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Wilhelm Nitschke – Der neue Glaube (1929)
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Hoffnungen schwinden.

Eigentlich sollte alles nach einem bestimmten Plane vor sich gehen bei den jungen Weigertleuten; sie hatten alles durchgesprochen, wie sich die Zukunft gestalten sollte, aber das Leben ging bald seinen eigenen Weg mit ihnen.
Albert konnte seiner Frau am Sonnabend nur acht bis neun Mark Wirtschaftsgeld auf den Tisch legen, denn zehn Mark zog sein Meister regelmäßig für Schrank und Bett ab. So ging es nun Woche um Woche; nicht einmal die paar Mark zur Anzahlung für eine Nähmaschine brachten sie zusammen.
„Immer erst einarbeiten, mein Kind," sagte Schwager Wiedemann, der Agnes' Meister war, wenn sie wegen des niedrigen Verdienstes klagte. Und übrigens zahle er ihr schon den Vorzugspreis von einer Mark achtzig Pfennig für ein Dutzend Trikottaillen, während andere Frauen bei einer Mark fünfzig sehr gut zurecht kämen.
„Nein," stieß Albert eines Abends verdrossen hervor, „ganz unsinnig ist dein Arbeiten!", als Agnes immer noch bei der Arbeit saß und am Fenster das letzte Tageslicht ausnützte. „Kein Stück fass ich mehr an!" Er blieb am Tisch sitzen. Reiner Wahnsinn ist es: „zweihundertachtunddreißig Knopflöcher anzeichnen, einschneiden und ausnähen, dazu ebenso viel Knöpfe annähen, einhundertvierundvierzig Haken und Ösen annähen, sechsunddreißig Kragen aufsetzen und zweiundsiebzig Ärmel einnähen; dazu gibst du Garn und Licht und trägst das schwere Paket her und wieder zurück, und dieses alles für fünf Mark vierzig Pfennig! Ist das eine Bezahlung? Dabei spielt sich Dein Herr Schwager noch als Wohltäter auf, dankbar sollst du ihm gar sein, dem gemeinen Blutsauger!"
Er stand auf und schritt erregt in der engen Stube auf und ab. „Kein Stück bringst du mehr ins Haus!" Die Hände in den Hosentaschen, blieb er vor Agnes stehen, die ihn erschrocken ansah.    „Ja," sagte er etwas ruhiger, „du
guckst mich ganz verzweifelt an, aber höre nur, was mich außerdem noch empört: Wir sprachen nämlich heut in der Werkstatt von der Frauenarbeit, und als da mein neuer Nachbar den Namen Wiedemann hörte, griff er in den Werkzeugrahmen und nahm einen derben Schluck aus seiner Schnapsflasche."
Betroffen ließ Agnes ihre Arbeit in den Schoß sinken und sah erwartungsvoll zu Albert auf. Der setzte sich mit einem Schenkel aufs Fensterbrett, steckte einen Zigarrenstummel in Brand und begann zu erzählen:
„Sei vorsichtig, junger Freund, sagte er, wenn deine Frau hübsch ist und für Wiedemann arbeitet. Dieser Schurke hat mein Leben vergiftet. Eine Frau hatte ich, hübsch und munter wie ein Reh. Glücklich waren wir beide; nur mein Verdienst war zu knapp, sie musste mitverdienen. Sie beklagte sich bei Wiedemann wegen der jämmerlichen Bezahlung. Geduld, Geduld, vertröstete er sie; er habe was Feines für sie in Aussicht. Ein Weib wie sie brauche nicht Maschine zu treten. Und bald ward sie als Probiermamsell bei seinem Chef eingestellt. Angeblich machte sie nun Reisen nach Paris und London in die feinsten Modesalons und brachte schweren Draht heim. Ich arbeitete nur noch, wenn ich Lust hatte. Eines Tags bummelte ich gelangweilt durch die Friedrichstraße, denn meine Frau war wiederum auf eine Woche verreist. — Ich stutze — vor mir schlüpft ein Pärchen in einen blitzenden Wagenverschlag. Ich renne neben dem Gefährt einher. An der Straßenkreuzung hatte ich Gewissheit. Ich riss den Verschlag auf und schlug drauflos in blinder Wut. Fürchterliches Geschrei, Püffe und Glassplitter.... Vier Monate bekam ich drauf. Mein Weib ist erste Abnehmerin im Modehaus von Aron Goldstein: Wiedemanns Chef. — Mein Nachbar griff wieder nach dem Zeugrahmen und goss die Flasche voll Schnaps in einem Zuge hinunter."
„Und bei solchen Geschichten sollte unser Schwager die Hand im Spiel haben?" Agnes schüttelte bedenklich den Kopf.
„Ja, dafür bekommt er auch die höchsten Preise. Unter zweihundert Mark in einer Woche macht er's nicht, sagte mein Kollege."
„Zwei — hundert — Mark?" wiederholte Agnes gedehnt. „Du mein Gott, dafür muss ich fast ein ganzes Jahr arbeiten." Sie hob die ihr vom Schoß gefallene Arbeit auf und begann wieder zu nähen.
„Schmeiß hin!" sagte Albert heftig, riss ihr die Taille fort und schmiss sie zu den anderen aufs Bett. „Verdirb dir noch die Augen für diese Kupplergesellschaft!" Er griff nach dem Milchtopf, der auf dem Tische stand, und goss eine Tasse voll. „So, trink," sagte er, und trank den letzten Rest aus dem Topfe. Agnes wehrte ab, die Milch wäre zu einer Suppe für den folgenden Mittag bestimmt. Auf ihre Ermahnungen nicht achtend, entnahm er dem Sparkästchen eine Mark. „Hier, kaufe morgen frische Milch,"
sagte er streng.
„Das ist ja die Miete, übermorgen ist sie fällig," erinnerte sie, während er die Taillen vom Bett auf den Fußboden warf und mit den Füßen in die Ecke stieß. „So, da liegen sie gut! Und der Hauswirt wartet. Sind wir auf der Welt, um Tag und Nacht zu schuften und dabei zu hungern, um nur jedermann recht brav bezahlen zu können? Ich sage dir, das hab ich gründlich satt."
„Aber so geht es doch allen Armen, die im Leben vorwärts wollen." Agnes suchte ihn zu beruhigen.
„Vorwärts wollen, ja — die aber nie vorwärts kommen! Nein, nein, mir erscheint es beinah so, als käme hier niemand durch ehrliche Arbeit vorwärts. Ich gebe auch das Meisterwerden auf; wann sollen wir denn das Geld für eine kleine Werkstatt zusammenbringen? Wir müssen uns ja bloß immer wehren, damit sie uns das Blut nicht ganz und gar aus den Adern saugen: die anderen, die vorwärts kommen."
Was ist das für eine Sprache? dachte Agnes erstaunt. Aber vielleicht hatte Albert recht, und es gab wirklich Menschen, die den Armen nur für ihre eigensüchtigen Zwecke benutzen und ihn hinderten, aus Not und Elend herauszukommen.

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