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Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
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Die Nachtarbeit.

Kleinlieschen nusselte verdrossen in den Bettkissen und rieb sich ihr Stubsnäschen. Dann hielt es ein Weilchen an und lauschte nach Mutters Bett hin. Aber alles blieb still. Ungeduldig warf es sich von einer Seite zur andern und schrie mit kurzen Unterbrechungen laut auf. Endlich tastete Mutter Agnes nach der Wagenkante und begann langsam zu wippen. Das gab Veränderung, und das taktmäßige Knarren des Wagens war unterhaltend. Doch bald Verschwand die Hand wieder unterm warmen Deckbett. Das empörte Kleinlieschen sehr und es kreischte nun unbändig in die Finsternis hinein. Mutter Agnes erhob sich und tastete schlaftrunken hinüber zur Küche.
Bald kehrte sie mit der warmen Milchflasche zurück, das beruhigte den kleinen Schreihals.
Agnes kroch ins Bett zurück und horchte auf das behagliche Schmatzen ihres Lieblings. Sie musste sehr fest geschlafen haben: nichts wusste sie von der Heimkehr ihres Mannes. Sie streckte ihren Arm nach ihm hin. Was? Sie fühlte bis an die Wand hinüber — alles leer — kalt. Unruhe durchfuhr sie. Fünf Schläge kamen vom nahen Kirchturm. — Freitag wars gestern, besann sie sich. Ja, da wards in letzter Zeit immer spät — aber die ganze Nacht! Nein, es ist ja ganz unmöglich! — Mann, wo bleibst du? Wo schläfst du? Früh und spät nur arbeiten, immer arbeiten — ist das wohl möglich? Müde und matt kam er zwar heim, verschlief die wenigen Stunden. — Gewiss, Geld brachte er in einer Woche mehr ins Haus, als sonst in zweien. — Jedoch, war das ein Leben?
Den Kopf voll solch nagender Gedanken vergrub sie ihr heißes Gesicht in die kühlenden Kissen. Bald fuhr sie auf und hielt bei sich selber Einkehr. Da ward ihr ganz unheimlich. Ihm machte sie Vorwürfe, aber verdiente sie nicht seine Verachtung? Fühlte sie doch des Waldmanns Nähe immer wieder in langen, einsamen Nächten. Alles Beteuern und Beschwören ihrer ungeteilten Liebe zu Albert erschien ihr als Heuchelei.
Kurz entschlossen verließ sie das Bett und kleidete sich an. Auf dem Blumenbrett am Küchenfenster herauf war der Schnee hoch angeweht. Bei solch einem Unwetter blieb Albert gewiss in der Werkstatt, dachte sie nüchtern, wobei sie den tanzenden Wasserkügelchen auf dem heißen Kochherd zusah.

*

„Es wird immer toller, nun schuftet man schon die ganze Nacht durch", sagte Albert, als er mit seinem Kollegen nur noch allein war.  „Was soll bloß meine Frau denken?"
„Mein Jotte nee, hab dir doch man nich wegen die Weiber", beschwichtigte ihn der Alte, „die woll'n weiter nischt als Goldfüchse sehn am Sonnabend, denn is allens jut. Un wat soll det ganze Jequaßle: Wenn wa ebend nich von Freitag früh bis Sonnabend mittag in Zuch bleiben, denn kann der Meester nich liefern, un denn jibts ebend keen Jeld nich. Un wir Polierer sind ebend immer die letzten bei der Arbeet."
Mit leisem Gruß kamen nun auch die andern Gesellen von ihrer kurzen Nachtruhe zurück. Langgezogen gähnte es aus der Kamintür, und eine kleine bucklige Gestalt stolperte über die Schwelle, sich die Spähne aus den Haaren streichend. „Los, los, Kreuzspinne!" Ein vierschrötiger Bursche, der sich verdrossen die Mütze zurechtschob, stieß ihn vorwärts. Der Kleine ergriff eine Leiste. „Auf, faule Bagage!' rief er und stocherte zwischen Ofen und Wand, bis auch von da noch zwei Halbschlafende hervorgegrunzt kamen.
Und wie wenn sich ein altes, wackliges Mühlwerk in Bewegung setzt, so begann das Gequietsche der Schraubzwingen, das Kreischen der Sägen, das Pfeifen der Hobel und das Kratzen der Ziehklingen, vermischt mit dem Klopfen der Hämmer und Schlägel.
Endlich lagen die fertigen Möbel auf dem Wagen und Meister Schulze fuhr sie mit seinem Hund zum Händler.
Die Zeiger der alten Werkstattuhr rückten auf Sieben vor. Die Gesellen saßen gelangweilt auf den Hobelbänken. Alle blickten erwartungsvoll zur Tür, als der Altgeselle eintrat. „Kinner, der Olle telefonierte ebend an: wir sollen derweilen in Seelöwen gehn und uff seine Rechnung trinken. In zwee Stunden kommt er mits Jeld."
„Nu, det könn wir ja mach'n. Denn man los", sagten die Gesellen.
„Wir mach'n en Skat, wat?" — „Wir spielen zwei, vier, sechs, Weigert, machste mit?" So teilten sie sich auf dem Hinwege schon in Gruppen.
„Den lasst man", sagte Alberts Kollege, „der jammerte ja so schon die ganze Nacht wegen seine Olle."
„Wer hat gejammert?" erwiderte Albert. erregt. ,;Du tust ja, als ob die Zustände hier ganz ideal wären. Ich bin eben solche verrückte Wirtschaft nicht gewöhnt!"
„Möchst gern wat Bessres sind, wat? — Wirst schonst noch kleene wärn, Jungeken!" erwiderte der Alte. „Un wat de immer sagst von wegen deinem Fachvarein: bloß zehn Stunden arbeeten un denn recht vielle Jeld, na, det is ja det Varückste, wat et übahaupt jibt. Da müssten ja unse Meester überkandidelt sind. Nee, ville arbeet'n, un denn ville vadienen! so is et richtig, mein Lieber."

*

Agnes putzte und scheuerte den Abend schnell herbei. Jeden Augenblick konnte Albert eintreten. Ein Weilchen noch mochte er bleiben: nicht gerade beim Plätten der Wäsche sollte er sie stören. — Wie wird er sich freuen, wenn er alles so blitzblank findet. Sah er doch die ganze Woche weiter nichts als die schmutzige, rauchige Werkstatt. Hier und da fand sie immer noch etwas zu ordnen. Nichts soll zum Sonntag früh bleiben. Sobald sie gemeinsam gegessen haben, werden sie gehen und das Notwendigste einkaufen. — Und morgen früh schlafen bis in den Tag hinein.
Aus den so beglückenden Gedanken fuhr Agnes auf und sah nach der Uhr — halb sieben schon? — Sie horchte hinaus zur Treppe.  Nein, das war nicht sein Tritt. —
Die Kartoffeln waren gar, und das Fleisch braungebraten. Sie wartete. Trübe Schwere befiel sie. Müde hob sie Kleinlieschen aus dem Wagen. „Pa, Pap, Pappa", übte die Kleine.
„Ja, wo bleibt heut dein Pappa — der will vom Kindchen gar nichts mehr wissen. So vertrieben sich beide ein Weilchen die Zeit.
Bald schlief Kleinlieschen ein. Nun ward Agnes unheimlich in der stillen Küche. Das Feuer im Kochherd war erloschen, das Essen erstarrte; nur das Tropfen der undichten Wasserleitung unterbrach die Stille. Die Uhr zeigte auf acht. — Mein Gott, was ist geschehen? — Stieß ihm etwas zu bei dem furchtbaren Schneesturm in der Nacht? — so dachte sie, und immer peinlicher quälten sie die Gedanken, und immer gewisser erschien ihr das vermutete Unglück.
Hastig schritt sie durch den quiekenden Schnee. Sie fühlte nicht, wie ihr die Kälte ins naßgeweinte Gesicht schnitt. Es war ein Weg ins Ungewisse. Ein jeder Schatten der vor ihr auftauchte, erweckte Hoffnungen in ihr. Endlich stand sie auf dem engen Hofe und sah hinauf zu den schwarzen Fabrikfenstern. Kutscher, die noch umherhantierten, gaben ihr Bescheid, in welcher Wirtschaft Meister Schulzens Gesellen verkehrten. Schon vor zwei Stunden seien die Gesellen an seiner Tür vorübergegangen, antwortet ihr der Wirt spitz, und wahrscheinlich säßen sie im Seelöwen, denn bei ihm sei es Sonnabends den Herren nicht fein genug.
Der Seelöwe — ein Tanzlokal niedrigster Sorte — lag unweit am Schifffahrtskanal. In der Haustür stand ein junges Pärchen. Der Bursche nötigte Agnes keck zum Eintreten, als sie sich unsicher summend umschaute. Auf dem in Halbdunkel gehüllten Flur tummelte sich allerhand Jungvolk. „Nur einmal blüht — im Jahr der Mai — nur einmal im
Leben die Lie—be---" klang es langgedehnt zu der
abgedroschenen Walzermusik, die mit einem Gemisch von Rauch und Schweiß aus der Tür des Tanzsaales herausströmte.
Agnes blickte in den heißen Saal, wo alles jauchzte und sang und wildjagend wie im Nebel durcheinanderwirbelte. Zwei Soldaten, die zwischen sich ein Mädchen führten, kamen im Tanzschritt zur Tür herausgesungen, und ehe Agnes "ausweichen konnte, war sie von den Dreien eingeschlossen, die sie zur Schenke hinein drängten. Sie schlug heftig nach der Hand, die sie von hinten berührte und wollte sich die Aufdringlichkeit verbitten. Sie erschrak, als sie ihren Mann erkannte.
Albert lachte und zog sie aus dem Kreise ihrer Begleiter. „Du kommst sofort nach Hause!" fuhr sie ihn erregt an.
Keinen Augenblick wolle sie hier verweilen; nur fort, fort! Das war hier kein Ort für einen Mann, der Frau und Kind hat! Schon in der Luft lag das Betäubende; alle möglichen Gerüche wogten durcheinander. Ein verlockendes, glückzerstörendes Gift schien hier alles in Bann zu halten. Agnes fühlte: Hier herrschte der Tod des häuslichen Friedens.
„Kommst du jetzt?" rief sie mit noch mehr Nachdruck, „sonst geh ich allein!"
„Nein, ich komme nicht!" trotzte auch er nun, ließ sich beleidigt auf seinen Stuhl fallen und griff wieder nach den Spielkarten.
Eine junge Frau zog Agnes teilnehmend an sich, sprach beruhigend auf sie ein und drückte sie auf einen Stuhl neben sich. Die Männer tranken ihr freundlich zu, sie lächelte gezwungen. Die Frauen lobten die Gemütlichkeit eines solchen Bierabends und nötigten sie zum Zugreifen, als der Kellner ein Tablett mit gefüllten Likörgläsern herumreichte. Agnes griff zögernd zu. Indes jagten ihr quälende Gedanken durch den Kopf: Was war’s, das ihren Mann hier fesselte? Ging ihm das Trinken und Kartenspielen über seine Familie oder war es am Ende etwas Schlimmeres? Sie blickte sich um in dem langen Raume. In den Nischen, die sich an den Seiten hinzogen, saßen Weiber und Männer, die zärtlich miteinander taten und tranken und rauchten. Überall herrschte ein trautes Bekanntsein; alles redete sich mit Du an. Bald saßen junge Mädchen auf dem Schoß ältlicher Männer, die schon ihre Väter sein konnten, bald hingen sie am Halse kaum der Schule entwachsener Burschen. Die meisten Mädchen wären hübsch zu nennen gewesen, wenn nicht ihr ungeniertes Betragen alle Zartheiten erstickt hätte. Mit ihren Blicken und mit dem in lüsterner Bereitschaft gehaltenen Munde zogen sie die Männer förmlich an sich. Ihre seltsamen Haartrachten und vor allem die dünnen, durchsichtigen Kleider, die oben zu kurz und unten so eng waren, dass die Schenkel sichtlich hervortraten, steigerten ihre Anziehungskraft. Dazu ließ die aus dem Saal hereinströmende Musik alles im seligen Taumel schweben und schwanken.
Ein Trompetensignal schmetterte plötzlich durch die dicke Luft und schreckte Agnes aus ihren Betrachtungen auf.
Die Frauenzimmer sprangen wie elektrisiert von ihren Plätzen und zogen die Männer mit sich fort. Immer mehr buntgekleidete Mädchen kamen hüpfend aus dem Saal und forderten die Männer zum Tanz auf. Auch die Spieler hatten ihre Karten zusammengeworfen und waren den Lockungen gefolgt.
Das alles geschah so blitzschnell, dass Agnes Albert aus dem Gewühl gar nicht wieder herausfand. Sie sah nur, wie sich alles, in der Walzermusik schwebend, zum Saal hin bewegte. Nur einzelne total Betrunkene saßen in den Ecken der Nischen und schliefen oder lallten vor sich hin.
Ein erstickendes Gefühl stieg Agnes aus der Brust herauf, vor ihr begann sich alles zu drehen und durcheinander zuwälzen. Sie erhob sich, aber die Schwere in ihren Gliedern ließ sie wieder auf den Stuhl zurücktaumeln. Sie griff nach dem halbvollen Schnapsglase, das vor ihr stand und trank es aus. Nach einer Weile schritt sie hastig den anderen nach.
Im dichtgefüllten Saal, der einige Stufen tiefer lag, schwirrte alles umeinander.
Bunte Papiergewinde, die von der Mitte der Saaldecke strahlenförmig den großen Raum überspannten, zitterten über dem wellenartigen Gewoge. Die Musik ward stellenweise vom Mitsingen der Tanzenden übertönt. Suchend beobachtete Agnes die einzelnen Paare, die sich wie verworrene Knäuel umeinander schoben. Männer tanzten in Arbeitskleidung, als einzige Zier ein schmales buntseidenes Tuch um den Hals; Zimmerleute in weiten Manchesterhosen, manche sogar mit dem breiten Kalabreser auf dem Kopfe. Kohlenarbeitern zog der Schweiß helle Rinnen in ihre staubbedeckten Gesichter. Und wie alles tanzte! Manche Paare drehten sich fest aneinandergesogen, wild schwingend auf einer Stelle. Andere standen fast still und wiegten sich nur in den Hüften. Wieder andere schossen pfeilschnell an einer freien Stelle, wie Sternschnuppen durch das Gewimmel, bis sie in einer Ecke zwischen Tischen und Stühlen wippend verharrten.
Erst als die Musik verstummte und die Paare sich an den Tischen niederließen, sah Agnes, wie auch Albert von seiner Tänzerin auf ihren Platz geführt wurde. Sie zitterte. Sollte sie gleich hinstürzen, dem Frauenzimmer ins Gesicht schlagen oder hinauslaufen und es in alle Welt schreien, was hier vorging? Ein Betrunkener stieß sie taumelnd nach vorn. Da sie nun einmal in Bewegung war, schritt sie fest auf ihren Mann zu. Als sie vor dem Paare stand, brachte sie kein Wort über die Lippen. Albert lächelte und erhob sich.
„Wohin, mein Schatz?" fragte das Mädchen und drückte ihn auf den Stuhl zurück, ohne Agnes zu beachten.
„Was fällt Ihnen ein! Das ist mein Mann!" schrie Agnes förmlich, durch Alberts Verhalten ermutigt.
„Wat, Ihr Mann?" Das Mädchen sah Agnes groß an. „Na, Jott, nee!" Sie ließ Albert an sich vorbei. „Wem det so is, denn nehm' Se 'n sich man schon mit. Aber det sag ick Ihn'n: sehre stolz brauch'n Se uff den ooch nich sin!"
Fest am Ärmel gepackt, so zog Agnes Albert, unter Zurufen und Gelächter, eilig durch den Saal und hinaus ins Freie.
Im Schatten der alten Kirchhofsmauer stiegen sie die steile Straße hinan. Der Mond schien durch die frostig starren Baumkronen, die über das alte, verfallene Mauerwerk hinwegragten. Oben auf der kahlen Höhe, wo die alte Windmühle mit ihren schwarzen Riesenarmen die gefrorene Luft knarrend durchschnitt, zog Agnes den Wollschal fester um Kopf und Hals. Sie schauderte frostig zusammen; ihr war, wie wenn die Kälte auch aus ihrem Innern käme und in ihr etwas mit dem Sterben ringe.
Als Agnes den Torweg vorsichtig geschlossen hatte, umarmte Albert sie wortlos. Sie ließ ihn gewähren, ohne mit Wärme zu erwidern. Leises Gewimmer kam durch die Finsternis die Treppe herab. Albert stieß mit seinen müden Füßen an die Stufen, wonach das Weinen verstummte. Durch den schwachen Lichtschein am Flurfenster huschte ein Schatten.
„Frau Weigert", kam es flehend aus dem Dunkel. Agnes erkannte die Stimme. „Kommen Sie, Frau Manske", sagte sie mitleidig, ich kann es mir schon denken." Sie nahm das sechsjährige Mädchen, das der Mutter frierend am Schoß hing, an die Hand, während das Dreijährige
schlafend auf Frau Manskes Arm hockte. Das Schicksal der armen Frau und ihrer Kinder ging ihr gerade jetzt besonders nahe, da sie mit ihren Gedanken noch in dem Sumpf weilte, aus dem das Unglück so vieler Familien hervorschoss.
Stoßweise Fluchen und polterndes Lärmen drang aus Manskes Wohnung.
„Sie wissen es, Frau Weigert, was wir in letzter Zeit ausgestanden haben", schluchzte die Frau und ließ sich auf einen Stuhl in Weigerts Küche nieder. Nun aber sei es ganz aus. „Schlecht — schlecht bin ich — ach, so schlecht!" schrie sie weinend, so dass Agnes beruhigend auf sie einreden musste. „Aber ich tat es ja nicht für mich — der liebe Gott weiß es — nur für die — für die Kinder warf ich mich weg", schluchzte sie von neuem in die Schürze.
„Beruhigen Sie sich, liebe Frau, wenn es weiter nichts ist", Agnes stellte sich gleichgültig, „das ist hier in der Großstadt keine Schande mehr."
„Ich tat es ja doch für Geld!" stöhnte die Frau.
„Was hilfts? Um so gescheiter", sagte Agnes, hinter leichtfertigen Trotz ihr Innerstes verbergend.
Frau Manske wunderte sich, aber die Worte gaben ihr einen Halt, und sie begann zu erzählen, wie alles gekommen war.
Agnes stand am Kochherd und wärmte das erkaltete Essen. Albert mühte sich beim Stiefelausziehen ab und saß dann still, die Arme auf die Knie gestützt und lauschte müde den Worten der Frau Manske:
„Nach Weihnachten war es mit dem Schürzennähen wie abgeschnitten, nur hin und wieder gab es ein halbes Dutzend. Ihr Mann hatte Arbeit. Nachgelaufen war sie ihm die Sonnabende in die Kneipen, um ihm einige Mark abzujagen. Ah den letzten Zahltagen war es ihr nicht mehr gelungen, ihn aufzufinden. Kein Bäcker, kein Krämer borgte noch etwas, alle drohten mit Verklagen, wenn sie nicht sofort die alte Schuld tilge. Ihre letzte Hoffnung ruhte auf ihrem Schwager, dessen Frau jedoch nichts davon wissen durfte, weil da noch eine kleine ältere Verpflichtung zu begleichen war. Die Wohnung kalt, kein Krümchen Brot, die hungrigen Kinder um sich, den langen kalten Sonntag vor sich. All dieses Schreckliche hatte sie hinausgetrieben, ihren Schwager auf dem Heimwege von der Arbeit zu erwarten.
Vor der Brauerei war sie gestanden, eine viertel, eine halbe, eine ganze Stunde, ihr Schwager kam nicht. Im Lichte der Gaslaternen zogen die von der Arbeit kommenden Männer an ihr vorbei. Viele gingen hinein in die hellen, warmen Räume des großen Ausschankes. Manche winkten und versuchten sie hineinzulocken, Bier und Bockwurst wollten sie ausgeben. Die herauskamen, strichen dicht an ihr vorüber, sprachen sie an, so dass ihr warmer Atem sie berührte. Zwei Männer, einen Gassenhauer singend, kamen dreist auf sie zu und schlossen sie ungestüm in ihre Mitte. Sie sträubte sich. Die Männer schleppten sie mehr als sie ging; sie schmeichelten ihrer Schönheit und versprachen gute Bezahlung. Ihr gemeinsames Zimmer lag in einem finsteren Hofe...
— Zwei harte Geldstücke brannten in ihrer Hand. Sie ging zum Krämer und Bäcker und legte sie zitternd auf den Ladentisch.
Die beiden Mädchen waren unterdessen eingeschlafen in der kalten Küche, auf dem Kohlenkasten kauerte das eine, auf dem Fußboden lag das andere. Tränen stürzten ihr aus den Augen und fielen auf das Brot, das sie den Kindern zurechtschnitt. Gierig kauten die kleinen Mäuler, während sie Feuer in den kalten Kochherd machte. Da schlug es plötzlich polternd an die Tür. Ihr Mann stolperte über die Schwelle, starrte auf den Topf mit Milch, auf das Brot und auf die essenden Kinder. Das übrige Geld lag daneben. Er betrachtete alles und forschte nach dessen Herkunft.
„Iß, wenn du Hunger hast, aber frage nicht nach woher!" sagte sie.
Er fing an, sie zu verdächtigen, erst unsicher, dann immer bestimmter. Sie stritt nicht, gab schweigend zu; sprach ihm aber das Recht ab, sich zu entrüsten. — Er forschte weiter. Mit wem trieb sie es? Wer gab ihr das Geld? — Also, der war’s — da lag der Schürzenstoff, sie war heute wieder bei ihm. Schon lange hatte er den Judenlümmel im Verdacht. Seinen Namen wollte er von ihr hören, gestehn sollte sie, jedoch kein Wort kam aus ihr. Das bekräftigte seine Vermutung. Er tobte und fluchte, warf Brot und Milch nach ihr, riss den Kindern die Reste vom Munde und warf sie brüllend auf den Fußboden, schlug blindlings auf sie ein und stieß sie mit den Kindern zur Tür hinaus auf die finstere Treppe. — So also war es gekommen.
Nun wollte sie nie wieder zu ihrem Manne zurück; widerstandslos wäre sie dem Unhold ausgeliefert. Zwingen würde er sie, ein Gewerbe daraus zu machen; denn Geld mochte sie damit verdienen, das war ihm schon recht. Oft genug hatte er sie feig und dumm gescholten: zu was habe sie die schöne Fratze. Jedoch an einen einzelnen sollte sie sich nicht verlieren, sein sollte sie bleiben. Sie hätte ihm ja sagen können, wie es kam, aber der Trotz hinderte sie.
Die Kinder lagen mit ihren blonden Köpfchen auf ihrem Schoß und sahen mit großen übermüdeten Augen zu ihr auf. Sie strich ihnen sanft das verworrene Haar. „Ja, ja, ich bin deshalb noch eure Mutter, habe ja immer für euch sorgen müssen und werde es auch weiterhin tun. Heute schlaft ihr bei Tante Weigert, Mutter muss fort."
„Wohin musst du, Mutter?" fragte das älteste Mädchen.
„Vielleicht nimmt mich Tante Hedwig auf," sagte Frau Manske und Tränen benetzten die Kinder.
Agnes suchte alte Kleidungsstücke zusammen und richtete ein Lager auf dem Fußboden her. Die Mutter kniete nieder, deckte die Kinder sorgfältig zu und küsste sie. Noch ein Weilchen stand sie und lauschte den Atemzügen. Dann zog sie das graue Tuch fest um ihre Schultern und fuhr sich mit dem Zipfel über die nassen Augen; mit kurzem Gruß lief sie hinaus in die kalte Nacht. —
Albert und Agnes blickten ihr stumm nach, sahen sich schweigend an und suchten still ihr Lager auf.
Wochen gingen ins Land, ehe Frau Manske ein Zeichen von sich gab. Dann wünschte sie postlagernd Nachricht. Das gab Grund zu mancherlei Gedanken. Ihre Kinder wurden in Gemeindepflege untergebracht.

*

Die Nachtarbeit in Alberts Werkstatt nahm immer mehr überhand. Agnes trug ihm das Essen hin, und am Lohntage holte sie ihn von der Arbeitsstelle ab. Die Versöhnung war schneller und gründlicher vor sich gegangen, als es Agnes gedacht hatte.  Dennoch glaubte sie, den süßlichen
Duft der Frauenzimmer an ihm wahrzunehmen, wenn er spät in der Nacht heimkehrte.
Heut war wieder einmal Freitag Abend. Die Aprilluft wehte schon recht feuchtwarm durch die gelbgrünen Blätter der Lindenbäume, deren Zweige immer dichter an Weigerts Fenster heranwuchsen. Agnes schwenkte Kleinlieschen hinaus über die Brüstung in das Grüne hinein, tanzte mit ihr die Stube entlang, warf sie übermütig hoch, senkte sie zur Erde, wie ein Kraftmensch, der seine Muskeln stählt. Dann drückte sie ihren Liebling inbrünstig an sich, küsste ihn, bis er aufschrie und schwang ihn wieder lustig herum, wonach er mit tränenden Augen in ihr helles Lachen einstimmte. Mit dem Frühling brach sich in Agnes die alte Lebensfreudigkeit wieder Bahn. Es war, als ob ihr die Sonne neue Lebenssäfte in den Körper strahle, solch ein Gefühl von frisch brodelnder Kraft durchjagte ihre Adern. Ringen, tanzen mit so einem ganz Flotten — wie damals, — o, das täte ihr wohl!
Ein starkes Sehnen zog sie heut hinaus; stundenweit hätte sie ihrem Mann entgegeneilen mögen. Es begann schon zu dunkeln, als sie hinabstieg auf die Straße. Von der Arbeit heimkehrende Männer begegneten ihr; sie führten ihre Kinder an den Händen und trugen die Kleinen auf dem Rücken, ihre Frauen schritten, glücklich dreinschauend, nebenher und plauderten und lachten in den Abend hinein. Aus dem Ganzen sprach eine Vertrautheit, die ihre Sehnsucht noch steigerte.
Sie bog in eine Nebenstraße ein, deren noch unbebaute Grundstücke mit Bretterzäunen umgeben waren. Weiter hinten führte ein Fußweg schräg über das freie Feld zur Stadt. Nur ganz selten kam jemand herüber, die Menschen gingen alle den lichten Geschäftsstraßen nach, nur am Morgen kürzten die Langschläfer hier ihren Weg ab. Kleinlieschen wand und wälzte sich ungeduldig von der Mutter Arm; es kannte die Stelle, wo Agnes schon oft das Laufen mit ihm übte. Immer einige Schritte voraus, und die Kleine trippelte, wie ein junges Vögelchen, mit den Ärmchen lebhaft schlagend. Patschend fiel sie bald hinten-, bald vorn­über. Dann bog sie an der Mutter vorbei und steuerte auf ein anderes Ziel los. Agnes wendete sich um. Da hockte seitwärts hinter ihr ein Mann, der, eine Taschenuhr vor sich hinhaltend, die Kleine an sich lockte. Sie erschrak, als dieser das Kind jauchzend hochhob und es ihr in den Arm legte.
„Herr Waldmann?" fragte sie überrascht; sie erkannte ihn im Dämmerlicht nicht gleich deutlich.
„Ja gewiss, Waldmann," lachte er und strich ihr, wie zum Gruß mit der rechten Hand über die glühende Wange. „So allein?"
„Ja — mein Mann muss ja immer arbeiten." sagte sie, in die Weite sehend und die Zärtlichkeit ruhig hinnehmend.
„Na ja, heut ist es Freitag, da geht's beim Schinderschulze gleich die ganze Nacht durch; sonst gibt es morgen kein Geld — ich kenne die Bude."
Sie wandte sich zum Gehen. Er lenkte sie in den Schatten des hohen Bretterzaunes. Sie blickte zu ihm auf, indem ihr Mund abwehrend flüsterte. Er neigte sich und verschloss ihr die heißen Lippen. Sie ließ es geschehen, vergaß ihr Kind — bis dieses seinen Unwillen kundgab.
„O Gott!" — sie blickte furchtsam nach allen Seiten — niemand hatte es gesehen. Das Kind beruhigend an sich pressend, lief sie eilig davon, ihrer Wohnung zu. Und sah sich nicht um.
Sie schlüpfte zur Tür hinein, legte das müde Kind zu Bett und überließ sich ihren erregten Gedanken, Selbstvorwürfen und sehnsüchtigen Empfindungen.
Ein Gefühl von Furcht und Erwartung durchlief sie, als die Tür wie von allein sich öffnete und zurück ins Schloss fiel. Milde Vorwürfe in die Finsternis hineinflüsternd, fühlte sie sich ihm klopfenden Herzens entgegen.

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