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Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
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Arbeit aus Gnade.

Es war stille Zeit im Holzgewerbe. Fabrikanten, die Geld hatten, reisten ins Gebirge oder ins Seebad. Viele ließen ihre Gesellen verkürzte Zeit arbeiten, andere entließen sie kurzerhand.
Albert lief nun schon zwei Wochen lang von Werkstatt zu Werkstatt, seitdem er von der Übung zurück war. — „Geben Sie Ihre Adresse ab, bei Bedarf werden wir Ihnen schreiben." — „Fragen Sie später mal an." — „Alles besetzt!" So wies man ihn ab, Tag um Tag. Dabei waren die wenigen Mark draufgegangen, die sich Agnes heimlich verwahrt hatte. Ihre letzten Groschen gab sie heute früh für ein halbes Brot aus: Der Bäcker gab nichts mehr auf Kredit, da sie mit der versprochenen Bezahlung nicht Wort gehalten hatte am letzten Sonnabend. Albert kam spät heim. Wortlos trat er an den Tisch und brachte eine Menge altbackener Semmeln aus seinen Taschen heraus. Agnes blickte bald auf ihn, bald auf das Gebäck; erst als Lieschen ungeduldig aufschrie, schob sie ihr wieder einen Löffel voll Mehlbrei in den Mund.
„Das bekam ich geschenkt", sagte Albert endlich.
„Geschenkt?" wiederholte sie. „Hast aber erst schön drum bitten müssen, nicht wahr?"
Er nickte still. Dann begann er zu lügen: wie leicht das Betteln sei und mit welch stillem Mitleid die Leute Almosen gäben.
„Bis sie dich einsperren", sagte Agnes betrübt, „dann haben wir noch obendrein die Schande."
Sie brachte das Kind zu Bett. Dann schnitt sie die Semmeln in Stückchen zu einer Suppe für den Abend, wobei sie sich hin und wieder mit der Schürze über die Augen fuhr.
„Du weinst, anstatt dich zu freuen?"
„Freuen soll's einen, wenn man Bettelbrot essen muss? Nein, Albert, ich hätt's nie gedacht, dass es mal soweit kommen würde mit uns."
„An mir liegt es doch nicht", sagte er und stützte schwermütig den Kopf auf...
Am darauffolgenden Abend saß er auf einer Bank unter grünen Bäumen am Rande eines Kirchplatzes. Kinder spielten lärmend um ihn herum, Frauen begrüßten leichthin ihre von der Arbeit heimkehrenden Männer und gingen mit ihnen plaudernd davon. Auf all dies achtete er heute nicht. Seine Augen waren starr auf den jenseits der Straße liegenden Bäckerladen gerichtet. — So, jetzt war es Zeit, nun kam die letzte Käuferin heraus. Eilig schritt er im weiten Bogen über den Fahrdamm und schlich sich am Haus entlang an die Tür. Zitternd griff er nach der blanken Klinke — doch kurz fuhr er zurück: der dicke Meister trat eben durch eine Seitentür in den Laden, und Albert rannte so schnell er konnte um die nächste Straßenecke. Dann ging er langsamer. Verdammt, war er doch feig! Aber die Angst von gestern durchfuhr ihn, wo ihn der eine Bäcker zur Tür hinausschob und nach dem Schutzmann rief. Indes die Gedanken an Frau und Kind gaben ihm neuen Mut; und schon wieder trat er über die Schwelle eines kleinen Ladens. Ganz dreist tat er, wie wenn er etwas einkaufen wollte. Plötzlich schrillte die Glocke und die junge Meisterin trat durch die Tür. Anstatt eines Grußes verzog sich ihr hübsches Gesicht unfreundlich, als sie Albert barhäuptig stehen sah. Stammelnd trug er sein Sprüchlein vor. „In einem Weg geht heute wieder die Bettelei", schalt sie, während sie aus einer Kiste am Fußboden eine angebrannte Semmel nahm und sie ihm trotzig über den Ladentisch hinschob. „So jung und schon zu faul zur Arbeit!" schimpfte sie hinter ihm her.
Froh, dass er den Anfang hinter sich hatte, steuerte er schräg über die Straße und trat dreist in ein großes Geschäft, dessen Tür offen stand. Die korpulente Dreißigerin maß ihn mit hochmütigem Blick, dann sprach sie an ihm vorbei und bediente eine Kundin mit ausgesuchter Freundlichkeit. Immer mehr Käufer kamen herein. Albert drückte sich zur Seite. Der Meister trat in Hemdsärmeln und Schürze ein und half die Käufer bedienen. „Was wollen Sie?" fragte er in scharfem Ton, als er Albert erblickte.
„Ein Bettler ist 's!" erklärte die Frau. „So eine Frechheit von dem Menschen", fügte sie boshaft lächelnd hinzu, „bleibt ruhig stehn, als ob er was zu fordern hätte!"
„Das wird ja immer toller mit der Fechterei! Ich glaub', die Bande klopft einen noch des Nachts aus dem Bett!" muckte nun auch der Mann auf. „Was sind Sie?" fragte er Albert, der sich scheu zur Tür wandte.
„Ach was!   Übergib ihn doch der Polizei!" rief die Frau gereizt dazwischen.
Bei Albert war jetzt alle Furcht gewichen; denn aus den groben Worten des Meisters klang doch ein wenig Mitgefühl. Er drehte sich um und erzählte kurz, wie er in Not
gekommen war.
„Mann, halt dich nicht mit solchem Gesindel auf! Der Mensch lügt. Ich denk, du kennst die Sorte: wenn sie Arbeit haben, leben sie in Saus und Braus und betrügen die armen Geschäftsleute!"
„Nanu, Hedwig, lass gut sein," sagte der Meister beschwichtigend. „Die Not packt auch gute Menschen. Der Mann kann mal rausgehen nach Tempelhof bei Onkel Friedrich, der klagte mir neulich seine Not, die er mit seinem Gesellen habe. Vielleicht braucht er einen. — So, geben Sie die Karte ab, ich hab' ein paar Worte daraufgeschrieben. Machen Sie mir aber keine Schande!" Dann steckte der Meister einige Brötchen In eine Tüte und reichte beides Albert zu, der ganz überrascht war.

*

In einem düsteren Keller, wo Ölfässer, Leimsäcke, große Stöße Fournier und rohe Möbel umherstanden, wo Hühner durch eine zerschlagene Fensterscheibe gackernd hereinhüpften und zwischen Polsterwerk und Seegras fette Kellerwürmer hervorscharrten, da war nun seine Werkstatt. Der alte Meister zählte ein halbes Dutzend von den aufgestapelten Kommoden ab, denen Albert Farbe und Glanz geben sollte.  Der Loh  schien dem neuen Gesellen zwar viel zu gering, jedoch er wagte nichts dagegen zu sagen, denn immer noch einmal gab ihm der Alte zu verstehen, dass er ihm mehr aus Mitleid als aus geschäftlicher Notwendigkeit Arbeit gäbe.   Und immer wieder hob er hervor, wie akkurat er die Arbeit verlange: Albert möge sich nur Zeit lassen dabei, dafür zahle er auch den hohen Preis von zwei Mark fünfzig Pfennig für das Stück.
Es war Sonnabend.  Wie Soldaten standen die sechs Kommoden in einer Reihe zur Abnahme bereit.   Albert
fand immer noch etwas daran zu bosseln und zu wischen „Machen Sie mir keine Schande," hatte doch der Bäckermeister gesagt. Der Alte sollte aber auch gewiss keinen Tadel daran finden.
Plaudernd gingen schon die zuerst abgelohnten Gesellen an seinen Fenstern vorüber. Er sah nur ihre Füße und hörte, wie sie ihren klingenden Lohn nachzählten.
Endlich trat der Meister auch bei ihm ein.
„Na, wie weit sind Sie damit?"
„Fertig."
„Was — fertig? Hm, hm." Dabei fuhr er mit seiner fettwulstigen Hand suchend über den zarten Glanz. „Tja, blank sind sie ja, aber Fläche, Fläche fehlt, mein Lieber!"
„Das liegt am frischen Holz; wenn das nachtrocknet, ist es nicht meine Schuld. Die Polierarbeit ist sauber!" erwiderte Albert erregt.
„Was Sie so sauber nennen, mein junger Freund. Sehen Sie," und der Alte fuhr mit einem großen Bimsstein über den zarten Glanz eines Blattes, „wie Berg und Tal," er wies auf die erhöhten Stellen, die der Stein abschliff und fuhr so über das zweite Blatt. „Ganz dasselbe. Mehr Knochenmehl, ja, Knochenmehl, mein Lieber, das fehlt. Dann kommt auch ein fester Grund hinein," sagte er ruhig. Dabei zählte er drei Talerstücke auf Alberts Arbeitstisch. „So, nun machen Sie nächste Woche die Arbeit fertig, dann erhalten Sie die anderen sechs Mark." Damit ging er die Treppe hinauf.
Albert fühlte kalte Blässe im Gesicht. Ein Zittern durchbebte ihn, und sein Atem stockte in der Kehle. „Gemeiner Schurke!" presste er hervor und starrte auf die drei Geldstücke, die vor seinen Augen zu tanzen begannen. Das Blut stieg ihm heiß, hämmernd in die Schläfe, die Stirn schien sich zu wölben; er ergriff den Hammer; die zerschundenen Flächen funkelten, und drauflos hieb er, dass die Fetzen flogen. „Arbeit — aus Gnade! — Arbeit — aus Gnade!" knirschte er zu jedem Schlage.
Dann schleuderte er den Hammer beiseite, nahm sein Geld und ging.
Erst als er über das stille, freie Feld schritt, wurde er ruhiger.  Jedoch die Tat bereute er nicht.  Sicher trug sie ihm eine Gefängnisstrafe ein. Doch was hatte er noch zu verlieren? Ärger als es mit ihm stand, konnte es wohl nicht mehr werden — so dachte er. Am liebsten ginge er auf und davon — weit fort — irgend wohin. Ja, wenn er noch frei wäre. Aber so, nein!
Das große Exerzierfeld mit seinen weitgedehnten Rasenflächen lag still vor ihm. Nur hier und da tauchten Schatten auf: Arbeiter, die schräg über das Feld schritten, um sich den Heimweg abzukürzen.   Für Albert war es zwar ein Umweg, aber er wählte die alte vergessene Straße, die schon ganz mit Rasen überwachsen war. Hier kam ihm allabendlich Agnes entgegen; hier in der Einsamkeit ließ sich so recht nach Herzenslust Frau und Kind umarmen. Titanenhaft zum Himmel strebende Pappeln reckten sich still und trotzig empor und warfen ihre mächtigen Schatten immer weiter über den von der Abendsonne überglänzten Rasen.   Alte Weiden mit dicken aufgeplatzten Leibern standen geduckt daneben, wie alte Pensionäre.  Tausenden von Fuhrleuten wiesen sie einst in finsteren Nächten den Weg; nun hatten sich die Menschen von ihnen gewandt, ihr Strom ergoss sich weit drüben gleichlaufend in einer abendlichen Lichtflut, die die alte Heerstraße ganz vergessen ließ.
Plötzlich fuhr Albert aus seinen Gedanken auf. Agnes trat hinter einer alten Weide hervor.   Er suchte seinen Gesichtsmuskeln einen Ruck zu geben, um seinen Gemütszustand zu verbergen. Kleinlieschen jauchzte auf, hob sich förmlich von der Mutter Arm und angelte mit beiden Händchen dem Vater entgegen. Er nahm sie, wie gewöhnlich, zu sich.   Sie bäumte sich hoch vor Lebensfreude, patschte und streichelte sein Gesicht, bis auch die letzte Faser weich und lächelnd erschien.  Agnes stand auf einer vorstehenden Baumwurzel und sah dem Spiel glückstrahlend zu. Dann schlang auch sie ihren Arm um seinen Hals. So gingen sie still weiter.
Bald begann Agnes zu plaudern: Sie habe heute ein gutes Geschäft gemacht, ein Reisender habe ihr ein funkelnagelneue Nähmaschine ohne Anzahlung verkauft, wofür sie wöchentlich nur zwei Mark abzuzahlen brauche.
„O je, eine neue Last," stöhnte Albert, der graue Schatten flog wieder über sein Gesicht.
Sie sah ihn verwundert an: „Das lass nur meine Sorge sein.  Augenblicklich geht es zwar noch schlecht mit dem Schurzennahen, aber die zwei Mark werde ich ranschaffen!
„Ja ja, wo bleibt aber alles andere?" „Alles andere? - Na, du verdienst doch!!
„Hm - verdienen - wo denn?" „Wieso? Ist es schon —?"
Still war's. Sie warf den Kopf hoch, wandte ihn zur Seite und sah in die Weite. Er sollte ihre Verzagtheit nicht merken; sollte nicht sehen, wie sie mit den Tränen kämpfte.

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