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Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
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Die erste Versammlung.

Ganz väterlich saß der Alte am Abend zwischen den fünf jungen Kollegen, die mit ihren Frauen und Bräuten seinem Rufe gefolgt waren.
Das vornehme Aussehen des Saales schien den jungen Leuten Höflichkeit abzunötigen. Als Wieland Frau Weigert vorstellte, erhoben sie sich und nannten ihre Namen, wie gut erzogene Menschen.
Aller Blicke wandten sich zur Bühne, deren mächtiger Vorhang nach beiden Seiten hin wie in ein Nichts verschwand. Ein üppig grünender Park schien sich in eine blühende Frühlingslandschaft auszuweiten. Aus seitlichem Laubwerk traten zwei Männer, die im Saal ein streitbares Flüstern hervorriefen: welcher nun wohl der berühmte Volksmann sei.
„Der neue Weg", hieß das Thema. Die Versammelten sahen sich prüfend an, ob sie am Ende auch alle zusammenstehen würden, wollte sie jemand hindern, den neuen Weg zu beschreiten. Dann saßen sie da mit halb offenem Munde, lauschten, wie Gläubige dem Latein ihres Priesters. Albert ward peinlich zumute; er konnte der Rede Sinn nicht fassen. Der Redner sprach von Agitation, Organisation und Emanzipation, von Produktion und Distribution, von Kapitalismus und Imperialismus und von idealen und realen Dingen.
Wieland folgte dem Redner aufmerksam und äußerte öfter seine Zustimmung, während Männer gelangweilt ihre Zigarrenstummel in Brand steckten und Frauen in ihre Schürzenzipfel gähnten. Als gar ein unterdrücktes Kichern heimlich um den Tisch hüpfte und die Mädchen auch die Männer bewogen hinüberzuschauen nach der Wand, wo, nur von schleierhaftem Lendentuch umflattert, sich Jünglinge und Jungfrauen in wollüstiger Begierde umtanzten, da stampfte Wieland erbost mit dem Fuß auf und die Missetäter streifte sein zorniger Blick. Wonach alle ein Weilchen achtsam dreinschauten.
Endlich fand der Redner auch den Weg zu den Herzen der ungeübten Hörer.   Es entstand rechtschaffenes Aufmerken und bannende Stille. Agnes umfasste Alberts Arm fester und rückte dicht an ihn, als ob sie Furcht beschliche. „Er hat recht," nickte Albert ihr zu. „Euer schlimmster Feind ist Arbeitslosigkeit!" rief der Redner. „Dem muss Euer Kampf zuerst gelten. Bedenkt, Ihr Frauen, Ihr Mädchen, wenn Ihr zur Fabrik eilt, zur Heimarbeit greift, verlängert Ihr die Arbeitslosigkeit Eurer Männer, Eurer Väter! Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Erholung, acht Stunden Schlaf! Erst wenn dieses Gesetz erfüllet, können wir Kraft schöpfen für den mühsamen Weg ins Land der Zukunft."
„Ja, ja, so ist es, das ist wahr," ging es durch den Saal, als der Redner geschlossen hatte. Manche spannen die Rede weiter und sprachen von der Selbstsucht ihrer Kollegen und von der Rücksichtslosigkeit ihrer Meister.
Ernste Männer eilten von Tisch zu Tisch, sprachen ein paar freundliche Worte und ließen Aufnahmescheine für den Arbeiterbildungsverein zurück.
Zaghaft griffen Männer danach, legten sie aber still wieder hin. Zehn Pfennig Aufnahmegebühr und fünfzehn Pfennig Beitrag für den Monat stand darauf. „Nein, nein," rieten die Frauen den Männern ab, „das gibt schon ein halbes Brot." Wonach die Männer den Bierrest austranken und ein frisches Glas bestellten.
Auch Wielands Kollegen ließen die Scheine unbeachtet. „Beides wird wohl zuviel mit einem Mal; so füllt man diesen zuerst aus, damit wir bald den Achtstundentag erreichen," sagte der Alte und gab jedem einen Aufnahmeschein für den Fachverein in die Hand. Verlegen blickten die Kollegen einander an, um die eigenen Gedanken in den Augen der anderen zu suchen. Zögernd griff einer nach dem andern zum Blei, als Albert seinen Schein mit Aufnahmegebühr dem Alten überreichte.
Wieland merkte es am Hutschwenken, dass die Kollegen sich nun auch vollwertig fühlten, als sie in das brausende Hoch einstimmten, das der jungen Bewegung galt. Der gemeinsame Wille ist schon da, nur an Kraft zur Tat fehlt es noch, dachte er. Mit mächtiger Wucht fielen alle ein, als er die Marsaillaise anstimmte. Es schien ihm, als wenn die gewaltige Melodie die hinauswälzende Menge ineinander verschmelze.

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