Blicke glühend in den seinen, dann zog sie ihn heftig an sich. „Freue dich, freue dich!" jauchzte sie, wir sind nun allein, haben ein Heim für uns, also lass das Sorgen bis morgen." Und immer wieder betrachtete sie ihn einen Augenblick still, zog ihn aber gleich wieder desto heftiger mit neuer Lust an sich. Eine nach Kühlung begehrende Glut brodelte in ihr, die auch sein ruhiges Blut warm machte. Plötzlich fuhren beide auseinander, als vielfältiges Händeklatschen vom Hof her zum offenen Fenster hereinschallte.
Agnes stand schon auf einem Stuhl, drückte die Fensterflügel zu und breitete ein altes Tuch als Vorhang darüber.
„Ach, was kümmern uns die Leute," sagte Albert gleichgültig.
„Na, du weißt doch: noch nicht richtig verheiratet und in einer Stube beisammen —"
„Meinst du, uns kann jemand etwas?"
„Na gewiss! — Nur ein Raum, ein Bett und zwei Menschen — wenn das die Polizei erfährt!"
„Am Ende muss ich noch bis zur Hochzeit auf der Herberge schlafen."
„Brächtest du das fertig — du?", lachte sie.
„Wenn's sein müsste."
„Nein, nein! Nichts bringt uns mehr auseinander!" Sie ließ ihre Hände auf seinen Schultern ruhen, sah ihm dankbar ergeben in die Augen, und von einem seligen Gefühl durchbebt, strafften sich ihre festen, runden Arme und begannen ihn zu schütteln. „Du — du glaubst es ja nicht, wie glücklich, wie lustig ich heut bin! Singen, tanzen, springen möcht ich. Gefesselt war ich die ganzen Jahre — erst jetzt, jetzt fühl ich's. Frei bin ich, frei wie ein Vogel!" Sie ließ ab von ihm und blickte heiter um sich. „Eine eigene Stube hab' ich, in der ich machen kann, was ich will! Keine Aufsicht, kein Befehlen; ich darf arbeiten, darf ruhen, wann ich will! So, ja, so hab' ich's mir immer gewünscht! Aber es wird noch viel schöner, du — sollst sehen, wenn wir beide Geld verdienen: dahin kommt," sie zeigte auf die eine Wand, „ein Konsol mit einer kleinen Standuhr drauf, die Musik macht. Dort auf jene Seite ein Küchenrahmen mit weißen Spitzen und Geschirr mit blauen Schleifen." So spann sie den Faden ihrer Phantasie weiter.
Der Raum musste gut eingeteilt werden, sollte er zum Wohnen, Schlafen, Kochen, Essen, Arbeiten und Waschen ausreichen. Allmählich verstummte die Tanzweise, die sie lustig vor sich hinsummte. Sie hing ihr Sonntagskleid und Alberts besten Anzug in den blankpolierten Schrank, blieb davor stehen und betrachtete die Kleider im Licht der Lampe.
Albert schob Notizbuch und Bleistift beiseite und stand vom Tisch auf, wo er eben die Ausgaben und den noch übrig gebliebenen Kassenbestand festgestellt hatte. „Na, wie gefällt dir unser Hochzeitsstaat?" fragte er.
„Rein gar nicht."
„So — na, da ziehen wir etwas darüber; es ist noch kühl, da fällt es nicht auf." Dabei bückte er sich zur Seite kramte aus seiner rotgestrichenen Kiste einen hellgrauen Winterüberzieher hervor und hielt ihn neben Agnes' braunes Jackett, das auf einer Stuhllehne hing. „Sieh, wie schön es zueinander passt," lachte er.
„Euch Männern ist alles egal," gab sie etwas streng zurück. Gern hätte sie etwas Modernes für den Weg zum Standesamt gehabt, aber daran war ja nicht zu denken. Ihre Ersparnisse waren in dem Kleinkram draufgegangen Wo war nur all das Geld geblieben?
„Verdirb dir um Gotteswillen nicht heut schon deine gute Laune. Unsere Kleider waren doch bisher gut genug." Er strich sanft an den Sachen herunter, wie wenn sie eins wären. „Schau her, wie friedlich sie beieinander hängen; sie haben uns bei Wind und Wetter treu gedient und ihr gut Teil dazu beigetragen, dass wir heut beisammen sind. Wär es nicht undankbar, wenn wir sie am Hochzeitstage ver­ächtlich beiseite schöben? Und wie viel schöne Erinnerungen haften an ihnen. Was kann uns dagegen das Gerede fremder Leute sein?"
„Das ist schon wahr," sagte sie. ,Die Leute werden dann aber Schwester Emma und Schwager Wiedemann für das Brautpaar und uns für die Brautzeugen halten."
I, was schadet's; uns kann's recht sein," lachte Albert und suchte in allen Taschen. „Nein, es wird nicht mehr;" er zählte das auf dem Tisch liegende Geld noch einmal durch. „Acht Mark und dreißig Pfennig ist unser ganzes Vermögen. Verdammt noch mal! Damit sollst du nun wirtschaften. Heut ist Sonnabend, Freitag die Hochzeit — und Lohn gibt es erst wieder in acht Tagen."
„Na höre, das fängt gut an," sagte sie mit leisem Spott. ,,Da wirst du nicht nur auf der Herberge schlafen, sondern auch bis zur Hochzeit dort speisen müssen."
„Ohne Geld?"
„Tja... Und wo wollen wir den Hochzeitsbraten hernehmen? Nein, mein lieber Albert, da wollen wir das Heiraten schon lieber unterlassen; nichts anzuziehen, nichts zu essen — ach du lieber Gott, was soll denn das werden?" Sie sah nachdenklich in sein besorgtes Gesicht. Aber um ihre Mundwinkel zuckte ein Lächeln und in ihren Augen blitzte es schelmisch auf. „Jetzt hab ich's!" rief sie, „ich schreib an meinen gnäd'gen Herrn am Viehhof! Der bringt mir sicherlich eine Kalbskeule ins Haus!"
„So — na, na!" Es kroch in seiner Brust etwas hoch, obwohl er sich sträubte, ihr Reden ernst zu nehmen. Verlegen wischte er an den blanken Flächen des Kleiderschranks umher.
Nun lachte Agnes laut auf, holte aus ihrer Rocktasche ein Schächtelchen hervor, aus dem sie nach langem Wickeln ein blankes Goldstück befreite, das sie lustig hochwarf und wieder auffing. „Schau doch, schau, wie unser Hochzeitsbraten springt!" rief sie.
Lachend fiel Albert ihr in die Arme. „Potzdonner, zwanzig Mark! O, du kleiner Teufel! Jetzt können wir aber leben!" Er fasste sie, schwang sie immer wieder hoch, bis sie vor Lust jauchzte.
Dann, ein Liedchen trällernd, ging sie wieder an ihre Arbeit.
Albert baute den kleinen Kanonenofen zusammen, den er beim Trödler billig erstanden hatte. Das Rohr passte in die schon vorhandene Öffnung; nur gut verdichtet musste es noch werden. Als auch das Bett aufgestellt war, entstand ein Streit, wer nun wohl das Recht auf den angenehmeren I atz an der Wand habe. Das Los musste entscheiden. Albert war Sieger.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur