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Franz Jung - Die Eroberung der Maschinen (1923)
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I. Der Aufstand

Über die Ebene rollte in kurzen Stößen der Donner eines Geschützes. Wie das Bellen eines Tieres tief aus der Erde raus klang das für einen Augenblick. Dann zitterte die Luft darüber hin, dass sich Schallkreise bildeten, die sich senkten und kurz über dein Boden erst auseinander stoben. Über allem gleichmütig und unberührt leuchtet die Sonne im ersten Frühling. Die Felder stiegen an mit einem grünen, zarten Flaum. Eine Reihe Bäume, noch kahl, aber schon so scharf gegen den Horizont geprägt, dass die feuchten Knospen sich in dem Glänze spiegelten und aufblitzten, lief eine Bodensenkung in langen Schleifen hinab. Auf der Landstraße war weit und breit niemand zu sehen. Vereinzelt lag Ackergerät auf den Feldern. Wie in der Hast fortgeworfen. Wieder rollte der Geschützdonner. Man unterschied jetzt auch Lerchen, die vom Boden aufstiegen, mit fast verschüchtert leisen Trillern. Doch die Tiere hatten noch nichts zu fürchten. Nirgends war ein Mensch. Auf der Senkung unten lief die Straße im breiten Bogen, um in eine kleine Station einzumünden. Dahinter erhoben sich einige Schuppen. Weiter vorn konnte man jetzt die Schienenstränge sehen. Sie stiegen wieder langsam an, ein Damm wuchs allmählich neben ihnen auf, dann verschwanden sie auf der Höhe. Die Station war nur eine einfache Baracke, ringsum kahles Feld, kein Haus.
Die Signalglocke schlug an. Es dauerte eine ganze Zeit, ehe jemand kam. Eine Frau erschien schließlich aus einem der Schuppen und schaltete. Aber nach einer Zeit schlug die Glocke noch dringender. Sie lautete wie jemand, der um Hilfe ruft. Die Frau kam nicht mehr wieder. Die Station lag ausgestorben. Auch das Lauten hörte wieder auf. Dann breitete sich diese unheimliche Stille, die Gedanken nicht aufkommen lassen will. Schweig du - heißt das. Angst.
Auf der Höhe oben zeigte sich jetzt ein Trupp Menschen. Sie gingen eilig und aufgeregt aufeinander einsprechend der Station zu. Männer, Weiber und Kinder. Die eine Frau hatte einen Säugling an der Brust. Wie die Leute da vorwärts strebten, schien es, als fliehen sie vor etwas her. Sie sahen verängstigt aus, sie hielten sich dicht zusammen, wie um sich zu schützen. Zwei halberwachsene Mädchen kamen in einigem Abstand hinterher, vorn hasteten die Weiber, und mittendrin schritten die paar Männer, gebückt und klapprig, altes verbrauchtes Arbeitsvolk, mehr mitgezogen als mit eigenem Ziel und Willen, dazwischen ein paar Kinder, die gewaltig die Beine in die Hand nehmen mussten, um manchmal mit langen Sprüngen den Anschluss wieder zu gewinnen - so stieß dieser Trupp auf die Station. Der eine Schuppen wurde lebendig. Eine große Anzahl Männer trat heraus, die darin geruht haben mochten. Sie sahen nicht aus, als kämen sie gerade von der Arbeit. Lässig und den Kopf hoch, sehr hoch - so traten sie heraus und lachten den Leuten, die noch die Angst an allen Gliedern schlottern ließ, entgegen. »Leute«, schrieen die aber durcheinander, hauptsächlich die Weiber. »Leute, sie kommen schon hinter uns her, ach Gott, ach Gott« — und was solche Jammerreden mehr sind. Und während jetzt auch die Männer anfingen, zu bekräftigen und nach hinten zu weisen, und die Herausgetretenen neugierig nach oben hin die Hälse reckten, rollte wieder der Donner in kurzem Bellen über die Ebene. »Wo haben sie denn das Geschütz her«, schrie der eine. »Nee«, sagten sie darauf, »das ist eben keim. Das sind die Brücken, die sie unten sprengen, alles die Brücken und die Gleise, da gleich unten vor der Stadt, man kann's von oben sehen.« Dann verlor sich die Rede in Gejammer. Die ändern aber drangen aufgeregt auf nähere Auskunft. »Da sind das also die unsrigen?« »Freilich sind's die unsrigen - ach, wenn nur bald alles vorbei wäre und wieder andere Zeiten. Ach, wenn uns doch bloß nicht die Soldaten über den Hals gekommen waren. Mein Gott, was soll denn noch geschehen« - die ändern lachten gutmütig. »Alte, sei still; wenn's die unsrigen sind, so sind wir jetzt doch endlich feste dran.« »Natürlich, natürlich«, bekräftigten jetzt die mitgelaufenen Männer, »die schaffend vielleicht schon heute in der Stadt. Allzu viel Grüne sind ja nicht drin.« Dann aber lachte einer laut auf: »Ob wohl der Zug noch kommt?« Da lachten alle mit. Spaß, das ist für eine Zeitlang jetzt zu Ende, so war die Sache mal richtig, das besprachen sie mit den Ruhigergewordenen. Jetzt sind sie auch mit dran. Der Verband hat noch gestern den Streik abgelehnt. Ein Skandal ist das. Die Bergarbeiter sind schon eine ganze Woche draußen, nur die Bahner, heißt es dann hinterher, wollen wieder nicht. So ist's richtig. Jetzt liegt die Strecke still. Sie waren ordentlich rot vor Freude. Die ändern aber hatten drüben auf dem Gut gearbeitet. Auch die Landarbeiter waren noch nicht im Streik. Es hieß, dass welche schon von den Feldern gejagt worden seien, drüben im Nachbarkreis. Hier war noch Ruhe. Aber jetzt wäre einer gekommen, erzählten sie, der hat nur so im Vorbeilaufen geschrieen, der Gutsherr bewaffne seine Leute drinnen im Hof, es soll gegen die Arbeiter gehen, und eine Anzahl Grüne auf Rädern oder Gendarmen, oder was das für Soldaten gewesen seien, hätten sie auch schon gesehen, die von der Stadt her heraufkämen, die waren aber dann nicht mehr zu sehen gewesen. Und so erzählten sie und sprachen alle durcheinander und waren froh, auf welche gestoßen zu sein, mit denen sie zusammenbleiben konnten. Denn wer weiß, was der Herr gegen sie vorhat, obwohl die ändern sie auslachten. Ihre Lehmkaten standen jenseits des Gutshofes. Sie wollten also hier am besten warten. Und sie erholten sich; die Männer bekamen zuerst wieder Farbe. Sie lauschten jetzt angestrengt mit den Bahnarbeitern, ob sie nichts heraushören könnten aus dem manchmal plötzlich aufsteigenden dumpfen Geräusch von weit drüben her, was wohl in der Stadt vorging. Aber die Lerchen schmetterten auf einmal wütende Triller, als wollten sie etwas anderes nicht aufkommen lassen, und die Sonne brannte.
Später zog ein Trupp Arbeiter vorbei. Einer darunter, der mit dem Zug auf dem Wege zur Stadt gewesen war. Es war keine große Verkehrs strecke. Die Bahn verband eine Reihe Dörfer und Städtchen mit der Stadt unten im Tal, die der Hauptsitz der Bergwerksbetriebe war. Lagen auch die Bergwerke außerhalb, so waren doch die elektrischen Zentralen in der Stadt, Hütten und Maschinenwerkstätten, die Sprengstofffabriken und die große chemische Industrie. Wer nicht in die Grube ging, fuhr nach der Stadt. Dieser eine nun, der den Führer des Trupps machte, wollte Erkundigungen einziehen für seine Leute, die noch weiter abseits von der Strecke ihre Siedlung hatten. Wie es stand da unten, und allerhand war zu besprechen, auch das Geld wurde knapp. Bloß der Zug blieb schon ein paar Stationen vorher stehen und fuhr schließlich überhaupt nicht mehr weiter. Alles eingestellt, hatte es geheißen. Da ist unser Mann raus ins Städtchen, die Leute standen da in den Straßen und starrten in die Luft. Waren ja alles Grubenarbeiter, die hier feierten und auf Nachricht warteten. Sonntäglich war es da in dem Nest, es tat ordentlich wohl, mal die Glieder zu strecken und sich die Sonne auf den Buckel brennen zu lassen. Friedlich sehen die Leute aus, das versteht sich, wenn man erst gerade den dritten Tag draußen ist und sich sonst um nichts zu kümmern hat. Also wie er die Leute auf dem Marktplatz stehen sieht, gleich mitten rein wie ein Sperber in die Küken und redet da, auf was sie denn da noch warten, und dies und das, und ob sie wollten die Kameraden da unten alles allein machen lassen. Das zog. Schlug ein wie eine Bombe. Hatte jeder für sich auch schon gedacht. Aber um es auszusprechen, das gab so viel Hin und Her, und dann traut der eine dem ändern nichts zu, je enger man beieinander ist. Kommt jemand von draußen her damit, so findet er den Akkord schon fertig, er braucht nur noch ein bisschen Melodie zu spielen. Das war so. Er brauchte keine großen Worte weiter mehr zu machen. Es hieß gleich, also ziehen wir alle runter. Wird schon auch noch Arbeit genug geben. Und niemand drehte sich da noch weiter um oder hatte etwa noch eine Bestellung oder im Haus und Garten was zurechtzulegen oder sich eine Scheibe Brot einzustecken: wie sie da standen, zogen sie gleich los. Ein paar Jungens liefen noch hinterher. Waren aber noch zu grüne Bengels, und nachdem sich einer schon mehrmals umgedreht und Scheltworte nach hinten gerufen hatte, dass sie im Trab nach Hause laufen sollten, hätten sie doch hier bei ihnen nichts zu suchen -half aber noch immer nichts -, nahm einer ein paar Steine auf und machte Miene - da merkten sie, dass es Ernst war, und sie hielten an. Aber sie blieben noch lange Zeit auf dem Fleck stehen und sahen ganz gewaltig erbost hinterher, und sie fanden lange kein vernünftiges Wort untereinander, das sie hätte veranlassen können, umzukehren. Bis die andren verschwunden waren in der Senkung, wo die Straße zur nächsten Station hinläuft. Hier rückten sie nun an. Zogen still ihre Straße lang. Fiel nicht eben häufig ein Wort. Alles das wird sich finden dort unten. Jeder hätte gesagt, das sind Leute, die nicht mehr aufs Land passen. Wie sie da zwischen den Saaten hügelan schritten und nicht aufsahen, sondern nur starr voraus, das Gesicht verkniffen, die Stirn runtergehängt, als hätten sie oben auf dem Kopf noch ein Zentnergewicht zu tragen, und es war, als gingen die Beine für sich, die gelben Arbeitshosen und die Stiefel, die wohl aufs Feld gepasst hätten - der Oberkörper aber schob sich in eigenem Takt und schneller; wie sie da so alle dem einen Ziel zugingen, wob sich ein enges Band, noch unsichtbar zwar, um sie, das sie als Ganzes erscheinen ließ, als ein Körper, der nach einem Rhythmus das viele im einzelnen noch so Widerstrebende erfasste und mit sich riss. Man merkte gleich, die da schlendern nicht, es ist Zug drin, wo die hinwollen, da ist Zweck und Marsch. Das Land ist ihnen gleichgültig. Sie sind darüber hinausgewachsen.
Und waren doch alle mal Bauern hier oder die Söhne von Bauern und wenig fremdes eingewandertes Blut drin. Denn die Leute, die hier ringsum im Lande saßen und jetzt auf Arbeit gingen, seit einigen Jahrzehnten hatte das erst angefangen, bis es jetzt allgemein geworden war, wohnten noch in ihren Bauernkaten, denen das Dach von Zeit zu Zeit zusammenfallen wollte, so dass es gerade notdürftig ausgebessert werden musste; wer hätte sich für eine ordentliche Arbeit im Hause Zeit nehmen können? Sie waren noch in ihren Dörfern zusammen, aus denen mittlerweile kleine Städtchen geworden waren, weil da noch Beamte und Kaufleute gekommen waren und Ingenieure und Werkmeister von außen her und alles solche Leute, die zum Grubenbetrieb gehören und die wie Fliegen auf dem Sirup sind, wird da ein neuer Schacht in Angriff genommen. Sie wohnten dort wie früher und seit alten Zeiten, aus denen noch die Truhen der Großväter zurückgeblieben waren, aber das Land hatten sie nicht mehr. Statt oben arbeiteten sie jetzt unten und zerstörten das oben, was ehemals ihnen Arbeit und Brot gegeben hatte. Das Land hatten die Gesellschaften so mit nebenher und für geringe Abfindung erworben. Denn was unten war, das Wertvolle im Vergleich zu der Krume oben, das hatte den Bauern ja doch niemals gehört, und das Land, wenn es überhaupt noch hielt, war gerade gut genug, die Halden darauf zu schütten. Bis auf die freien Strecken - viel waren es ja nicht, waren sie auch noch groß genug -, die der Großgrundbesitz, die eingesessenen adligen Familien sich erhalten oder zugepachtet hatten aus dem Gesellschaftsbesitz, um sie zu verwirtschaften. Denn die Gesellschaft konnte mit einem mal die ganze Fläche, die ihr jetzt gehörte, nicht brauchen, und selbst zu wirtschaften, dazu war sie nicht da. Aber die Gutsbesitzer machten damit gute Geschäfte, und sie mästeten sich für die Zeit, wo auch ihr Land gefressen werden würde. Die Arbeiter kümmerten sich wenig darum. Sie selbst gingen nicht auf die Güter, es wäre ihnen verächtlich vorgekommen. Von außerhalb ließ der Gutsherr Leute verschreiben, die er in Katen und Lehmhütten ansiedelte und über die er eine besondere Herrschaft ausübte. Diese Leute zählten für ihn nicht mehr als ein Stück Vieh, über das er im Geschäftsbuch Rechnung führte. Es versteht sich, dass diese unglücklichen Menschen ganz auf sich allein gestellt waren und nirgends etwas Anschluss fanden. Die Ansätze, die sie gemacht hatten, sich an die soziale Bewegung der Arbeiter anzuschließen, rottete meist der Herr mit Stumpf und Stiel aus. Es war gar nichts Seltenes, dass die Peitsche dabei ein Wort mitsprach. Es kam auch vor, dass ein besonders Aufgeregter das Jagdgewehr nahm und so einen Widerspenstigen von seinem Landvolk, wie er sie nannte, einfach niederschoss. Zum mindesten aber setzte er sie mit allem, was sie an Armseligkeiten hatten, kurzerhand auf die Straße und überließ sie ihrem Schicksal, das heißt: er lieferte sie den Gendarmen aus. Wie man sieht, setzt sich das Verständnis für die eigene Lage und für die der ändern bei den Unterdrückten sehr schwer durch. Es sind viele Widerstände zu überwinden, weil auch das Opfer, auf die Straße geworfen und ohne jeden Rückhalt zu sein, so schrecklich groß ist.
So zogen denn die Bergleute auch vorbei, ohne sich bei der Gruppe an der Station aufzuhalten. Die meisten sahen kaum richtig hin, streiften sie wohl mit einem schnellen Seitenblick. War eben etwas, das nicht zu ihnen gehörte. Trotzdem wurden ein paar Worte hin und her gewechselt, Antwort kann man schon geben. Es ist doch auch vielfach so, dass so ein Streckenarbeiter sich für eine Art Beamten dünkt und sich auf die Dauer und Sicherheit seiner Arbeit manchmal weiß Gott was zugute tut. Die Bahn selbst, das heißt der Staat, baut ihnen gelegentlich ihre Baracken oder gibt ihnen sonst später einen Posten, wo sie nichts tun, als, die Pfeife im Maul, dastehen und die Sperre auf und zu drehen, damit die, die gerade draußen stehen, sich recht darüber ärgern. Es kommt vor, dass manchmal der eine oder andere so über diese Bahnleute denkt. Hat sich aber auch schon vieles geändert darin. Und wie der eine Bahner jetzt nach der Stadt zu zeigt und fragen will, nicken sie mit dem Kopf, dass er schon gar nicht den Mund erst aufzutun braucht, und einer ruft: »Da gibt es jetzt Arbeit für uns.« Der Ruf bleibt in der Luft hängen. Näheres wissen sie sonst auch nicht. Aber sie halten sich nicht auf. Nicht einer ist nur einen Schritt zurückgeblieben. »Ja«, lachte der eine etwas stolz vor sich hin, »jetzt fangen wir an.« Und alle lachen vor sich hin. Es sind doch tüchtige Kerle, die Miner. denkt mancher aus der Gruppe, sie halten zusammen. Sie sind schon ein Ende weg, so dass man ihnen nicht mehr nachrufen kann. Sie gehen jeder für sich und doch wie auf Kommando in einem Takt. Die Leute an der Station sehen sich an und mühen sich um einen Gedanken, der sich nicht wegscheuchen lässt. Da gehen die ändern, bald sind sie auf der Höhe, dann werden sie verschwinden. Wie eine große Kraft ist es, die sie vorwärts drängt. Da bringt es einer doch heraus, es wäre doch schließlich eigentlich gut da, mit denen zu gehen und so und selbst mit zu sehen, was los ist und wie die Umstände da unten sind. Sie werden wohl jeden jetzt brauchen, bekräftigt ein anderer, und noch ehe die oben über den Berg sind, gehen schon ein paar hinterher. Es ist noch kein richtiger Tritt drin, etwas vorsichtig noch und schielen noch nach hinten, da setzen sich wieder zwei in Bewegung, und wie die vorderen stehen bleiben und warten, kommt auch der Rest mit den älteren Landarbeitern. Was sollen sie hier stehen und lauern, denken sie, nach Hause kommen sie noch immer früh genug. So setzt sich die zweite Gruppe in Bewegung. Man sieht, sie haben es noch nicht sehr eilig, und wer sie da gehen sieht, hält sie für Neugierige und Zuschauer, die sich von ferne was ansehen wollen. Aber es ist nicht so. Jeder trägt etwas mit sich, das plötzlich aufgeweckt und lebendig geworden ist, eine Hoffnung, die sich jetzt erst heraustraut: Sollte es doch mal gelingen, was zustande zu bringen und ein anderes Leben ringsum anzufangen - dass die drin in der Stadt jetzt was schaffen, das Bestand hat, so dass alles ins Rollen kommt und von Grund auf andere Zustände werden? Das hat sie jetzt fest gepackt, so fest, dass sie es nicht mehr loslässt. Und sie sprechen sich untereinander zu, dass das Fünkchen jener Hoffnung nicht sogleich verlischt. Wer weiß, wozu man seine Knochen noch verwenden kann, das gibt schon Mut und ein gut Teil Sicherheit, und der Blick ist schon freier.
Nur die Frauen sind zurückgeblieben. Sie lassen es über sich ergehen. Sie haben den ganzen Tag die schwere Feldarbeit und sollen auch zu Hause noch alles in Ordnung halten. Das macht müde und stumpft ab. »Was soll bloß noch werden«, sagt die eine, »die Menschen sind ja rein toll aufeinander« -und sie drückt das Kleine, das zu wimmern anfängt, bald wird es schreien, fester an sich.
Das waren nicht die einzigen Trupps, die nach der Stadt zogen. Sie sahen jetzt noch welche längs des Bahndamms kommen. Noch ein ganzes Stück von den ersten Häusern ab stand ein Mann mitten auf den Gleisen. Dort war das Stellwerk gesprengt. Der Mann hatte, und das gab allerhand zu denken, ein Gewehr umgehängt. Es wurde Ernst. Der Mann stand Posten. Von einer anderen Gruppe traten ein paar zu ihm und fragten. Es mochten welche sein, die ihn kannten, vielleicht aus der gleichen Schicht.
Denn das war bald rum, der Mann war einer aus dem Hüttenwerk von drin. Um die Mittagsstunde hatte es überall geheißen, die Streikenden sollen sich bewaffnen. Dann waren sie eingeteilt worden. Er stand vorläufig hier draußen, um auf den Weg zu sehen und die Bahnlinie. Aber sein Blickfeld ging nicht gerade weit. »Wenn sie mit Autos kommen, siehst du gar nichts erst«, sagten einige. Sie standen jetzt alle im großen Halbkreis um den Posten herum. Der schien nicht gerade zum Reden aufgelegt, aber er ließ sich gern anstaunen. Denen, die ihn mit Namen kannten, gab er kurzen Bescheid. Am Bahnhof wäre gesprengt worden. Es hieß, Truppen wären im Anmarsch. Die Nachricht ist eben gekommen, dass sie noch gut fünfzig Kilometer weit auf der Bahn stehen und noch nicht mal auswaggoniert sind. Der Weg wird ihnen versperrt werden. Überall sind schon Boten unterwegs. Und in die Stadt kommen sie nicht rein, das ist sicher - bekräftigte der Mann. Das waren alles viele Nachrichten auf einmal. Aber wie das so gekommen wäre, darüber zuckte der Mann bloß die Achseln. Er wies sie nach einem Wirtshaus drinnen, das einen großen Garten hätte. Alle kannten das Haus. Dort sind sie versammelt, die unsrigen, unser Stab. »Geht dorthin«, sagte er und ging wieder auf und ab, als erinnerte er sich, dass er militärische Pflichten zu erfüllen habe. Er ließ die Leute, die noch unschlüssig waren, einfach stehen. Die ändern, die schon zu einem ganz ansehnlichen Haufen angeschwollen waren, zogen ab.
Immer näher kamen sie an die Stadt, die ersten Häuser lagen totenstill und wie verlassen. Man hätte gern noch wen um Näheres gefragt. Dann rückten die Häuser dichter zusammen. Eine Gasse tat sich auf. Während sie dröhnend durchschritten, hob sich der Knall einer Explosion wieder in die Luft. Es bebte über sie hin, und es war, als ob die Sonne, die schon schräg stand, zitterte.

Aus dem Garten quoll Geschrei, Lärm, Rufe: Hurra! Zu Hunderten standen sie dort, zu Tausenden. Dort war die ganze Stadt versammelt. Auch der angebaute große Tanzsaal war gedrängt voll. Vorn auf dem Podium standen welche, einer, der redete und in die Masse hineinschrie. Die meisten konnten es nicht verstehen. Auch im Garten vom Pavillon aus sprach einer. Und immer neue Züge strömten hinein. Die Menge wuchs und wogte und ballte sich mehr zusammen. An der Seite längs der Kegelbahn war ein ständiges Kommen und Gehen. Dort drinnen saß der Stab. Leute mit Gewehren standen vor der Tür und ließen nicht so leicht jemanden hinein. Vorn hatten sie einen Tisch aufgestellt, auf dem lag eine Liste, dort schrieb man sich ein. Diese Leute wurden dann weggeschickt. Das waren die, die mit der Waffe kämpfen wollten. Die meisten hatten das Gewehr vergraben, diese rannten nach Hause. Man vermutete Waffen in den Werkstattschuppen, in den Direktionsgebäuden. Züge wurden eingeteilt, die dort eindringen und nachsuchen sollten. Welche waren dafür, aus den Bürgern Geiseln zu nehmen. Man fand nur keine geeigneten. Denn die Stadt, das waren die Arbeiter selbst. Es gab fast keine ändern Leute. Ein paar höhere Beamte in den Werken, aber es war nicht mal sicher, ob sie noch in der Stadt geblieben waren oder noch im Werk saßen - man brauchte sie auch vielleicht. Reiche Kaufleute gab es nicht, ein paar Filialen zwar, aus der nächsten Großstadt herübergekommen. Einige Invaliden, Frauen von Leuten, die verunglückt waren in der Grube, hatten einen kleinen Laden aufgemacht. - Der Gedanke der Geiseln wurde bald verworfen. Apotheker und Arzt konnte man so verwenden. Davon sprach und flüsterte man in jeder Ecke. Der Stab saß und machte sich Gedanken. Es waren so wenig Waffen. Kaum ein paar Dutzend Gewehre wird man zusammenbringen können. Bis die ändern eingreifen wenigstens, so lange müssen wir uns halten — das war die Regel. Die ändern, irgendwer und von irgendwoher, das war das Wort, das überall und immer wiederkehrte. Der Stab sozusagen, dieser Stab hatte sich in den Stunden vorher, als der Lärm auf den Straßen und vor allem auf dem Marktplatz immer größer geworden war, aus sich selbst heraus gebildet. Ein paar tatkräftige Leute, die schon in den Monaten und Jahren vorher in der politischen Bewegung, in den Quengeleien und Nörgeleien mit der Gesellschaft sich hervorgetan hatten, dass sie den Blick dafür hatten, worauf es ankam - solche Leute hatten die Massen nach dem Lokal abgedrängt. Erst musste man wissen, was sie überhaupt wollten, hatte einer geschrieen. Er hat recht behalten, die Masse ist ihm nach. Denn auf dem Marktplatz war es nicht gerade geheuer. Seit einigen Tagen lagen Polizeisoldaten in der Stadt. Die waren gekommen, als der Streik gerade drohte. Da waren eine Masse Forderungen, aber davon später. Das hatte den Streik natürlich vom Zaun gebrochen. Die Soldaten, so an zweihundert Mann, schwer bewaffnet, lagen in der Schule. Gerade dem Rathaus gegenüber. Es war schon der achte Streiktag und kein Ende abzusehen, denn der Streik ging gleich von Anfang an gegen die Soldaten. Abzug! Aber diese Söldner, die die Regierung für die Grubenherren geschickt hätte, richteten sich häuslich ein. Die Schule wurde zur Festung, diesen Mittag wurde der ganze Platz ringsum mit Stacheldraht abgesperrt, Maschinengewehre in Stellung gebracht. Das ließ die Wut explodieren. Der Bürgermeister, der ja ihr Mann war, den sie gewählt hatten, zuckte die Achseln. Er war drin in der Schule gewesen zum Verhandeln. Aber der Major hätte ihn hart angefahren. Und die Stimmung draußen war auch nicht einheitlich. Manche hätten ganz gern wieder einfahren wollen. Es gab sogar welche, die das offen aussprachen. Ja, es hieß, dass in der Hütte seit heute morgen so an dreihundert Mann arbeiten. Ebenso arbeitet die elektrische Zentrale wieder. Der politischen Führung glitt zusehends das Heft aus der Hand. Der Stab sollte die Sache in Gang bringen. Ja, der Stab, die Soldaten saßen im Sichern, in den Löchern, und kamen nicht raus. Einzelne, ein paar abschießen, das wäre dann langsam weitergegangen. Die Massen wollten Antwort haben, jetzt klipp und klar, was werden sollte. Es war verteufelt, dass man auch nichts wusste, was draußen im Lande vor sich ging. Ob sie hier auch wirklich unterstützt werden würden. Inzwischen kamen Radfahrer aus der Sprengstoffabrik mit Material. Die Fabrik stand. Die Arbeiter hätten den Betrieb besetzt und erwarteten Weisungen. Das erste Hurra stieg. Das hatte mit den Ausschlag gegeben. Aber es war noch kein Schuss gefallen. Die Grünen ließen sich nicht sehen. Soll man warten, bis sie auf die Menge schießen — so waren sie abgezogen. Die Einteilungen hatten begonnen. Radfahrer waren rings in den Orten unterwegs. Und dann kamen die ersten Gerüchte. Da Truppen, dort Gendarmen, dort wird gearbeitet. Man will was zu tun haben, heißt das, gebt Aufträge. Teile gingen auf eigene Faust los. Die feste Hand musste kommen. Dann flog der Bahnhof in die Luft, eine große Brücke, deren Steinpfeiler zusammenfiel wie ein Streichholz - es war endlich Ernst. Jetzt Waffen heraus!
Und die Massen im Saal wuchsen und drängten. Der eine Redner sagte das, der andere jenes. Viel hatten sie alle nicht zu sagen. Nur los jetzt, jetzt kein Zaudern, kein Zurück! Die Masse fieberte. Es war keiner, der nicht gewusst hätte, worum es ging. Keiner, der nicht voll und ganz dabei war. Aufgepeitscht war die Masse. Setzte sich in Bewegung.

Unheimlich lag die Gasse, durch die sich der Strom hindurchwälzte. Die Häuser standen in banger Erwartung, krochen ordentlich noch mehr zusammen. Man wollte zum Bahnhof. Von dort aus sich nach den Gruben verteilen. Ein starker Trupp sollte zur chemischen Fabrik. Die war überhaupt noch nicht vom Streik berührt. Einige fingen an zu singen. Aber es hieß, man soll still sein. Erst Waffen haben, bald kommen die unsrigen - sie fluteten die Straße lang. Die Dämmerung verkroch sich gerade. Da - das Bogenlicht blitzte auf - die Zentrale arbeitete noch. Mancher, der vielleicht die Faust ballen wollte, war sich nicht recht klar im Augenblick, Licht - Licht brauchen wir auch, aber allerdings und so - dann trieb ihn der Strom weiter. Weiter und mit, keine unnützen Gedanken. Über den Marktplatz. Alles lag dunkel. Ein Stoß, Sturm auf die Schule - dann hätte man alles gehabt. Fand sich keiner, der mitriss. Vom Bahnhof staute es schon zurück. Dort war abgesperrt. Aber die unsrigen, hieß es. Die Postenketten der Arbeiter wurden sichtbar. Es ging also vorwärts, viele atmeten ordentlich auf. Man organisierte sich also, so musste es auch sein, nicht blindlings - da krachte weiter vorn schon eine Tür und splitterte. Ach, das Postamt. Es war noch ein neues und ziemlich protziges Gebäude, was die Regierung ihnen hingesetzt hatte. Etwas zu groß für den Arbeiterverkehr. Aber die Telegramme nach den Banken und an die Börse wurden ja auch hier aufgegeben. Das Ding stand wie im Wege. Schon waren die ersten drin. Von Widerstand keine Rede. Ein zitternder Postgehilfe. Einer vorneweg erinnerte sich, dass der Postmensch immer was Besseres zu sein herausgekehrt hatte. Er hieb ihm eine schallende Ohrfeige und trat ihn dem Hintermann zu, der ihn an die Luft beförderte. Einer bedauerte, den Sekretär nicht zu treffen. Der Sekretär war verhasst. Die meisten kannten ihn nicht. Das ist einer, der auf die Arbeiter schimpft. Immer mehr Menschen drängen nach. Suchen nach Waffen. Der Schalter geht zum Teufel. Einer fasst nach einer Briefmarkenmappe. Der Fächerkasten bricht auseinander. Dann klirren die Scheiben - bis sich welche durchdrängen, von den Bewaffneten welche, und alle hinaustreiben. Ordnung muss sein. Lasst uns einteilen, heißt es. Die Menge zieht ab. Zieht noch da und dort hin. Geräusch wird zu Gemurmel. Es verliert sich alles. Die Nacht ist unheimlich dunkel. Jetzt ist auch das Lampenlicht verlöscht. Oben der Postmeister im ersten Stock atmet noch schwer. Es hatte ihm an den Kragen gehen können.

Es ereignete sich noch mancherlei in dieser Nacht. Mehrere Schächte, in denen die Abendschicht wieder angefahren war, wurden stillgelegt. Die Streikbrecher folgten der Aufforderung herauszugehen willig und ohne Widerrede. Die meisten hatten damit gerechnet, und nur um zu Hause Ruhe zu haben, sagten sie, wären sie hingegangen. Wäre das Tor verschlossen gewesen oder Posten davor, wären sie gleich wieder umgekehrt. Die elektrische Zentrale, die auch in den Gruben ringsum die Pumpen antrieb, wurde durch Überfall genommen. Es hieß, dass die Werkpolizei sich mit Gewalt der Stilllegung widersetzen würde. Aber die Arbeiter waren drin, ehe noch an Widerstand zu denken war. Es lief völlig glatt ab. Eine Wache wurde zurückgelassen. Dagegen machten die Werkmeister in der Hütte, wo auf einem Block fast voll gearbeitet wurde, Schwierigkeiten. Sie wollten verhandeln, und der Trupp, der eingedrungen war, ließ sich auch darauf ein. Man wollte telefonieren, aus dem Kontrollhaus nebenan kamen ein paar Beamte. Es war zu merken, dass diese Leute das Blatt bald umdrehen würden. Die Arbeitenden ließen sich nicht sehen; schämten sie sich oder fiel nur wie zum Hohn gerade ein Hammerschlag - jedenfalls äugten die Werkmeister ständig nach draußen, wo die Unterstützung kommen sollte. Die Lage war kritisch. Da sprang einer aus der Gruppe auf einen dieser Leuteschinder zu, kriegte ihn an der Gurgel zu fassen, und ehe noch die ändern zuspringen konnten, lag er schon draußen auf dem Hof. Wie sich jetzt auch die Beamten einmischen wollten, wurde die Wut lebendig. Die Streiker ergriffen, was sie gerade unter die Finger kriegten. Die Holzerei war schon im Gange und sehr zuungunsten der Meister, als die Leute vom Block erschienen und den Frieden herstellten. Sie ließen alles stehen und gingen mit. Dem Beamtenhaus wurden beim Abzug die Scheiben eingeworfen.
Dagegen wurde durch Handstreich von den Polizeitruppen die Post wiedergenommen. Der Major musste sich in dem Gebäude einen besonders notwendigen und wichtigen Stützpunkt vorgestellt haben. Während er sonst mäuschenstill in seinem Bau saß, auf die dringendsten Telefonate der Grubenleitungen, denen er sich direkt hatte anschließen lassen, nichts unternahm, ließ er einen Trupp mit Maschinengewehren in den ersten Morgenstunden das ausgeräumte Postkontor, das ohne Wachen war, besetzen und in Verteidigungszustand bringen. Das gleiche geschah mit dem Rathaus und noch an zwei Stellen der Stadt, wo er Maschinengewehre anlegen ließ, so dass er die ganze Stadt ständig bestreichen und unter Feuer halten konnte. Er hatte sich damit, ohne dass ihm Widerstand geleistet wurde, zweifellos einen bedeutenden Vorteil verschafft. Bis weit in den Vormittag des nächsten Tages hinein blieb alles ruhig. Es fiel kein Schuss.
Wieder hatten sich Hunderte in dem Wirtsgarten versammelt. Dort saß auch noch der Stab. Von draußen keine Nachricht. Zwar standen jetzt alle Betriebe still. Auch die Grubenbahn war gesprengt und einige Waggons quer über die Schienen geworfen. Solche Nachrichten liefen ein. Aber man wartete und wartete. Es wurde immer deutlicher, dass sich keiner im Grunde genommen mehr Rat wusste. Auf den Gedanken, ihrerseits anzugreifen, kamen sie nicht.
Da griffen so um die Mittagsstunde die Grünen an. Der Major mochte Wind bekommen haben. Im Nu waren sie aus der Schule raus und über den Marktplatz und im Sturm die Gasse hinauf nach dem Hauptquartier der Streikenden. Eine Truppe blieb zurück und sperrte den Marktplatz ab. Da fielen auch schon die ersten Schüsse. In schrecklicher Verwirrung lief im Garten alles durcheinander. »Sie kommen, sie kommen«, wurde geschrieen. Wachmannschaften, die auf die Straße gestürzt waren, um zu sehen, bekamen die ersten Kugeln um die Ohren. Es war wie im Kriege, es pfiff sich leise ran, das Geschoß, dann wurde es dichter, wie wenn man Erbsen in der Trommel hat. Oho - das Gewehr von der Schulter und in Anschlag. Ein alter Mann, der immer so nebenbei gestanden hatte, riss einem jungen Kerl das Gewehr weg. Der wollte gerade damit ausreißen. Und kniete sich hin, langsam und bedächtig, und schoss jetzt auf die Grünen, die, von Haus zu Haus Deckung suchend, sich unaufhörlich nach vorn entwickelten. Von oben, von der Anhöhe zur ändern Seite, knallte es auch. Da schrie einer: »Draußen sammeln, alle raus aufs Feld.« Die Masse stob auseinander. Die Gasse, ihrem Ausgang zu. Über Zäune in den Hof hinein und in die Häuser. Die Türen waren klein und schmal. Hinterrücks pfiffen und prasselten die Projektile. Welche stürmten den Berg hinauf. Welche schleppten noch Kasten mit Gewehrmunition mit. Viele Rahmen blieben auf der Straße liegen. Die Feuerwaffen bekamen sie zwar alle mit, aber die wenigsten hatten Munition. Rein in die Häuser - das war Befehl der Grünen. In weniger als einer Minute war alles leer. Die Kommandos der Grünen kamen schärfer und schwollen an. Sie stürmten jetzt nach oben durch die Straßen in viele Einzeltrupps geteilt. Von den Dächern fielen Schüsse. Aber der ganze obere Stadtteil war in den Händen der Soldaten. Die Leute waren zum allergrößten Teil zersprengt, aus dem Zusammenhang gerissen. Hatten das beste verloren, was sie waren: Masse! Wo noch die Kugel pfiff, da zuckte man zusammen und duckte sich.
Damit war der Kampf um die Macht in der Stadt schon entschieden.

Tote und Verwundete. Ein Mann, der vom Giebelfenster aus nach der Straße sah, ein zittriger Greis, bekam einen Schuss durchs Kinn ins Hirn und fiel hintenüber. Eine Frau wurde im Laufen niedergestreckt und blieb mitten auf der Straße liegen. Ein junger Bengel krümmte sich an einer Hauswand, hielt sich krampfhaft hoch und fing an zu schreien und zu rufen. In den Häusern drin hockten die Menschen schweigend. Flüchtende flüsterten im Hausflur. Es war, als ob den Leuten die Sprache verschlagen wäre. Dann begannen die Kinder zu weinen. Das Wasser dampfte noch auf dem Herd. Es war doch Mittagszeit. Draußen vorm Fenster huschten noch die Schatten der Grünen. Es gab jedes Mal einen Ruck bis in die Knochen. Wenn sie jetzt reinkommen und auf die Menschen los - sie ducken sich. Man rief sich von den Dächern aus zu. In ein Haus wären sie eingedrungen, dort hätte jemand herausgeschossen. Sie wollen das Haus in Brand stecken, die Türen einschlagen, die Kinder mit dem Kolben rausgejagt, Gefangene fortgeführt - und ein tiefer Seufzer ging durch die Menschen. Die Männer saßen scheu und in sich gekehrt, wie verstört. Die Frauen hielten sich tapfer, herrlich unter der Wucht dieser Verzweiflung, die hereinbrechen wollte. Und auch diejenigen, die am liebsten ihre Männer noch zur Arbeit getrieben hätten und die ganze Woche schon ein sehr böses Gesicht aufgesetzt hatten, mischten sich jetzt ein: Wer hat denn die Grünen hergerufen, kein Mensch, alles war friedlich, was kommen sie denn, diese Hunde, uns auf den Hals - bloß in die Finger kriegen so einen Kerl, lässt sich vom Staat rausfressen, wir müssen's bezahlen, dass er dann auf uns schießt, Lump, elendiger. Und während sie die Kinder zur Ruhe wiesen und am Herd wieder anfingen zu hantieren oder die Suppe auf den Tisch zu stellen, sah man, dass die Frauen besser kämpfen würden, überlegter und entschlossener. Dieser Zug von zäher Energie um den Mund, den die Menschen haben, die sich sehr quälen müssen im Leben und doch nur Zank und Streit ernten, und die Angst, nicht genug zum Leben zu haben, diese Verbitterung wird noch einmal einen ganz anders gearteten Kampf um die Macht auslösen. Bis das Mütterliche die Oberhand gewann. Und auch den Zweifel unterdrückte: Was soll werden, nun werden sie vielleicht ganz auf die Straße geworfen. Sie waren doch zusammen und gehörten zusammen und wollten schon alles mittragen und helfen. Und eine ruhige Stimmung kam auf, wohltuend wie ein kühler Trunk für den Verdurstenden. Die meisten machten sich jetzt hungrig von dem ungewohnten Stehen ans Mittagessen. Was wird, das wird sich finden - auch hatte das Schießen nachgelassen. In einem der Häuschen musste der Mann verbunden werden. Schuss im Oberarm. Die Frau, vergrämt und gebeugt, obwohl noch jung, wusch die Wunde. Es war ihr sicher mehr zum Weinen, obwohl die Mundwinkel in Verbitterung zuckten und alles das von sich gegeben hätten, wovon das Herz überlief. Aber sie beherrschte sich. Sie sagte nur ruhig: »Nun bist du schon ein halbes Jahr arbeitslos wegen der Brust, und es will nicht besser werden. Jetzt auch das noch. War ich nur lieber für dich gegangen.« - Und der Mann hustete schwer, wie um es zu bekräftigen. Die Grubenkrankheit hatte ihm große rote Flecken auf die Wangen gemalt.

Die Grünen waren zunächst verschwunden. Unten am Markt hatten sie vom Bahnhof her Feuer bekommen, und auch einen Toten und Verwundete. Diese Ecke blieb den Streikern erhalten. Dorthin kam jetzt auch Zuzug. Welche, die über die Höhe hintenrum sich durchgeschlagen hatten. Welche, die von außerhalb kamen, Leute, die gestern den Versammlungen beigewohnt hatten, nach Hause gegangen waren und heute wiederkamen, um weiter mitzumachen. Von dort wurde der Markt unter Feuer genommen, und der Major, der seine Mannschaften in alle Winde zerstreut hatte, hielt es für das beste, sie in der Schule wieder zu sammeln. So verschwanden die Grünen wieder aus den Straßen. Aber die Arbeiter kamen zum größten Teil nicht mehr aus den Häusern raus.
Der Stab war zersprengt. Am Bahnhof bildete sich ein neuer. Auch die politische Führung fand sich dort ein. Dort stand die Wut wie eine Wolke über der Stadt. Kein Plan mehr, kein Ziel, nur wild lodernde Wut. Von der Gegend ringsum, aus den Nachbarstädten kam noch immer keine Nachricht. Sie richteten sich auf militärische Verteidigung. Barrikaden, Laufgräben, auf den Höhen oben konnte man sich vielleicht halten. Die Schule und der Markt ließen sich von oben bestreichen. Ab und zu fiel ein Schuss. Für den Major schien es ratsamer, in seiner Festung zu bleiben und die Verstärkung abzuwarten. Den Hauptteil der Stadt hielt er ja auch noch sicher. Aber alle fühlten, es muss was geschehen. Dann hieß es, es sind Arbeiter bewaffnet unterwegs aus dem größeren Nachbarort. Die Zeit verstrich. Soll man angreifen - da meldeten sich welche, die Sparkasse zu sprengen. Dort waren allerdings keine Grünen, sie lag auch nicht direkt im Feuerbereich der Schule. Die Leute zogen hin, schlugen die Tür ein und sprengten das Gebäude, nachdem sie den Rendanten mit seiner Familie an die Luft gesetzt hatten. Sie wurden nicht gestört. Der eine Pfeiler des nur einstöckigen Hauses bog sich nach vorn, wodurch der Giebel schräg hinüberrutschte. Das Haus hing gerade noch so in der Luft. Unten war alles ein Trümmerhaufen. Die Explosion ließ Freund wie Feind hochfahren. Der Kampf war also noch nicht entschieden. Eine neue Phase bereitete sich vor. Der Kampfleitung wurden als Ergebnis einige tausend Mark eingebracht, die als Löhnung verwendet werden sollten. Listen wurden ausgefertigt, und eine Rendantur war im Entstehen. In einem Haus dicht am Bahnhof wurde für die Arbeiter Kaffee gekocht.

In den Abendstunden waren die Arbeiter aus der Stadt vertrieben. Auf der Kreischaussee waren einige Panzerautos im Anrasen. Man wird ihnen den Weg doch nicht sperren können, war die allgemeine Ansicht. Also zogen die bewaffneten Leute über die Höhen hinweg aus der Stadt ab. »Draußen fassen sie uns nicht so leicht.« Das Panzerauto kam unbehelligt nach der Stadt. Die ändern verkrochen sich wieder in die Häuser. Die Polizeitruppen waren jedoch wenig sicher. Würde noch ein Angriff folgen, war der Abzug nur Finte - der Major hatte unangenehme Stunden hinter sich. Als auf seine erste Kraftprobe hin der sichtbare Erfolg sich nicht eingestellt hatte, waren seine Leute unruhig geworden. Ein Gefangener, den er in die Schule mitgenommen hatte, hat davon später berichtet. Solche Söldnertruppen spalten sich sehr schnell in zwei Teile. Die einen, das sind diejenigen, die angelockt durch guten Lohn und wenig Arbeit mitmachen, solange es noch weiter nicht gefährlich ist, Leute, die stupid den Tag vor sich hinleben, wenn es nur gut zu saufen und zu fressen gibt. Die ändern aber sind gelernte Schinder. Sie unterscheiden sich nicht viel von den Hunden, die man auf den Mann dressiert. So werden diese Leute auf die Arbeiter abgerichtet. Viele haben sich schon Mühe damit gegeben, eine richtige Erklärung zu finden, was diese Menschen eigentlich zu ihrem Schlächterhandwerk treibt. Sie sind nicht zu gebrauchen, pflegen die Offiziere zu sagen, erst müssen sie Blut sehen. Dann lasst man sie los - wie die wilden Tiere stürzen sie sich auf ihre Opfer. Die meisten Menschen empfinden das noch nicht richtig. Eine gewisse ganz allgemein menschliche Art sieht in dem Gegner noch immer den Menschen und Artgenossen. Die Überfallenen wehren sich nicht entsprechend. Man betrachtet das noch als ein Spiel, bei dem man gerade die Partie verloren hat. Solche Leute würden sich ganz anders wehren, wenn sie ein Raubtier oder einen tollen Hund vor sich sehen. Den schlägt man einfach tot, Knüppel übern Schädel. Und in jedem Falle, man wartet doch nicht erst, bis er angreift. Die Regierung hat solche Kreaturen zu einer Truppe gesammelt. Viele sind darunter, die in Afrika damals die Neger und Hottentotten gejagt haben. Das haben sie einen Feldzug genannt damals - als man den friedlichen Bewohnern einfach ihre Herden wegnahm, um sie zur Arbeit am Bahnbau zu pressen, und höchst überrascht war, dass einige darunter waren, die sich zur Wehr setzten. Es gibt heute noch in Deutschland eine nicht zu knappe Anzahl Leute, die das nicht begreifen können. Man spricht von den schwarzen Räubern und Banditen, dem hinterlistigen Viehzeug, das erschlagen und aufgehangen werden muss. Diese Meinung jetzt auf die Arbeiter zu übertragen, ist erwünscht und unsern Afrikanern ein leichtes. Liegt doch die Situation auch völlig gleich.
Aber nicht davon, sondern: der Major hatte peinliche Stunden. Der erste Tote bringt immer einen Rückschlag in die Stimmung. Das Feuer der ersten Begeisterung verrauscht, es ging also doch nicht alles so leicht. Manche erinnerten sich an Frau und Kind zu Hause; dachten daran, dass sie gar nicht so besonders gestellt waren, sich dafür die Knochen kaputt schießen zu lassen. Wenn die Suppe brenzlich wurde, mochten sie die Herren allein auslöffeln. Der Major hatte das schon kennen gelernt, es bilden sich dann Gruppen, die untereinander die Köpfe zusammenstecken. Dann fehlt bloß noch ein starker Stoß von draußen, und es läuft alles. Das wichtigste war, sie jetzt nicht zu reizen, keine Befehle und so etwas. Diese Stimmung war in der Schule. Die Aufnahme des Feuers, die Sprengung ließ sie noch höher steigen. Welche waren darunter, die den Gedanken ernstlich erwogen, um Abzug zu bitten. Außerdem waren sie doch nur angestellt, konnten jederzeit die Stellung aufgeben, als neutraler Mann nach Hause gehen - der Major ließ sich nicht sehen. Welche sagten, was nützt es; wenn die mal erst hier reinkommen, sind wir alle hin. Aber das bezweifelten auch andere wieder. Wieso, wenn wir uns neutral erklären, die Waffen ausliefern - wir sind doch auch nur Arbeiter. Und nicht nur im Grunde genommen, die meisten waren noch gar nicht so lange auch direkt aus der Werkstatt erst weg. Die Stimmung war mächtig gedrückt bei den Grünen, erzählte später einer, den sie wieder laufen gelassen hatten. Sie seien drin gut behandelt worden, eigentlich hätte man sich gar nicht um sie gekümmert. Man vergisst auch, dass die Bluthunde drunter sehr feig sind. Sie müssen in der Überzahl sein, wenn sie vorgehen, und der Widerstand gering. Es muss mehr so eine Art Kesseltreiben sein, wie bei den Hereros, wenn die Sache Spaß machen soll. In ändern Fällen ist auch auf diese wenig Verlass. Ja, so war das dort in der Schule. Man weiß nicht, was noch hätte geschehen können, wenn -aber die Arbeiter zogen ab. Und durch das Panzerauto war auch die Verbindung mit draußen wieder da. Die Krise ging vorbei. In der Stadt selbst rührte sich nichts mehr. In den Abendstunden holte der Major aus einer Anzahl Häuser die Männer als Gefangene heraus. Als Geiseln für den Fall eines Überfalls in der Nacht. Es war klar, der Widerstand war gebrochen. Der Major bekam seine Leute wieder fest in die Hand.

Währenddessen zogen die Streikenden von der Höhe aus ins Land hinein. Sie marschierten zwischen den hohen Schlackenbergen hindurch, auf die die wieder aufgekommene Sonne einen metallischen Glanz warf, als lägen das Silber und Kupfer noch tonnenweise darin. Den ganzen Tag war der Himmel bedeckt gewesen, wie zum Hohn kam jetzt die Sonne durch. In der Ebene war kein Laut. Von der Ferne sahen sie die Schornsteine der chemischen Fabriken. Das Werk lag still. Kein Rauch verriet mehr ringsum, dass irgendwo noch gearbeitet wurde. Aber auf den Wiesen, die hinter den Halden lagen, krochen noch Menschen herum. Ein Knecht fuhr einen Wagen den Feldrain entlang, als wäre der Frieden in höchsteigener Person ins Land gekommen. Dorthin nahmen sie Richtung. Sie schrieen schon vorher und wussten sich bemerkbar zu machen, so dass die Leute, die auf dem Felde noch arbeiteten, ungefähr die Lage für sich überschauen konnten, und sie rissen schleunigst aus. Nur der Knecht versah sich nichts Arges. Den bekamen sie schließlich zu fassen, und ehe er noch das Maul auftun konnte, hatten sie ihn von seinem Sitz gezogen und prügelten ihn gehörig durch, dass der gar nicht mehr wusste, ob er weitergehen oder gleich liegen bleiben sollte. Ein paar machten sich über den Wagen her und hieben ihn in Stücke. Das Pferd bekam einen Klaps, dass es wie toll in die Felder hineingaloppierte. Dann zogen sie weiter, der Knecht hinkte hinterher. Der Mann hatte Furcht, sich allein bei dem Gutsherrn sehen zu lassen. Und er begriff auch noch nicht recht, was die Arbeiter von ihm gewollt hatten. Das beste war also schon, er schloss sich denen da an. Es hieß, sie werden alle, die noch Waffen haben, mobilisieren. Wir holen sie jetzt aus ihren Lochern heraus, rief man, und der Zug sollte sich von Dorf zu Dorf bewegen und die Kameraden wachrufen. Dann wollte man zurückkommen. Unterwegs stießen sie auf einige, die die Nachricht brachten, dass der Gutsherr seine Leute bewaffne. Da ist was zu holen, hieß es. Es war noch alles in Sonne gehüllt, als sie das große Gutshaus von weitem Hegen sahen. Zwischen den großen Scheunen sahen sie Leute gehen, die sich geschäftig zu tun machten. Und auf einmal war es aufgekommen, dem Fresssack muss man einen Denkzettel geben. Das ging wie Feuer durchs Blut. Auch waren sie über fünfzig Mann noch und alle bewaffnet, und noch gut fünfzig Mitläufer, wenn man alles zusammenzählte. Weiß keiner eigentlich, wie das gekommen ist plötzlich, wie die Rasenden sind sie auf den Hof los. Dort hat ein Eleve mit dem Gewehr gestanden und Schaffer und Melker und zwei alte Feldhüter, die sich aber kaum auf den zittrigen Beinen halten konnten. Aber denen war die Lust zum Schießen vergangen. Sie liefen, was sie konnten. Der Eleve hatte wohl schon die Büchse im Anschlag, wurde ihm aber bald weggeschlagen. Dann begann das Suchen nach Waffen, und tatsächlich holten sie einige Maschinengewehre auch raus. Der Eleve lag mit einem Loch im Kopf im Hausflur des Wirtschaftshauses. Der Herr war nicht zu finden. Die Tagelöhner hatten auch Reißaus genommen. Die Wagen wurden aus der Remise gezogen, Pferde vor und Leute drauf und nach den nächsten Dörfern geschickt. Es fanden sich auch noch andere Schusswaffen. Es war, als ob sich das Blatt jetzt wenden sollte. Allen stand der Sieg auf der Stirn geschrieben: Jetzt weiter, die erste Festung ist gefallen. Aber es ärgerte sie, dass sie den alten Teufel nicht erwischen konnten. Den hätten sie aufgehangen, schworen sie. Das war so ein richtiger Arbeiterfresser, so ein abgedankter Offizier, der sich noch beim Kommis dünkt. Über den Mann waren viele Gerüchte im Umlauf. Obwohl ihn eigentlich kaum einer schon gesehen hatte. Es hieß, dass er einen besonderen Bürgerbund hier in der Gegend gegen die Arbeiter mitbegründet hätte. Das war auch der Mann, der auf die Leute schießen ließ, die mal für ihre Ziege von der Wiese ein wenig Gras holen wollten. Das Haus war verschlossen. Man sah auch, dass alle Fenster dicht waren. Sicher war die Herrschaft verreist, war schon ein paar Tage früher ausgerissen. Ins Herrenhaus wollten sie nicht, haben da drinnen nichts zu suchen, sagte man. Aber die Erntemaschinen und das viele Gerät, das allenthalben rumlag, trugen sie auf einen Haufen. Wurde auch manches nicht sanft angefasst. Das wollten sie mit fortschaffen. Dann schlug einer vor, ein paar Stallungen anzuzünden. Den Park wollten sie niederlegen. Es war ein ziemlich großer Tiergarten, der ihnen in die Augen fiel. Sie wollten sich im Gut festsetzen, sozusagen als Hauptquartier, es verschanzen und alles was sonst zur Verteidigung nötig war. Es war ein ewiges Hin und Her. Auch ein paar Tagelöhner und hauptsächlich die Weiber hatten sich wieder herangetraut. Die staunten und tauten jetzt etwas auf. Sie kamen ins Sprechen miteinander. Wie steht's denn, was soll denn werden, ist denn schon eine neue Regierung - ja, mancher kraute sich am Kopf. Streik ist, hieß es, bald aber auch: Wir sind jetzt die Macht, das wird sich alles noch finden, wir sind erst am Anfang. Da fielen von der Sprengstoffabrik her Schüsse. Die Fabrik lag in einer Talmulde, ein paar Kilometer weit weg. Man konnte sie nicht sehen. Aber die Richtung konnte nur die Fabrik sein. Man hörte jetzt deutlich hintereinander Gewehrfeuer. Der Kampf geht los, dort schießen sie - alle wie im Taumel. Dorthin - hieß es. Aber es fieberte in ihnen, endlich ihre Wut auszulassen. Sie rissen Zäune nieder, Bretterverschläge. Schlugen auf die Maschinen los. Und einer schmiss eine Handgranate ins Herrenhaus, Sie zogen schon ab. Aber es deuchte ihnen noch zu wenig. Die Weiber waren schreiend weggelaufen. Es zog welche doch immer wieder zum Hause. Soll man es in Brand stecken, die Scheunen. - Schließlich brachten sie eine Sprengung an. Das Haus stürzte zusammen wie ein Kartenhaus. Die Pfeiler blieben nur stehen und die eine Seitenwand.

Währenddem, während noch von der Explosion die Luft nachzitterte und das Gewehrfeuer anschwoll, saßen in einem Dorf in nächster Nachbarschaft im oberen Zimmer der Gastwirtschaft die Vertreter der Arbeiterschaft aus dem großen Grubenbezirk zusammen, um sich über die Lage zu beraten. Auf die eine Frage, was soll geschehen, konnte keiner recht Antwort geben. Es waren auch politische Persönlichkeiten darunter, die einen gewissen besonderen Platz in der Arbeiterbewegung beanspruchten. Leute von außerhalb, die auf die erste Kunde von den Streikvorgängen herbeigeeilt waren, um sich selbst ein Bild von den Aussichten des Kampfes zu machen. Aber mochten sie auch von noch so weit her sein, sie brachten denselben engen Gesichtskreis mit. Über den Umfang der Bewegung wusste niemand Aufschluss zu geben. Alle waren überzeugt, dass sie eine Ausbreitung über das ganze Land gewinnen müsste und würde. Alle sprachen von der Hoffnung und von der Gewissheit, aber Sicheres wusste man nicht. Wir müssen auf dem Weg weiterschreiten, das war allgemeine Überzeugung. Niemand hätte aber auch im Grunde sagen können, welchen Weg. Weiter draußen im Lande war alles ruhig. Sicher werden noch einige Tage vergehen, ehe man die Arbeiter überhaupt mit den Vorgängen vertraut machen kann, um sie in Bewegung zu bringen. Gewiss, alle warteten, alle erhofften den Anstoß — hier ist er. Darum drehte sich alles, was da gesprochen wurde. Die Nachrichten, die aus den umliegenden Ortschaften kamen, hoben noch die Kampfstimmung. Diesmal soll's ein Ende sein mit dem Joch, diesmal ganze Arbeit machen. - Darauf lief es hinaus. Aber es hatte doch bald zehn Tage gedauert, um überhaupt erst den Streik allgemein zu machen. Und es fehlte das Programm, ein klares Ziel von dem, was zunächst getan werden soll. Man sprach darüber, man gab sich gegenseitig das zu, und es waren keine hohlen Schreier darunter, erfahrene Leute, die schon manchen Kampf der Arbeiterklasse mitgefochten hatten, graubärtige darunter, bedächtige, ruhige Arbeiter - alle hatte die Hoffnung erfasst und ließ sie nicht mehr los: Vielleicht, einmal ein Ende machen mit dem allen, was um sie täglich war. Das wuchs alles ins Riesengroße, um ihnen das Vertrauen auf den Ausgang des Kampfes zu ermöglichen. Eine Patrouille der Grünen war abgeschnitten und gefangen genommen worden. Dort hatte man ein Motorrad einem Gendarmen abgenommen. Dort war der Pfarrer als Geisel festgesetzt. Einen Grubendirektor hatten sie in den Schacht runtergeschmissen. Dort waren auch Drähte über die Straße gespannt worden, ein Auto mit Regierungsbeamten ist angehalten, Dokumente. Von einem Ort gut dreißig Kilometer weit ziehen an hundert Arbeiter singend auf unsern Ort zu, viele davon sind bewaffnet. In den großen Städten wächst die Streiklust. Man wartet überall, überall.
Schließlich war nicht viel zu entscheiden. Alle wollten ja dasselbe. Und sie gingen bald auseinander, jeder an seinen Ort, jeder dorthin, wo schon die ändern begierig auf Nachricht warteten, drinnen im Bezirk wie draußen weiter im Land. Halten müssen wir uns, bis die ändern eingreifen, hieß es. Darum diesmal gleich mit allen Mitteln. Wir müssen die ändern zwingen, uns zu Hilfe zu kommen. Alle Brücken hinter uns abbrechen. Gleich aufs Ganze gehen. Das wurde das Ziel, statt der Forderungen, die nun einmal die ändern draußen sehen wollten. Aufstand, Revolution. Aber die Leitung glitt ihnen aus der Hand.

In dieser Sprengstofffabrik, die auf dem Wege lag, spielte sich das ab: Die Werksbeamten waren unter Waffen getreten. Es war kein angenehmer Paragraph im Anstellungsvertrag, der das vorschrieb. Sie hatten Verstärkung von einer Radfahrtruppe bekommen. Leider hatten die keine Maschinengewehre bei sich, stellten die ändern fest. Den Beamten war es höchst ungemütlich. Übrigens arbeitet ja auch noch ein Teil der Arbeiter, Der zog allerdings gegen Mittag ab. Von der Direktion kamen keine weiteren Befehle. Die Soldaten fühlten sich auch nicht recht heimisch. Allenthalben sah man jetzt Arbeitertrupps. Aber der Befehl, nicht provozieren, bis weitere Streitkräfte eintreffen, war von oben durchgegeben worden. Es ging also auch nicht, Posten auszustellen. Die Beamten wären am liebsten nach Hause gegangen. Manche hatten noch einen ziemlichen Weg vor sich. Man verhandelte gerade darüber, als sie plötzlich von einem mehrere hundert Mann starken Trupp angegriffen wurden. Die Soldaten warfen sich nieder und schössen. Es war ein Trupp Arbeiter, der schon einen ziemlichen Marsch hinter sich hatte, der jetzt begeistert ins Feuer ging. Dazu waren sie gerade gekommen. Hier kamen sie zurecht. Einmal im Schwung, lassen sich solche nicht leicht schrecken. Schusswaffen hatten sie zwar nicht, aber ein paar Handgranaten. Als der erste Mann zu Boden musste, flog so eine Ladung in den Hof. Nur einmal, dann hörte das Feuern auf. Die Fabrik konnte in die Luft gehen. Die da drinnen gerieten bald selbst gegeneinander. Aber die Arbeiter waren auch schon da. Hatten immerhin einige Tote. Waren heldenhaft gefallen. Dann ging's über die Grünen. Zwölf Mann wurden gefangen ins nächste Dorf gebracht. Die Beamten hatten steh in eine große Autohalle geflüchtet. Als dort die Tür aufgebrochen wurde, gaben sie Feuer. Das muss einer in seiner Angst getan haben, denn Widerstand war nutzlos. Man holte sie auch schließlich raus. Und ließ sie laufen. Die Autos wurden fahrbereit gemacht. Eine Anzahl großer Lastautos, auch Personenwagen. Das war gute Hilfe. Auch eine große Geldsumme fiel ihnen in die Hände. Dann ging's weiter.

Im Verlauf der folgenden Nacht wurde das Bild mit einem Schlage vollkommen verändert. Der Brandherd des Aufstandsgebietes, der Grubenbezirk, war ein großer Talkessel, dessen Hänge sich lang hinzogen und ihrerseits wieder neue Mulden und Kessel bildeten, in deren Tiefe sich die Dörfer der Arbeiter angesiedelt hatten. Die ehemals bewaldeten Hänge lagen vollkommen frei, so dass man von den Höhen das Tal ohne Schwierigkeiten einsehen konnte, soweit wenigstens der Marsch größerer Massen in Frage kam. Die einzelnen Grubenorte waren durch die ansteigenden Schlackeaberge kenntlich. Nach diesem Kessel setzten sich in dieser Nacht von allen Seiten Polizeitruppen in Bewegung. Wie aus dem Boden gestampft waren die plötzlich aufgetreten. In weit zurückliegenden Stationen waren sie auswaggoniert worden und traten in der Nacht den Marsch in das Aufstandsgebiet an. Das waren Truppen aus allen Landteilen zusammengezogen. Die Vorbereitungen dazu mussten schon vor langer Zeit getroffen worden sein. Da waren alle Waffengattungen vertreten. Es war ein wohlausgerüstetes Heer, das im Anmarsch war. Schweigend und düster wälzte sich der Heereszug vorwärts. Wagen auf Wagen, Artillerie, Verpflegungs- und auch der Sanitätstrain waren nicht vergessen. In den Dörfern, die sie passierten, blieb alles dunkel und still. Noch ehe der Morgen richtig graute, hatten sie die größeren Dörfer auf den Höhen ringsum besetzt. Den erwachenden Dorfbewohnern bot sich ein seltsames Bild: Gewehrpyramiden, Wagenburgen, Feldküchen und lagernde Truppen. Später wurden die einzelnen Gehöfte als Unterkunft mit Beschlag belegt. Die Überraschung war schmerzlich. Die meisten wollten gerade diesen Morgen ins Tal runter und sich einschreiben lassen. An diesem Tage sollte sozusagen der Aufstand erst richtig losgehen. Die Leute standen und gafften und ließen mancherlei Gedanken hin und her gehen. Dass nicht zu spaßen war, merkten sie bald, als einige sich aufs Rad setzen und zu Tal fahren wollten. Gesperrt, hieß es, keiner verlässt den Ort — gleich Schüsse hinterher. Auch die Radfahrer, die von unten kamen, wurden angehalten und durchsucht. Wer sich nicht ausweisen konnte, wurde festgenommen. Einigen wurden auch Mitteilungen abgenommen. Es kam fast keiner durch. Wer halbwegs waffenfähig aussah, wurde festgehalten. Eine große Scheune war für diese Leute in Bereitschaft gesetzt. Trotzdem musste Ernstes vor sich gehen, Autos fuhren hin und her, ganze Autokolonnen mit Schwerbewaffneten wurden in Marsch gesetzt, Feldtelefone nach den nächsten Ortschaften gelegt. Die Leute im Dorf trösteten sich. Es ist im Gange, da unten schaffen sie es und draußen im Reich - noch war bei keinem Angst und Unruhe zu merken. Die Soldaten im Dorf selbst nahmen von ihnen keine Notiz.
Im Bezirk flackerte indessen der Aufstand von Ott zu Ort. Mochten die Truppen da oben stehen, hieß es, von draußen werden sie helfen. Hauptsache, dass wir hier aufräumen. So ging es von einer Ortschaft m die andere. Auf Wagen und Autos fuhren sie, die sie aus den Werken geholt hatten. Leute mit Schellen in der Hand, die die Waffenfähigen zusammenklingelten. Aufrufe wurden verlesen und an kräftigen Worten nicht gespart. Es gab auch viele, die sich zusammenschlössen. Nur Waffen waren nicht vorhanden, die kommen später, tröstete man sich. Dann begannen die Plänkeleien. Es wurde also wirklich Ernst. Panzerautos mit Grünen ratterten durchs Dorf. Schüsse gingen hin und her. Sie hetzten sich von Ortschaft zu Ortschaft. Und leisteten kräftigen Widerstand. Die Autos fuhren beinahe wie im Kreise hintereinander her. Überfalle. In einem Dorf glückte es, den Grünen einen Minenwerfer abzunehmen. Dort wurde aus den Häusern geschossen, ein Maschinengewehr war eingebaut. Die Grünen liefen wie die Hasen und ließen alles im Stich. Hatten auch Tote. Anderwärts wurden auch die Arbeiter zersprengt. Es waren regelmäßige Streifen durch das ganze Gebiet, die die Truppen mit mehreren Kolonnen unternahmen. Noch setzten sie sich nirgends fest. Ihre Hauptmacht lag oben in den Dörfern. Nach diesen Stützpunkten kehrten sie immer wieder zurück und wiegten jedes Mal die Aufständischen in der Hoffnung, sie zurückgeschlagen zu haben. Es war ein aufreibender und zermürbender Kampf. Die Sprengungen nahmen größeren Umfang an. Die Wege wurden teilweise zerstört, Hindernisse gebaut. Schachthäuser gingen in Flammen auf, die Schienen wurden aufgerissen, der Telegraphendraht an vielen Stellen durchgeschnitten. Viele Arbeiter standen in den Grubenbetrieben herum und sahen nach dem Schacht. Die Pumpen standen still. Sie rechneten aus, wann der Schacht ersaufen würde. Man zuckte die Achsel, es hilft eben nichts, durch müssen wir diesmal. In der Stadt herrschte Ruhe. In der Nacht waren einige Geschäftsläden, darunter die Filiale eines großstädtischen Warenhauses, geplündert worden. Die Scheiben waren eingeschlagen. Gebrauchsgegenstände, Kleider, Stoffe lagen noch auf der Straße herum. Niemand wollte etwas gehört haben. Der Major hatte sich gehütet, mit seinen Leuten einzugreifen. Er hatte nur heute morgen mit einigen Zügen die elektrische Zentrale, die Hütte und andere Fabrikbetriebe in nächster Umgebung der Stadt besetzt. In der Zentrale wurde er von einem bewaffneten Trupp angegriffen, aber die Arbeiter holten sich eine blutige Schlappe. Eine Anzahl Tote blieb liegen.

An diesem Morgen rückte auch die Entscheidung näher draußen im Land. Überall war jetzt der Bericht von den Vorgängen zum Durchbruch gekommen. Die Arbeiter hielten in den Betrieben Versammlungen ab. Man stritt für und wider, ob diese oder jene Gruppe der Arbeiterschaft mit eingreifen sollte und in den Streik treten, oder ob man /zunächst allgemeine Forderungen aufstellen sollte, um die Regierung zu zwingen, Farbe zu bekennen. Es versteht sich von selbst, dass die verschiedenen Arbeiterparteien verschiedene Meinungen hatten und dass in derselben Partei auch noch wieder Unterschiede waren zwischen den einzelnen Arbeitsgruppen und den verschiedenen Orten. Aus dem Hin und Her ging aber klar hervor, dass man allgemein etwas erwartete, dass was sozusagen in der Luft liegt. Die Aktion. Eine Aktion gibt den Anstoß. Es ist schon der erste Anfang, hieß es. Es lagen viel gute Hoffnung und Stimmung in allem, was da an Ansichten zutage gefördert wurde. Aber es war nichts da, was stark genug gewesen wäre, die Arbeiter jetzt zur Entscheidung zu zwingen. Das Was, Wie und Warum erfüllte noch die Köpfe, die Parteien und die sonstigen Organisationen waren genau noch so darinnen verstrickt. Sie konnten selbst die Massen nicht aus dem Sumpf heben, in dem sie selbst versanken. Waren doch nur ihr Spiegelbild. Man soll erst beraten, abwarten, zusehen, drohen und Miene machen, vielleicht und so, und allerhand Ausflüchte, und die Sache vertagen, und jeder versteckte sich hinter dem ändern, und der wollte erst sichere Nachrichten haben - alles Mühen einzelner, die Arbeiter auf einmal und wie einen Mann in Bewegung zu bringen, schien vergebens. Es ging nicht so leicht in die dicken Schädel hinein, die gewohnt waren, gründlich und eins nach dem ändern zu denken. So fühlten sie auch. Voller Hoffnung, voller noch nicht ganz eingestandener Kampflust, voller Bewunderung für die da unten - langsam erst, ganz zutiefst flimmerte das Fünkchen, das sie selbst zum Handeln trieb.
Nur an einigen wenigen Stellen war die Haltung entschiedener und eindeutig. Es versteht sich von selbst, dass dies besonders in den näher am Aufstandsgebiet gelegenen Orten und Städten der Fall war. So wurde eine größere Maschinenfabrik mit einigen tausend Mann Belegschaft auf einen Schlag stillgelegt. Ein Zug bildete sich von mehreren hundert Mann, die sofort nach dem Grubenbezirk abmarschierten. Sie hatten einen Marsch von vielen Stunden vor sich, den ganzen Tag und einen Teil der kommenden Nacht. Aber das war ihnen gerade recht. So wie sie waren, von der Drehbank weg, gingen sie los. Sie marschierten durch viele Dörfer, wo die meisten noch kaum Kenntnis hatten von den Kämpfen, die so nahe bei ihnen im Gange waren. An einigen Stellen bekamen sie sogar Zuwachs. Freundlich aufgenommen wurden sie aber überall, und wer nicht gerade ein ausgesprochener Großbauer war, der steuerte auch Brot und Kaffee und eine Scheibe Speck zu. Aber der Zug verlief nicht glücklich. Er stieß in der Dunkelheit auf eine Postenkette, die dem Trupp schon weit entgegen vorgeschoben war. Dem Versuch durchzubrechen folgte sehr bald eine Salve, die sie auseinanderjagte. Viele liefen querfeldein, manche sammelten sich im nächsten noch freien Dorf. Aber es sollte nicht lange dauern. Schon am Morgen wurden auch diese Ortschaften besetzt, an Widerstand war nicht zu denken. Wer ohne Ortskarte war, wurde festgenommen. Jeder Verkehr nach vorn wie ins Hinterland war unterbunden.
Es soll noch erwähnt werden: In einer Eisenbahnwerkstatt, mit einer der größten überhaupt im Lande, hatten sich die Arbeiter eines bereitstehenden Zuges bemächtigt und diesen nach dem Aufstandsgebiet in Fahrt gesetzt. Es waren auch ein paar hundert Mann. Sie hatten einige Maschinengewehre bei sich. Der Zug fuhr glatt überall durch, es war eine Strecke von gut achtzig Kilometern. Bis sie eine der Stationen von den Grünen schon besetzt fanden. Der Zug wurde auch unterwegs schon einige Male beschossen. Aber die Arbeiter säuberten mühelos die Station. Wo immer nur entschlossener Widerstand geleistet wurde, zogen die Grünen ab. Die Werkstättenarbeiter ließen den Zug stehen und zogen querfeldein. Es sind auch eine Anzahl durchgekommen.
Aber Einzelheiten interessieren nicht mehr. Diesen ganzen Tag und noch den folgenden wurde in den Taldörfern gekämpft. Die Verluste der Soldaten waren nicht gering. Man wurde schon unruhig auf der Hohe. Das Warten ist auch nicht angenehm. Aber die Befehle zum Einmarsch lagen nicht vor. Im Lande draußen begann es endlich hier und da aufzuzucken. Wie kleine Flämmchen. Ein Feuer, geschweige denn ein Brand war noch nicht zu sehen. Die kämpfenden Bergarbeiter waren allerdings von allem draußen abgeschnitten. Das wenige, was sie erfuhren, was sich so trotzdem durchschlich, bestärkte sie in der Hoffnung auf Unterstützung. Jetzt noch aushallen, ein paar Tage noch - dann ist's geschafft. So wurde dem Einmarsch denn auch erbitterter Widerstand entgegengesetzt. Es mochte wohl rein zahlenmäßig an Menschen eine zwanzigfache Übermacht sein, gar nicht zu rechnen an Waffen und Material. Die Truppen stiegen in langen Ketten die Hänge nieder, um jede Schlackenhalde wurde gekämpft, um und in jedem Dorf, Panzerautos hielten die Straßen frei. Auf den Wegen zog sich eine einzige lange Radfahrerkette hin, die nach rechts und links die Verbindung sicherte. Artillerie griff ein. Häuser, aus denen geschossen wurde, wurden niedergelegt. Der Krieg war im Lande. Es waren doch nur ein paar tausend Arbeiter, die mit Weib und Kind hier in ihren bescheidenen und halb verfallenen Hütten hausten. Aber es war für die da der Feind, der vernichtet werden musste. Gelber Qualm zog um die Halden, das Knattern der Maschinengewehre, Feuerschein, Brände. Das Gebiet ist immerhin einige zwanzig Kilometer lang und breit und teilweise mehr.
Aber der Widerstand, so wahnsinnig und erbittert er war, hielt sich ein paar Stunden. Gefangene wurden nicht gemacht. Wer getroffen war, blieb so liegen, wie er lag. Wer lebend den Grünen in die Hände fiel, wurde sofort und ohne Verhör erschossen. Nach einige»Stunden waren alle Ortschaften besetzt, der Widerstand gebrochen. Es fiel kein Schuss mehr.
Da ereignete sich am nächsten Tag etwas, das wie ein unsinniges Versehen des Schicksals wirken muss. Überall festigten sich die Truppen in den Dörfern und Städtchen. Die Betriebe und Werkanlagen wurden stark besetzt. Überall Aufräumungsarbeiten. Die Bewohner durften die Häuser nicht verlassen, die Dorfgrenze nicht überschreiten. Soldaten über Soldaten, es wimmelte. Nach der Stadt allein kamen über zweitausend Mann. Auch die chemische Fabrik, die eigentlich schon jenseits des Bezirkes lag, wurde mit einer starken Abteilung belegt. In der Fabrik selbst streikte nur ein kleiner Teil. Der größte Teil der Anlagen war in Betrieb. Die Arbeiter hielten wenig gute Nachbarschaft mit den Bergarbeitern. Zur Bergwerkstatt mochte höchstens eine Stunde Weges sein. Doch kamen die Arbeiter von weit her aus einer ändern Richtung. Ein großer Teil aus einer weit entfernten Industriestadt, die für den Arbeiterverkehr nach den chemischen Werkanlagen eine eigene Verbindungsbahn angelegt hatte. Sie waren ganz für sich eigentlich abgeschlossen und in die augenblickliche Bewegung so gut wie gar nicht hineingezogen. Versammlungen waren zwar gewesen, Agitatoren hatten gesprochen und alles das, aber in Fluss war nichts Rechtes gekommen. Nun ereignete sich das: Als die Polizeisoldaten in den Hof einmarschierten, fuhr es den Arbeitern wie ein Blitz in die Knochen. Nach einigen Minuten war es schon so weit, dass man die Pause gar nicht erst abwartete. Die Direktion gab ausweichenden Bescheid, die Betriebsleitung tat selbst höchst überrascht. Inzwischen richteten sich die Grünen ein. Eine Stunde später stand die ganze Fabrik. Draußen sammelten sich die Leute. Wurden immer mehr und immer drohender. Jetzt hatten sie es endlich mit der Wut zu tun. Ehe die Grünen noch daran dachten, waren die Arbeiter wieder auf dem Hof. Es waren immerhin doch ein paar tausend Mann und auf die Soldaten los. Die gaben verdutzt, aber auch willig die Waffen her. Man ließ die Bengels laufen. Dann in das Verwaltungsgebäude, aus dem die meisten Beamten sich schon geflüchtet hatten, und dort alles kurz und klein geschlagen. Aber im Wüten hielten sie inne: sie wählten einen Arbeiterrat, übernahmen den Betrieb in aller Form, mit Inventaraufnahme und alles das, teilten sich ein, welche zur Verteidigung, welche zur Arbeit und welche zur Agitation draußen im Land. Ein Zug setzte sich sogleich nach der Industriestadt in Bewegung. Das alles verlief völlig ohne Diskussion und Lärm. Das alles war das Werk weniger Stunden. Noch ehe die Sonne über den höchsten Punkt über ihnen ging, sah man Gruppen von Arbeitern marschieren und exerzieren, um die von der Arbeit steif gewordenen Knochen wieder beweglicher zu machen.

Diesen und den nächsten Tag ereignete sich nichts. Man ließ sie in Ruhe. Sie berieten lang und breit über die Weiterführung der Produktion. Von draußen musste alles kommen - die ändern im Lande, ob sie nun zu ihnen oder zu verwandten Hilfsindustrien gehörten, die hätten jetzt einzugreifen, hieß es, und man wartete. Tag und Nacht blieb der größte Teil im Betrieb.
Aber draußen in den großen Industriestädten, die Verkehrsarbeiter und andere Arbeitergruppen hatten noch keinen einheitlichen Plan zusammengebracht. Man konnte die Arbeiter gerade jetzt deutlich nach ihren Berufen gespalten sehen. In vielen Industrien war schlechte Zeit. Dort beförderte man eher noch die Streiklust. Der Unternehmerverdienst hatte großes Interesse daran, die Leute auf der Straße dann sitzen zu lassen. Lohnreduktionen standen sowieso vor der Tür. In wichtigen Betrieben dagegen, die auch für die Stimmung in der Gesamtbevölkerung von Bedeutung waren, denn diese war nach wie vor apathisch und stumpf, griff sofort die Regierung zu beim ersten Anzeichen der Unruhen. Spaltete die Arbeiterschaft, schälte eine Sondergruppe heraus, mit Zuckerbrot und Peitsche. Je nachdem wie man die Gewerkschaften in der Hand hatte - und rigorose Entlassungen wurden vorgenommen. Alles war darauf gestellt, von oben aus blitzschnell einzugreifen, um zu schrecken und zu bluffen. So etwas hat noch immer geklappt. Die Arbeiter begreifen das nicht. Es kam jedenfalls nichts in Gang. Kleine Ansätze wurden blutig niedergeschlagen. Die politischen Arbeiterparteien, zu spät über das Ziel einig, waren sehr bald in Verwirrung. Man dachte an Angriff von Seiten der Regierung. Hatte längst vergessen, dass man selbst angreifen wollte. Die Meinungen gingen auseinander. Die großen Berufsverbände waren nicht in Bewegung zu bringen. Dazu häuften sich die Opfer, überall floss Blut, vereinzelt ohne Sinn und Zweck. Gegeneinander gerieten sich die Arbeiter in die Haare. Es kam vor, dass in dem gleichen Betrieb zwei Parteien mit Eisenstangen, und was sie gerade zu fassen bekamen, aufeinander losgingen. Dabei vergaß man auch die kämpfenden Bergarbeiter, die jetzt in die Häuser hineingeschreckt waren oder blutend noch auf den Feldern lagen. Und erst recht auch die Leute in den Chemischen Werken. Ganz gut so etwas, war die Meinung, aber jetzt ist dafür keine Zeit. Im Grunde genommen nahm sie niemand ernst. Aber jeder trug mehr als sonst die Faust geballt in der Tasche.
Dann las man noch: Wie die Arbeiter sich geweigert hätten, die Werke zu verlassen. Wie Artillerie aufgefahren war, wie dann Gebäude für Gebäude gestürmt worden war, obwohl schon nach den ersten Schüssen der Widerstand eingestellt wurde, um das Werk selbst nicht zu gefährden. Dann die gesamte Belegschaft gefangen abtransportiert wurde. Wie nachher noch immer in die hinausströmende Arbeitermasse geschossen wurde und dass über dreißig Tote auf dem Platze blieben. Das empört, ja, aber was soll der einzelne machen - mancher krümmte sich vor Wut.

Dann brach die Rache herein. Wie etwas, das sich lange angehäuft hat, explodiert. Weit und breit war jeder Flecken von Soldaten besetzt. Alles Ruhe. In den Industriezentren Streikversuche im Keime erstickt. Alles an Organisation zerschlagen, gespalten, auseinandergesprengt. Dann setzten die Verhaftungen ein. Wahllos und nach Tausenden. Die Schergen gingen nach bestimmten Listen vor, die schon vorher angefertigt sein mussten. Die Arbeiter sind das seit langem gewohnt. Sie ducken sich, in ihr Schicksal ergeben. So endete dieser Aufstand draußen im Land, wo auch der Versuch nicht lebendig werden konnte. Aber im Bergbaurevier griffen die Häscher noch schärfer zu. Haus für Haus wurde durchsucht. Die Männer gefangen genommen. Standen oft stundenlang gegen die Mauer das Gesicht, die Hände erhoben - bis entschieden war, welche Klasse von Strafe sie treffen sollte. Viele Hunderte kamen gleich ins Gefängnis. Tagelang wurde verhört und gedroht. Alles wurde ans Tageslicht gezogen. Die Frau, die einem Streiker einen Schluck Kaffee gereicht, gleichfalls eingesperrt. Ortsbeamte, die mit den Arbeitern sympathisiert hatten, waren es doch meistens selbst Arbeiter, waren gesondert aufgestellt. Beim Abtransport wurden sie einfach über den Haufen geschossen. Nirgends lag ein besonderer Befehl vor, weder für das eine noch für das andere. Die Befehlshaber der Truppen handelten durchaus selbständig und noch mehr die Soldaten selbst. Ein Rausch nach Rache, ein tollwütiger Hass hatte diese Leute erfasst. Sie hätten alles niedergemetzelt, Weiber und Kinder. Die Hetze stieg unbeschreiblich.
Nur ein Beispiel noch: Eine Gruppe von vier, fünf Arbeitern, die abgeführt werden sollten; sie standen noch mitten auf dem Dorfplatz, ein Dutzend Grüne, das Gewehr im Anschlag, um sie herum. Die Gefangenen hatten die Hosen heruntergelassen und traten dann einzeln nacheinander vor auf Kommando. Eine Wagendeichsel ragte quer. Darüber musste sich der Gefangene legen, und einer von diesen Schinderknechten zog ihm mit dem Riemen eine Anzahl Streiche über das Gesäß. Es ist nicht angenehm, davon zu schreiben. Nur um zu sagen, dass das Gesicht der Unglücklichen unbeweglich blieb. Reife, erfahrene Männer, die harte Arbeit gewohnt waren, verwittertes Gesicht, den Mund leidverkniffen. Diese Männer dachten nicht mehr an Widerstand. Kein Laut verriet, dass sie sich aufbäumten. Aber es war auch, als ob es sie gar nichts anginge. Man hätte sich eher vorstellen können, dass sie anfangen würden zu lachen, als dass ein Schmerzenslaut über ihre Lippen gekommen wäre. Die Bestie hieb zu, dass das Blut die Beine herunterlief. Kein Mensch im Dorf sonst war zu sehen. »Das ist«, sagte der Offizier, »damit ihr bis zur Station unterwegs nicht an Weglaufen denkt.« Er lachte selbstgefällig. Die Mienen seiner Söldner blieben stumpf. Aber ein alter Mann, der eigentlich mit zur Gruppe gehörte, den man aber wohl seines Alters wegen in Ruhe ließ, er konnte sich kaum auf den Beinen halten und zitterte und schwankte hin und her, dieser Alte hatte das Gesicht weggedreht, unbeachtet des drohenden Gewehrlaufes, der ihm jetzt direkt vor der Nase stand. Er schüttelte sich und schluchzte tief in der Brust. Dann konnte er es doch nicht halten; er weinte, und dicke Tranen liefen ihm über die Backe.
Zu derselben Zeit fand in den Räumen der Elektrizitätsgesellschaft im kleinen Kreise eine Besprechung der leitenden Persönlichkeiten statt. Außer einigen höheren Beamten der Firma waren die Führer der wichtigsten Industriekonzerne, die im Abhängigkeitsverhältnis zum Elektrotrust standen, anwesend, darunter auch reine Finanzleute. Der Seniorchef war mitten drin in einer interessanten Darlegung.
»Es ist zweifellos, dass die Gesellschaft in Schwierigkeiten mit der Arbeiterbeschaffung kommen wird. Die Leute waren alle in der Gegend ansässig, vergessen Sie das nicht. Der Bergbau liegt danieder. Man kann für einige Jahre mit Verlust rechnen, auch wenn die Regierung den Schaden deckt. Das sind international-politische Fragen. Der Weltmarkt allein macht es nicht. Ich habe den Kauf der Restanteile in Auftrag gegeben. Damit fallen uns auch über kurz oder lang die Chemischen Werke zu. Sie gehören zueinander, beide Objekte, denn sie sind von derselben Kraftquelle abhängig. Über die Braunkohle verfügen wir bereits. Die Elektrizitätslieferungsgesellschaft wird nicht lange mehr Widerstand leisten, so dass wir alles zusammen jetzt reifen sehen« - und so fort.
Die Herren nickten Beifall. »Der Schachzug gegen die Regierung, die als Kontrollinstanz sich aufspielen will, war gut angelegt. Die Regierung wird mit Unruhen abgespeist. Dort mag sie Betätigungsfeld suchen und finden. Meine Herren, die Gütererzeugung wachst im Verhältnis zu ihrer inneren Unabhängigkeit. Das Produktionsgesetz ist das allein maßgebende und oberste Gesetz - das versteht sich. Es war schwer, mit den in die Regierung neuerdings hineinwachsenden Bürokraten, Juristen und kleinbürgerlichen Elementen auszukommen. Der Gesichtskreis ist zu eng, kein technisches Wissen -« Und der Elektrotrust vollendete sich.
Eins ist indessen noch nachzuholen. Wie die Rache gedankenschnell weiterwucherte und immer größere Kreise zog. Die Gerichte traten in Tätigkeit. Man wird sich erinnern, wie an einem der ersten Tage auf dem Marktplatz ein Soldat im Kampfe fiel. Es war jener erste Zusammenstoß mit den Grünen, bei dem die Arbeiter sich auf Widerstand besannen. Der Vorgang sollte als Beispiel aufgestellt werden. So an zwanzig Gefangene, die in der Stadt ansässig waren, wurden wahllos herausgegriffen. Gegen sie wurde Anklage auf Mord erhoben. Vielleicht auch, dass man hoffte, von einzelnen davon neue Namen und sonstiges Material herauszubekommen. Die Beweggründe mögen gleichgültig bleiben. Auch dass vielleicht jemand auf die Opfer der Arbeiterklasse hinweisen könnte, auf die Meuchelmorde und alles das Unerhörte, Entsetzliche - soll alles beiseite bleiben. Aber hingeschrieben muss werden, dass es Leute gibt, Beamte, Richter, Menschen, die in Schule und Akademie gewesen sind und die Rechtskunde studiert haben, also Mitbürger im gleichen Staat, die eine solche Anklage ausfertigen, vertreten, darüber im Ernst zu Gericht sitzen - und meinetwegen verurteilen, aber das ist schon vergleichsweise nebensächlich. Es ist nicht auf sie geschossen worden, was manches erklären würde, sie sind überhaupt völlig unberührt geblieben, ganz unbeteiligt haben sie weiter auf ihren Akten gesessen und geblättert, sind am Stammtisch oder im Geheimklub gewesen und haben bei ihren Weibern und denen der Kollegen geschlafen. Ganz normal gelebt - diese Individuen sind unverständlich. Das ist die schlimmere Gefahr im Bürgerkrieg. Sie wirken schon vereisend durch ihre Existenz. Pfui Teufel.

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