Arbeit aus Gnade.
  Es war stille Zeit im Holzgewerbe. Fabrikanten, die Geld hatten,  reisten ins Gebirge oder ins Seebad. Viele ließen ihre Gesellen  verkürzte Zeit arbeiten, andere entließen sie kurzerhand. 
    Albert  lief nun schon zwei Wochen lang von Werkstatt zu Werkstatt, seitdem er  von der Übung zurück war. — „Geben Sie Ihre Adresse ab, bei Bedarf  werden wir Ihnen schreiben." — „Fragen Sie später mal an." — „Alles  besetzt!" So wies man ihn ab, Tag um Tag. Dabei waren die wenigen Mark  draufgegangen, die sich Agnes heimlich verwahrt hatte. Ihre letzten  Groschen gab sie heute früh für ein halbes Brot aus: Der Bäcker gab  nichts mehr auf Kredit, da sie mit der versprochenen Bezahlung nicht  Wort gehalten hatte am letzten Sonnabend. Albert kam spät heim. Wortlos  trat er an den Tisch und brachte eine Menge altbackener Semmeln aus  seinen Taschen heraus. Agnes blickte bald auf ihn, bald auf das Gebäck;  erst als Lieschen ungeduldig aufschrie, schob sie ihr wieder einen  Löffel voll Mehlbrei in den Mund. 
    „Das bekam ich geschenkt",  sagte Albert endlich. 
    „Geschenkt?" wiederholte sie.  „Hast aber erst schön drum bitten müssen, nicht wahr?" 
    Er nickte still. Dann begann er zu  lügen: wie leicht das Betteln sei und mit welch stillem Mitleid die Leute  Almosen gäben. 
    „Bis sie dich einsperren",  sagte Agnes betrübt, „dann haben wir noch obendrein die Schande." 
    Sie brachte das Kind zu Bett. Dann schnitt sie die Semmeln in Stückchen  zu einer Suppe für den Abend, wobei sie sich hin und wieder mit der  Schürze über die Augen fuhr. 
    „Du weinst, anstatt dich zu  freuen?" 
    „Freuen soll's einen, wenn man Bettelbrot essen muss? Nein, Albert, ich  hätt's nie gedacht, dass es mal soweit kommen würde mit uns." 
    „An mir liegt es doch nicht",  sagte er und stützte schwermütig den Kopf auf...  
    Am darauffolgenden Abend saß er auf einer Bank unter grünen Bäumen am  Rande eines Kirchplatzes. Kinder spielten lärmend um ihn herum, Frauen  begrüßten leichthin ihre von der Arbeit heimkehrenden Männer und gingen  mit ihnen plaudernd davon. Auf all dies achtete er heute nicht. Seine  Augen waren starr auf den jenseits der Straße liegenden Bäckerladen  gerichtet. — So, jetzt war es Zeit, nun kam die letzte Käuferin heraus.  Eilig schritt er im weiten Bogen über den Fahrdamm und schlich sich am  Haus entlang an die Tür. Zitternd griff er nach der blanken Klinke —  doch kurz fuhr er zurück: der dicke Meister trat eben durch eine  Seitentür in den Laden, und Albert rannte so schnell er konnte um die  nächste Straßenecke. Dann ging er langsamer. Verdammt, war er doch  feig! Aber die Angst von gestern durchfuhr ihn, wo ihn der eine Bäcker  zur Tür hinausschob und nach dem Schutzmann rief. Indes die Gedanken an  Frau und Kind gaben ihm neuen Mut; und schon wieder trat er über die  Schwelle eines kleinen Ladens. Ganz dreist tat er, wie wenn er etwas  einkaufen wollte. Plötzlich schrillte die Glocke und die junge  Meisterin trat durch die Tür. Anstatt eines Grußes verzog sich ihr  hübsches Gesicht unfreundlich, als sie Albert barhäuptig stehen sah.  Stammelnd trug er sein Sprüchlein vor. „In einem Weg geht heute wieder  die Bettelei", schalt sie, während sie aus einer Kiste am Fußboden eine  angebrannte Semmel nahm und sie ihm trotzig über den Ladentisch  hinschob. „So jung und schon zu faul zur Arbeit!" schimpfte sie hinter  ihm her. 
    Froh, dass er den Anfang hinter sich hatte, steuerte er schräg über die  Straße und trat dreist in ein großes Geschäft, dessen Tür offen stand.  Die korpulente Dreißigerin maß ihn mit hochmütigem Blick, dann sprach  sie an ihm vorbei und bediente eine Kundin mit ausgesuchter  Freundlichkeit. Immer mehr Käufer kamen herein. Albert drückte sich zur  Seite. Der Meister trat in Hemdsärmeln und Schürze ein und half die  Käufer bedienen. „Was wollen Sie?" fragte er in scharfem Ton, als er  Albert erblickte. 
    „Ein Bettler ist 's!" erklärte die Frau. „So eine Frechheit von dem  Menschen", fügte sie boshaft lächelnd hinzu, „bleibt ruhig stehn, als  ob er was zu fordern hätte!" 
    „Das wird ja immer toller mit der Fechterei! Ich glaub', die Bande  klopft einen noch des Nachts aus dem Bett!" muckte nun auch der Mann  auf. „Was sind Sie?" fragte er Albert, der sich scheu zur Tür wandte. 
    „Ach was!   Übergib ihn doch der Polizei!" rief die  Frau gereizt dazwischen. 
    Bei Albert war jetzt alle Furcht gewichen; denn aus den groben Worten  des Meisters klang doch ein wenig Mitgefühl. Er drehte sich um und  erzählte kurz, wie er in Not 
    gekommen war. 
    „Mann, halt dich nicht mit solchem Gesindel auf! Der Mensch lügt. Ich  denk, du kennst die Sorte: wenn sie Arbeit haben, leben sie in Saus und  Braus und betrügen die armen Geschäftsleute!" 
    „Nanu, Hedwig, lass gut sein," sagte der Meister beschwichtigend. „Die  Not packt auch gute Menschen. Der Mann kann mal rausgehen nach  Tempelhof bei Onkel Friedrich, der klagte mir neulich seine Not, die er  mit seinem Gesellen habe. Vielleicht braucht er einen. — So, geben Sie  die Karte ab, ich hab' ein paar Worte daraufgeschrieben. Machen Sie mir  aber keine Schande!" Dann steckte der Meister einige Brötchen In eine  Tüte und reichte beides Albert zu, der ganz überrascht war. 
  * 
  In einem düsteren Keller, wo Ölfässer, Leimsäcke, große Stöße  Fournier und rohe Möbel umherstanden, wo Hühner durch eine zerschlagene  Fensterscheibe gackernd hereinhüpften und zwischen Polsterwerk und  Seegras fette Kellerwürmer hervorscharrten, da war nun seine Werkstatt.  Der alte Meister zählte ein halbes Dutzend von den aufgestapelten  Kommoden ab, denen Albert Farbe und Glanz geben sollte.  Der Loh   schien dem neuen Gesellen zwar viel zu gering, jedoch er wagte nichts  dagegen zu sagen, denn immer noch einmal gab ihm der Alte zu verstehen,  dass er ihm mehr aus Mitleid als aus geschäftlicher Notwendigkeit  Arbeit gäbe.   Und immer wieder hob er hervor, wie akkurat er die  Arbeit verlange: Albert möge sich nur Zeit lassen dabei, dafür zahle er  auch den hohen Preis von zwei Mark fünfzig Pfennig für das Stück. 
    Es war Sonnabend.  Wie Soldaten standen die sechs Kommoden in  einer Reihe zur Abnahme bereit.   Albert 
    fand immer noch etwas daran zu bosseln und zu wischen „Machen Sie mir  keine Schande," hatte doch der Bäckermeister gesagt. Der Alte sollte  aber auch gewiss keinen Tadel daran finden. 
    Plaudernd gingen schon die zuerst abgelohnten Gesellen an seinen  Fenstern vorüber. Er sah nur ihre Füße und hörte, wie sie ihren  klingenden Lohn nachzählten. 
    Endlich trat der Meister auch bei  ihm ein. 
    „Na, wie weit sind Sie  damit?" 
    „Fertig." 
    „Was — fertig? Hm, hm." Dabei fuhr er mit seiner fettwulstigen Hand  suchend über den zarten Glanz. „Tja, blank sind sie ja, aber Fläche,  Fläche fehlt, mein Lieber!" 
    „Das liegt am frischen Holz; wenn das nachtrocknet, ist es nicht meine  Schuld. Die Polierarbeit ist sauber!" erwiderte Albert erregt. 
    „Was Sie so sauber nennen, mein junger Freund. Sehen Sie," und der Alte  fuhr mit einem großen Bimsstein über den zarten Glanz eines Blattes,  „wie Berg und Tal," er wies auf die erhöhten Stellen, die der Stein  abschliff und fuhr so über das zweite Blatt. „Ganz dasselbe. Mehr  Knochenmehl, ja, Knochenmehl, mein Lieber, das fehlt. Dann kommt auch  ein fester Grund hinein," sagte er ruhig. Dabei zählte er drei  Talerstücke auf Alberts Arbeitstisch. „So, nun machen Sie nächste Woche  die Arbeit fertig, dann erhalten Sie die anderen sechs Mark." Damit  ging er die Treppe hinauf. 
    Albert fühlte kalte Blässe im Gesicht. Ein Zittern durchbebte ihn, und  sein Atem stockte in der Kehle. „Gemeiner Schurke!" presste er hervor  und starrte auf die drei Geldstücke, die vor seinen Augen zu tanzen  begannen. Das Blut stieg ihm heiß, hämmernd in die Schläfe, die Stirn  schien sich zu wölben; er ergriff den Hammer; die zerschundenen Flächen  funkelten, und drauflos hieb er, dass die Fetzen flogen. „Arbeit — aus  Gnade! — Arbeit — aus Gnade!" knirschte er zu jedem Schlage. 
    Dann schleuderte er den Hammer  beiseite, nahm sein Geld und ging. 
    Erst als er über das stille, freie Feld schritt, wurde er ruhiger.   Jedoch die Tat bereute er nicht.  Sicher trug sie ihm eine  Gefängnisstrafe ein. Doch was hatte er noch zu verlieren? Ärger als es  mit ihm stand, konnte es wohl nicht mehr werden — so dachte er. Am  liebsten ginge er auf und davon — weit fort — irgend wohin. Ja, wenn er  noch frei wäre. Aber so, nein! 
    Das große Exerzierfeld mit seinen weitgedehnten Rasenflächen lag still  vor ihm. Nur hier und da tauchten Schatten auf: Arbeiter, die schräg  über das Feld schritten, um sich den Heimweg abzukürzen.   Für Albert  war es zwar ein Umweg, aber er wählte die alte vergessene Straße, die  schon ganz mit Rasen überwachsen war. Hier kam ihm allabendlich Agnes  entgegen; hier in der Einsamkeit ließ sich so recht nach Herzenslust  Frau und Kind umarmen. Titanenhaft zum Himmel strebende Pappeln reckten  sich still und trotzig empor und warfen ihre mächtigen Schatten immer  weiter über den von der Abendsonne überglänzten Rasen.   Alte Weiden  mit dicken aufgeplatzten Leibern standen geduckt daneben, wie alte  Pensionäre.  Tausenden von Fuhrleuten wiesen sie einst in finsteren  Nächten den Weg; nun hatten sich die Menschen von ihnen gewandt, ihr  Strom ergoss sich weit drüben gleichlaufend in einer abendlichen  Lichtflut, die die alte Heerstraße ganz vergessen ließ. 
    Plötzlich fuhr Albert aus seinen Gedanken auf. Agnes trat hinter einer  alten Weide hervor.   Er suchte seinen Gesichtsmuskeln einen Ruck zu  geben, um seinen Gemütszustand zu verbergen. Kleinlieschen jauchzte  auf, hob sich förmlich von der Mutter Arm und angelte mit beiden  Händchen dem Vater entgegen. Er nahm sie, wie gewöhnlich, zu sich.    Sie bäumte sich hoch vor Lebensfreude, patschte und streichelte sein  Gesicht, bis auch die letzte Faser weich und lächelnd erschien.  Agnes  stand auf einer vorstehenden Baumwurzel und sah dem Spiel  glückstrahlend zu. Dann schlang auch sie ihren Arm um seinen Hals. So  gingen sie still weiter. 
    Bald begann Agnes zu plaudern: Sie habe heute ein gutes Geschäft  gemacht, ein Reisender habe ihr ein funkelnagelneue Nähmaschine ohne  Anzahlung verkauft, wofür sie wöchentlich nur zwei Mark abzuzahlen  brauche. 
    „O je, eine neue Last,"  stöhnte Albert, der graue Schatten flog wieder über sein Gesicht. 
    Sie sah ihn verwundert an: „Das lass nur meine Sorge sein.   Augenblicklich geht es zwar noch schlecht mit dem Schurzennahen, aber  die zwei Mark werde ich ranschaffen! 
    „Ja ja, wo bleibt aber alles  andere?" „Alles andere? - Na, du verdienst doch!! 
    „Hm - verdienen - wo denn?"  „Wieso? Ist es schon —?" 
    Still war's. Sie warf den Kopf hoch, wandte ihn zur Seite und sah in  die Weite. Er sollte ihre Verzagtheit nicht merken; sollte nicht sehen,  wie sie mit den Tränen kämpfte.  | 
  
    
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