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Franz Jung - Die Eroberung der Maschinen (1923)
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Im Zuchthaus

Wer das Tor einer Strafanstalt hinter sich zuschlagen hört, der fühlt sich vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben als rettungslos verloren. Keine Stunde der Gefahr draußen im Leben bleibt für die Erinnerung so stark haften. Man mag noch so sehr Gleichgewicht zeigen, es greift bis in die Knochen, der ganze Körper wird erschüttert. Es ist auch buchstäblich wahr, der Gefangene soll sein bisheriges Leben auslöschen und ein neues beginnen. Ein Mensch, ein Organismus wie nur irgendwie ein lebendes Wesen, Tier oder Pflanze, wird seines Bodens, mit dem er durch tausend Blutfäserchen verwachsen ist, beraubt und nach einem Paragraphenschema zurechtgestutzt. Das wirkt so sinnlos, und der Kampf, der sich darüber entspinnt, ist erbittert und wie das Ringen um das Leben. Die meisten fühlen von vornherein, dass sie unterliegen werden, aber solange noch das Menschlichste, was der Mensch besitzt, das Gefühl, Mensch zu sein, auch nur in der leisesten Erinnerung noch vorhanden ist, gibt niemand den Kampf auf. Man kämpft dann schon als Unterlegener nicht mehr offen, sondern hinterrücks, mit einer beispiellosen Zähigkeit und Bosheit. Alle Stunden des Tages, alle Gedanken, jede Arbeit ist davon angefüllt. Bis auch dann sichtbar der Einzelne niedergebrochen ist. Der Gefangene widerspricht nicht mehr, sein Menschentum ist ausgebrannt. Er hat sich dem Mechanismus des Hinvegetierens untergeordnet. Aber eins bleibt: das ohnmächtige Gefühl eines Hasses, in das sich alles, was der Mensch an Eigenem und Gutem besessen hat, geflüchtet hat, ein unterirdisches Gefühl, das nur explosiv noch von Zeit zu Zeit nach oben stoßt, in unbeherrschten Augenblicken, Schrecknissen und Überraschungen, ein Hass, der so tief sitzt, weil er gerade seiner Ohnmacht sich bewusst ist, Hass nicht mehr allein gegen die Wärter und die Verwalter, sondern gegen alle, gegen alles, was menschlich ist, von dem der Gefangene sich ausgeschlossen sieht. Es ist in einem engeren Sinne schärfer, weil im einzelnen tief greifender, das Leben im kapitalistischen Staat, das sich zum Vegetieren im Zuchthaus verdichtet. Dieser Hass wird lebendig, er wird zum zweiten Leben, und die Gefangenen finden sich darin zueinander. Wer einmal diesen glühenden Schmerz gefühlt hat, vergisst das nicht mehr.
Dabei ist nun eins seltsam. Der brave Bürger, der von der Arbeit der ändern und auf Kosten seiner Mitmenschen lebt, zu dessen Schutz sich die Gesellschaft mit ihren Gesetzen, die gesellschaftliche Ordnung und der Staat gebildet haben, deren Träger immer wieder derselbe Bürger ist, dem es ja so leicht fällt, die aus sich heraus und zu seinem eigenen Besten geltenden Paragraphen nicht zu übertreten - dieser selbe Bürger macht sich von den von ihm geschaffenen Zuchthäusern eine recht falsche Vorstellung. Er erwartet zu hören, dass dort Menschen von früh bis abends geprügelt und mit der Peitsche zur Arbeit getrieben werden, dass im dunklen Keller die Wärter, die rohesten Henkergestalten, die man sich nur immer ausmalen mag, über den Gefallenen herfallen, und dort, wo er sich nicht mehr wehren, nicht mehr um Hilfe rufen kann, sich Orgien der Grausamkeit und Bestialität abspielen, von denen man sich schaudernd abwendet - so stellt der Bürger sich das vor, zuckt dabei etwa die Achsel: Ja, schlimm, aber wie man sich bettet, so liegt man. Er sieht die Gefangenen in Dunkelkammern sich winden, in Zwangsjacken, wenn sie sich empören und unbotmäßig werden, erlebt die Anfälle, wie der Wärter mit dem Schemel niedergeschlagen wird, fühlt ordentlich den stieren verzweifelten Blick eines solchen Tieres, das die Fauste sich an den Mauern blutig schlägt. So soll es sein - und wenn einzelnes zutrifft, so findet der Bürger das auch im Irrenhaus, über das er ja dieselben Geschichten in Umlauf setzt. Wer durch die Sinnlosigkeit einer Ordnung, die den Menschen zum Tier herabsinken lässt, das Gefühl, Mitmensch zu sein, verliert, und weil darauf alles hinausläuft, verlieren muss, der wird geisteskrank, er wird unmenschlich, und das ist das, was im Zuchthaus von Gesellschaft wegen erreicht werden soll. Der Mensch wird gebrochen und lebenskrank, das ist dem geisteskrank völlig gleichwertig und überwiegend auch direkt dasselbe in seinen Äußerungen. Warum soll man dieses Wesen noch schlagen, denkt die Verwaltung, im Gegenteil, man füttert es gut, misst sehr genau seine Lebensdauer, um sie recht zu verlängern. Denn im Grunde würden die meisten Gefangenen in den ersten Monaten sterben. Man hält sie mit raffiniert ausgeklügelter Kunst am Leben, gaukelt ihnen alle Art Interessen vor und hat dabei mehr damit zu tun, die Wärter wenigstens nach außen normal zu erhalten als die Gefangenen. Denn das steckt an. Die Unglücklichen, die als Wärter angestellt sind, verlieren doch in gleicher Weise ihre Menschenwürde. Der Bürger ist schlau genug, er dreht sich um, er hält sich die Ohren zu, er macht sich eine Schauergeschichte zurecht. Aber der Wärter soll aufpassen, er ist Stunde um Stunde um Menschen, die keine Menschen mehr sein dürfen. Das wirkt ebenfalls tödlich. Ihnen fehlt obendrein noch der Mechanismus einer sinnlosen Arbeit, den der Gefangene für das Vegetieren braucht, wie die Herren Ärzte festgestellt haben. So entsteht jener Henkertyp, der mehr unglücklich ist als roh, mehr verzweifelt als hasserfüllt, mehr Jammer als Strafe ist. Nun kann der Bürger aufatmen.
Es ist schwer, die Barbarei, das Unmenschliche dieser Zeit auf sich wirken zu lassen. Früher oder später geht man daran zugrunde, es sei denn, man hätte ein Übermaß jener menschlichen Kraft, die die wahre Menschlichkeit ist, dem entgegenzusetzen. Es war zum ersten Mal, dass die bürgerliche Ordnungsmaschine große Massen von Arbeitern auf einmal und zu gleicher Zeit dem Zuchthaus überlieferte. Der einzelne konnte sich bisher schwerer behaupten, es gehörte eben eine übermenschliche Kraft dazu. Aber die vielen, die jetzt ein und derselben Anstalt zugeführt wurden, konnten das eher. Der ganze Zuchthausapparat erwies sich an diesen neu Eingelieferten als ohnmächtig. Sie hatten bald heraus, dass es zwecklos gewesen wäre, die Paragraphenordnung, auf der die Verwaltung fußte, umzustoßen. Es war im Anfang vorgekommen, dass dann Soldaten aufgeboten worden waren, einmal war sogar eine Salve gegen ihre Fenster abgegeben worden, glücklicherweise ohne jemanden zu treffen. Das Unterwerfen unter die Paragraphen bedeutet noch keinen Verlust an Würde, wenn man nicht allein ist, wenn man das Ziel, dass man zusammengehört, das große Ziel der sozialen Revolution vor Augen hat. Der Kampf gegen den kapitalistischen Staat ist eben nur möglich, wenn alle Arbeiter, alle vom Kapital Ausgebeuteten zusammenstehen, wenn sie sich so eng verbunden fühlen, dass nichts sie in dem Bewusstsein hiervon trennen kann. Mochten einzelne Jammerlappen auch darunter sein, Ängstliche, denen ihr Unglück fortgesetzt vor Augen stand, dann auch Leute, die die Sorge um die Familie mehr als einmal in einer Weise überfiel, dass sie am Zusammenbrechen waren - aber alle diese fanden sich wieder. Es waren Menschen, die man noch stützen konnte, und es war gerade für diejenigen, die eine aufsteigende Verzweiflung niedergerungen hatten, eine willkommene Aufgabe, den ändern durch das Beispiel wiedergewonnener Unbekümmertheit über die Krise hinwegzuhelfen. So ging das von einem zum ändern, sie halfen sich gegenseitig und wurden wie ein einziger großer Stahlblock, an dem alle Versuche, sie niederzubrechen, zerschellten. Das Bürgertum wurde ohnmächtig. Die gefangenen Arbeiter hatten das Mittel gefunden, den Verwesungsversuch einer absterbenden Gesellschaft unschädlich und wirkungslos zu machen; die Gemeinsamkeit und das Gemeinschaftsbewusstsein.
Die erste Woche war hart. Bis jeder eben seine Aufgabe erkannt hat. Bis er sich wieder gefunden hat nach dem ersten Stoß der Verzweiflung, losgelöst zu sein von allem, worin er bisher gelebt hat. Da wurde der Gedanke an die Kameraden zum wohltuenden Trost, der Atem wurde freier, und schließlich kam so etwas wie eine Leichtigkeit und ein allgemeines Glücksgefühl auf. Hier also, dachten sie, ist jetzt dein Platz, hier sollst du weiterarbeiten — gut so. Wo eben gearbeitet werden soll, fassen wir an. Natürlich war das nicht an einem Tage da, aber es entwickelte sich allmählich, es wurde schließlich doch zu dem, was sie unüberwindlich und sicher machte, fröhlich geradezu - es wurde zu einem starken Selbstbewusstsein. Gerade darin hatte der bürgerliche Staat die Absicht, sie zu treffen, und er festigte sie darin. Er rief bei den meisten, die es im täglichen Leben, in den kleinen Quengeleien mit all den Widerständen und dem Drum und Dran vergessen und verschüttet hatten, dieses Selbstbewusstsein erst richtig wach, er legte es frei. Und jetzt erst erkannten sie, was das in seiner ganzen Tiefe bedeutet: zusammengehören.
Warum sollten sie sich nicht der Anstaltsordnung unterwerfen und die oder jene Arbeit tun — das machten sie ja draußen auch. Oder sich mit den Wärtern rumschlagen, wozu - das waren Leute, die auch ihre Arbeit zu machen hatten. Lasst diese Menschen in Ruh, hieß es. Und als ginge diese Kraft der Gemeinschaft auch auf die Wärter über. Nach anfänglichen Schwankungen, das ist das Misstrauen, das sich gerade in diesem Wärterberuf einnistet, sie haben doch auch Angst, Stellung und Brot zu verlieren - nachdem sie die Sicherheit gewonnen hatten, dass die Anstaltsvorschriften selbst dadurch nicht verletzt würden, fühlten sich die Wärter in der Gesellschaft der Arbeiter geradezu heimisch. Es tat ihnen wohl, dort Dienst zu tun, sie fühlten sich mit den Gefangenen verbunden, Blut von ihrem Blut und Menschen wie sie. Es kam so weit, dass die öffentliche Meinung diese Harmonie aufgriff, kritisierte, zeterte und allerhand Gefahren an die Wand malte. Da wurden die Gefangenen, die bisher mehr zusammengehalten worden waren, als Block für sich, unter die ändern Gefangenen aufgeteilt. Aber statt der Vereinzelung ausgesetzt zu sein, brachten die so genannten politischen Gefangenen jetzt auch den ändern, den kriminellen, das Selbstvertrauen zurück. Sie machten sie wieder zu Menschen, sie brachten ihnen den Glauben an die Gemeinschaft, indem sie gemeinsam mit ihnen die Strafordnung ertrugen, gemeinsam jene nutzlose Arbeit verrichteten, die die Gefangenen entwürdigen soll. Jeder einzelne dieser gefangenen Arbeiter war gewissermaßen ein ruhender Fels, an dem die ändern sich aufrichteten. Denn der Arbeiter wusste, diese so genannten Verbrechen an der menschlichen Gesellschaft, weswegen man diese Unglücklichen ausstieß und vernichtete, die hatte diese Gesellschaft selbst veranlasst und erst ermöglicht.
Diese Gesellschaft war daran, mochten sie noch so sehr einer menschlichen Gesittung zuwiderlaufen, allein die Schuldige. Die Gesellschaft und ihre Organisatoren und Träger, ihre Schergen und Verteidiger - die gehörten auf die Anklagebank. Lasst den Menschen sich unter menschenwürdigen Verhältnissen entwickeln und heranwachsen, gebt ihm die Freiheit, sich als Mensch zu fühlen, dann wird auch der soziale Instinkt, die Fähigkeit und das Glück, miteinander zu leben und auszukommen, von den Geschwüren und Krankheiten unserer Zeit befreit sein — das kam leuchtend zum Durchbruch. Bis hinauf in die Verwaltung, soweit sie noch direkt mit den Gefangenen zu tun hatte, spürte man die Wandlung. Ein neuer Geist, der sie zunächst erschreckte, gegen den sie aber keine Gewaltmittel mehr hatten, hielt die Gefangenen zusammen und hielt sie gesund und aufrecht. Und wenn die Gefangenen ihrer Ordnung gemäß zusammen waren, bei der gemeinschaftlichen Arbeit, beim Spaziergang, in der Kirche oder wo sonst immer, so hatten sie nicht nötig, miteinander viel zu besprechen. Ein Gedanke leuchtete aus den Blicken, den alle verstanden und mit dem gleichen Leuchten beantworteten. Darin war Hoffnung und Lebensmut, Vertrauen und eine unbesiegliche Fröhlichkeit. Dieser Gedanke löschte viele Schmerzen aus, manche Unsicherheit in der stillen und oft so furchtbar lastenden Stunde der Einsamkeit und der Sehnsucht nach denjenigen, die einem am nächsten standen. Dieser Gedanke war: Aushalten, Kamerad! Draußen die arbeiten für uns, wir aber arbeiten hier für die da draußen! Das war mehr als ein Versprechen, das war, als ob sie sich einander die Hand gegeben hätten, um sich zu festigen. Darin lag fast eine versteckte Freude, die noch nicht ganz frei war. Weil sie eben erst ein Ahnen war von dem, was die Zukunft einst bringen wird, wenn die Arbeiterklasse gemeinsam darangehen wird, die neue Gesellschaft aufzurichten. Dafür zu arbeiten ist Glück, mag es sein, wo es will, in der Werkstatt, auf der Rednerbühne oder im Zuchthaus. Über kurz oder lang reißt es die ändern mit, die ihr Menschentum verloren haben oder die überhaupt noch nicht begriffen und gelernt haben, was Mensch sein heißt. Die Unglücklichen, die Unzufriedenen, seien sie auch noch so sehr Handlanger der Bürgerklasse, einmal werden sie verstehen, weil alle einmal den Anspruch erheben werden, Mensch zu sein, heißt in Wahrheit und in Glück zu leben. Dann wird das Dunkel fallen, die Zuchthausmauern werden niedergerissen werden, und die Macht, die sich heute die einen Menschen über die ändern anmaßen, wird sich in das Gegenteil verkehren. Bis alle Menschen frei sind.

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