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Franz Jung - Die Eroberung der Maschinen (1923)
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Zusammenbruch

In den Geschäftsräumen des Maschinistensyndikats hatte die Streikleitung sich versammelt. Die Leute, die dort sich gegenseitig über den Umfang der Bewegung unterrichteten, sahen nicht aus, als stünden sie an der Spitze des gewaltigsten Kampfes, der gegen die bürgerliche Wirtschaft bisher unternommen worden war. Sie machten einen durchaus harmlosen Eindruck, nüchtern und vor allem jeder revolutionären Phrase abgeneigt. Das Ganze behielt durchaus den Eindruck eines technischen Büros. Das etwas Verbissene und Grüblerische in ihrer Haltung, das man deutlich noch nachempfinden konnte, war einer freudigen offenen Beweglichkeit gewichen. Man spürte ordentlich, die Leute sind in ihrem wirklichen Beruf. Sie schalten mit jener Riesenkraft, die nach oben wie nach unten jeweils die Entscheidung bringt. Man sah auf ihren Mienen das lächelnde Zutrauen, dass sie diese Kraft voll beherrschten, ihre Bedingungen kannten und nichts sie mehr überraschen und überwältigen konnte. Die Leute dort waren sich selbst vollkommen sicher. Das, was für sie zu tun war, das verstanden sie auch. Ihr ganzes Augenmerk war darauf gerichtet, die Wirtschaft zum Stillstand zu bringen. Es genügte für den Erfolg, wenn die große Masse sie darin gewähren ließ. Auf aktive Unterstützung zu rechnen, bleibt immer ein zweifelhafter Faktor. Ihre Aufgabe hatte ihnen geschienen, diesen auszuschalten. Der Zweck war so gut wie erreicht.

Unter den Leitern zeichneten sich insbesondere die jüngeren Menschen scharf ab. Es war der Typ jener zielbewussten und zielklaren Arbeiter, die um keinen Preis der Welt mehr mit dem Unternehmer und Fabrikherrn tauschen möchten. Unter diesen war eine Diskussion im Gange, die eine sehr ernste Frage aufwarf. Gerade waren einige Vertreter von Syndikaten dagewesen, um sich weitere Informationen zu holen. Glückstrahlend hatten sie Bericht erstattet, dass die Betriebe stehen - und nun wollten sie hören, was sie der Belegschaft mitteilen sollten. So selbstverständlich das war, so große Kopfzerbrechen hatte es gemacht. Darin gerade waren unsere Elektriker nicht mehr sicher. Sie waren sogar so unsicher darin, dass sie sich überhaupt kein Programm gemacht hatten. Jetzt warteten alle. Alles schaute auf sie. Die Leitung musste jetzt heraustreten, die Bewegung musste ein Gesicht bekommen. Hunderttausende warteten darauf, was jetzt zu geschehen hätte. Und aus der lächelnden Sorglosigkeit der Elektriker war für sie plötzlich bluternste Situation geworden. Noch strebte die Bewegung ihrem Höhepunkt zu, aber das konnte kaum noch Tage, vielleicht nur Stunden dauern und dann - dann hieß es für sie, was nun -
In jenem darauf folgenden Gespräch sagte der eine: »Es fehlt noch der Rhythmus der marschierenden Bataillone. Das eigentliche Gesicht der Arbeiterarmeen ist noch nicht da, der große Wille. Wir müssen mit Propaganda heraus, Musik muss auf die Straße.« Während die Mehrzahl lachte, sagte ein anderer: »Eigentlich hätte das alles schon vorher geschehen müssen.« Und wieder ein anderer: »Die Politik überlassen wir den Politikern. Mögen die sehen, was sie daraus machen.« Dem aber wurde widersprochen. Die Politiker wären uneins. Der eine zog nach dieser, der andere nach jener Seite. Zudem hatte sie die Situation völlig überrascht, sie schienen ganz in den Hintergrund gedrängt. Schließlich wollte man den einzelnen Syndikaten die Regelung der Forderungen überlassen. Die Vertreter sollten berufen werden, das Programm aufzustellen. Aber auch dagegen erhoben sich Stimmen. Gerade die Eifrigsten und vielleicht die Klügsten in der Leitung meinten, das hieße: die Leitung aus der Hand geben. Bis jetzt sei alles gut gegangen. Von ihnen allein müsse die Initiative weiter kommen. Sie drängten darauf, eine bestimmte Losung herauszugeben. Der Kampf ging um die Beherrschung der wirtschaftlichen Kräfte, und das Hebelwerk der Produktion. Das aber sei die Eroberung der Maschinen, im allgemeinen wie im besonderen. Die Situation sei da, jetzt ist es soweit, die Maschinen in Besitz zu nehmen. Und dann treten wir zusammen mit allen Syndikatsvertretern und bringen das große Räderwerk wieder in Gang. Das war schnell hingesprochen. Hörte sich auch gut an. Für die vielen aber, die bis aufs kleinste wissen wollten, was sie den Arbeitern zu sagen hätten, war das keine Antwort. Davon wurden sie nicht schlauer. Und jetzt tauchte auch schon die Frage auf: Und was sagen die ändern? Wie soll das alles so ohne weiteres gehen? Wo kam die Arbeit her und der Lohn? Und Frage auf Frage quoll empor, und eine dumpfe und schwere Spannung breitete sich aus. Noch war sie nicht offenbar, aber sie verästelte sich bis in die Betriebe und wo immer Arbeiter zusammenstanden und ihre Gedanken sich machten, was nun werden soll. Alles wartete nun auf den Befehl.
Aber dieser Befehl blieb aus.
Da hatte niemand den Mut zu. Oder das Zutrauen zu sich.
Die Technikerunion hatte sich an Kräften etwas übernommen. Viele waren der Meinung, schon genug getan zu haben. Die meisten waren ja mit sich sehr zufrieden.
Nun begannen sich die einzelnen Syndikate zu rühren.
Etwas überhastet kamen auch die politischen Parteien in Bewegung. Nachholen wollten sie, vielleicht noch im letzten Augenblick die Bewegung wieder in die Hand zu bekommen. Für einige Stunden stand die Losung: Eroberung der Maschinen! im Mittelpunkt. Es war eine fremde Losung. Das Schlagwort war den meisten unbekannt. Jeder kennt nur zu ausschließlich den großen politischen Apparat. Man begann schon zu zweifeln teilweise, ehe noch Näheres darüber bekannt wurde. Welche sprachen schon dagegen, ohne gehört zu haben. Die politische Partei hatte noch nicht nachgeholt. Der Gedanke wuchs empor: Was nun — zog im Nu auf, wie ein schweres Gewitter. Alle dachten, das ist doch bekannt, hieß es. Die da oben wissen es, werden schon machen. Aber auch solche Meinungen verstummten am nächsten Tage. Sie standen noch im Betrieb, was noch mehr? Jetzt kamen erst die Syndikate mit Forderungen und alles das - jeder dachte, das ist langst erledigt. Unsicherheit, Erstaunen, Ratlosigkeit.
Dann wirbelte alles durcheinander. Wie wenn ein Windstoß große Erdklumpen mit allein, was darauf blüht und kriecht, erfasst und in die Luft schleudert, das Entwurzelte auseinanderfasert, bald unten und bald oben, und dann mit einem neuen wuchtigen Stoß nach einer Richtung weitertreibt, aus der dann die Teile plump und wie ausgequetscht von allem Leben herunterfallen. Jetzt kamen die Forderungen und Programme. Die Hast, nicht zu kurz zu kommen, sich nicht von ändern verdrängen zu lassen. Die Angst, nicht einer neuen Schreckenszeit ausgeliefert zu werden. Die Sorge ums tägliche Brot. Und über allem ersehnte man im Grunde die Regierung. Jemanden, der für das alles dann einzutreten hätte. An den man sich halten kann. Die Arbeiterpartei zögerte immer noch, von sich aus herauszutreten. Sie schätzte die Bedingungen falsch ein. Sie glaubte sich durch die Syndikate nicht genügend unterstützt, fürchtete die in Bewegung gekommenen Massen. Sie hatte nicht das Zutrauen zu sich, eine Regierung zu bilden. Man kann darüber zwar theoretisieren, aber die Situation - die muss man erst prüfen, erkennen, abwägen und nach dem Ausland sehen. Darin lag wie eine Rettung: Was wird das Ausland tun? Das gab das Stichwort für die Trustleitung: Sie war bisher wie gelähmt. Von woher kam der Schlag - man suchte den Gegner, vermutete einen Überraschungsangriff. An die Arbeiter dachte man zuerst noch weniger. Der Betreffende spielte mit der Gefahr, verstand man, die Arbeiter konnten sich mit einem Schlage erheben. Darum hielt der Trust sich vollkommen still. Er erlebte die größte Krise seit seinem Bestehen. Er schrumpfte in sich förmlich zusammen, aber er behielt noch genügend Wirkungsvermögen. Das Ausland konnte die Schleier lüften.
Aber sein Gegner, der Elektrotrust, zog nunmehr nach dieser Kombination, die er am gleichen Konferenztisch mit angehört und beraten hatte mit den ändern, für sich andere Schlüsse. Der Geheimrat selbst ließ es sich nicht nehmen, persönlich im Büro des Maschinistensyndikats vorzusprechen. Er bot Verhandlungen an. Das heißt, er wollte selbst das Terrain rekognoszieren. Man muss hören, was dahinter steht.
Und er erlebte es, was er jedem ändern bestritten hätte: Es stand nichts dahinter. Für ihn wenigstens. Arbeiterphrasen, Arbeiterphantastik, Unreife und Schwäche.
Er griff sofort zu. Seine Verbände, seine Syndikate und Einzelfirmen boten einen neuen Tarifvertrag. Noch am gleichen Tage verhandelte er mit den Arbeitersyndikaten. Er stellte die Forderungen, der Trust warf den Verhandlungsgegenstand in die Debatte. Die Syndikate waren wie zu neuem Leben erwacht. Nun begriffen auch erst die Arbeiter. Aha, darum handelte es sich. Nun - und sie begannen zu überlegen, zu debattieren. Formale Fragen, der Grund blieb doch derselbe. Damit entbrannte auch im Betrieb der Kampf. Der Kampf um die Maschinen. Die wenigen, denen der Sinn dieser Losung klar geworden war, schickten sich an, darum zu kämpfen. In die Arbeiterschaft kam Leben. Die Mehrheit entschied für das Nächstliegende, das Brot verhieß - die Verhandlungen, den neuen Tarifvertrag. Das wird immer so sein. Das muss immer so sein, es müssten denn erst andere Menschen geworden sein. Dazu aber ist ihre Freiheit von der Lohnabhängigkeit Vorbedingung. Wie wenige begreifen das! Wo diese wenigen in der Mehrheit waren, griffen die eigenen Syndikate ein. Vorher schon war die Regierung wieder aufgezogen worden. Der Trust hatte die alten Strohmänner neu drapiert. Jetzt riefen die Syndikate die Regierung um Hilfe.
Vorher hatte der Chemische Trust den Elektrikern ein Anerbieten gemacht. Ihr Einfluss sollte, im Betrieb verstärkt, ihre Stellung mitbestimmend werden. Eine Reihe lokaler Organisationen fiel ab. Eine Spaltung in der Elektrikerunion schien unvermeidlich. Dennoch siegte noch einmal die Solidarität. Der Chemische Trust bekam nicht die Vorhand.
Noch ging der Streik weiter. Eine revolutionäre Gruppe schälte sich heraus, ein Teil der Elektriker an der Spitze. Verbindungen in die Industriegruppen hinein wuchsen schnell. Nun erst bekam die Bewegung politischen Charakter. Jetzt hatte die Partei Boden. Man merkte ordentlich den Ruck.
Da tat auch die Regierung wieder den Mund auf.
Die Polizeitruppen wurden in Marsch gesetzt.
Der Elektrotrust hatte die Tarife und alle seine Bedingungen fertig in der Tasche. Er gab das Signal zur Wiederaufnahme der Arbeit.
Da begannen die Truppen auf die ändern zu schießen.
Die alte Streikleitung wurde verhaftet. Belagerungszustand. Streikverbot, Maschinengewehre, Ausnahmegerichte und Kopfpreise.
Der Chemische Trust streckte die Waffen. Die guten Objekte wurden vom Elektrotrust übernommen.
Am nächsten Tage wurde eine neue Regierung gebildet. Sie begann damit, zu erklären, dass im Lande alles ruhig sei.
Noch war die Arbeit nicht wieder aufgenommen.

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