Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Franz Jung - Die Eroberung der Maschinen (1923)
http://nemesis.marxists.org

Ein richtiges Sorgenviertel

Schon die dritte Generation lebt in diesem Kampf. Sehr viele Menschen können sich anderes gar nicht mehr vorstellen. Sie sind auch gewöhnt, dass einzelne das Maul weit aufreißen. Aber geändert hat sich noch nichts seit Großvaters Zeiten. Mag auch das Leben in manchem bequemer geworden sein, die Not ist sicher noch größer geworden. Die Angst, ob noch für die nächste Woche das Brot langen wird, ist dieselbe geblieben.
Es geht nicht immer an, dass die Frau mit verdienen gehen kann. Dann sitzt die Frau zu Hause und hat die Kinder am Halse. Höher als Stube und Küche kommt's selten. Da hocken sie nun in diesem Viertel der Stadt, die Menschen, eng aufeinander. Lässt sich gut reden von Körperpflege und Reinlichkeit und Sport und so etwas, da müssten sie erst da raus. Aber sie sind dort so aufeinander angewiesen, sie haben ja alle die gleichen Bedingungen, sie können sich ganz genau vorstellen, was beim Nachbar vor sich geht und gegenüber. Dort liegt zwar die Frau den ganzen Tag im Fenster, weil sie keine Kinder hat, und dort läuft eine und bringt die paar Pfennige, die sie überhaben, in Näschereien durch oder spart sich's vom Mittag ab, alles weiß man, es bleibt nichts verborgen, auch Seitensprünge nicht, über die sonst der Betreffende schweigt — alles liegt offenbar, und das gibt eine Luft, die stickig ist und jeden Gedanken tötet und die Menschen müde und gleichgültig macht. Dann laufen sie aneinander vorbei, so eng sie beieinander hocken, und können sich nicht ansehen. Mancher denkt, in den ändern Vierteln ist es besser, aber das ist der Anfänger, einer, der von fremd her zugezogen ist. Jeder weiß bald, es ist überall gleich. Man entflieht dem nicht. Sie verkriechen sich voreinander, und das, was einer im Betrieb gesprochen hat, das soll noch lange nicht gelten bei seinen Hausmitbewohnern. Es ist schwer, auch in dieser Luft etwas Sicherheit aufzubringen.
Aber das setzt sich durch. Die Frauen setzen sich durch. Es war, als ob die Frauen sich schneller entwickeln würden als die Männer. Man hat gar nicht viel davon gemerkt an äußerlichen Geschehnissen. Eines Tages war der Umschwung da. Es schien, als ob die Frauen ihre Männer schärfer an ihren Mannesstolz erinnert hätten oder vielleicht auch, dass sie selbst eingesehen hatten, das Jammern allein stürzt weder die Ordnung um, noch bringt es die Not aus dem Haus. Die Frauen fingen an, selbständiger zu arbeiten. Es war nun eben so, der Mann hatte für die Familie zu sorgen, wenigstens dachte das der Staat. Mochten die Leute dann leben, wie sie wollten. Wer aber von früh bis abends schwer arbeiten soll, für den fiel das verdammt ins Gewicht. Er arbeitete für die Familie - na schön, aber gerade wohltuend war das nicht. Es wurde zu einer drückenden Last, wenn mal was in der Familie nicht in Ordnung war. Dann arbeite mal, doppelt geknechtet - das mag der Teufel aushaken. Es kam dann vor, dass so einer einfach davonlief, kam sogar sehr oft vor, dass er die ganze Familie oder ein Mädchen mit Kind und so weiter einfachen sitzenließ. Die Art und Weise, wie so eine Familie zustande kam, war schlimm genug: Etwas Menschlichkeit finden, wissen, dass man nicht allein ist, einen Augenblick mal etwas Freude, alles ringsum vergessen, und sei es nur für die kurze Spanne, die sich die Sinne gewähren - sinnlich, das ist dann menschlich sein - nun, und die Folgen. Solche Menschen mühen sich schwer, sie tragen ihr Los wie Helden, sie opfern häufig Jahre ihres Lebens, immer nur Verpflichtung über Verpflichtung. Die Menschen, die sich da zusammengefunden haben, mögen sich nicht. Ist denn das etwas so Schlimmes, wie sollte es auch anders sein - hetzt sie doch die Angst, vom wirklich freien, glücklichen, menschlichen Leben ausgeschlossen zu sein, zusammen. Sie kennen sich kaum, sie wollen sich gar nicht erst kennen lernen, denn jeder fühlt am besten irgendwie tief im Unbewussten, wie verkrüppelt und hässlich er ist. Und wenn dann einer nicht mehr weiter kann und alles hinschmeißt, ist das nicht zu verwundern. Es kann gar nicht anders sein. Es ist gut so. Dann aber schrieen die aus dem Villenviertel hinter ihm drein. Dann wird die Moral aufgerichtet und die Verantwortung und alles solche Sachen. Das trieft diesem Pack nur so vom Maul. Es ekelt einen, deren schweinisches Leben auch nur anzusehen. Gewiss, nach außen ist alles poliert und in Kultur getaucht, die sie sich gemacht haben, um sich weniger wehzutun. Kultur ist so etwas wie ein Handschuh, den diese Menschen sich überziehen, um die Geschwüre zu verdecken. Dafür haben sie es ja auch leicht genug. Sie tun ja im Grunde genommen nichts anderes, als sich den Tag über darauf vorbereiten, in guter Haltung die Geschlechtswerkzeuge zusammenzustecken, diese Leute im Villenviertel. Warum sollen sie darin nicht ein gewisses Training bekommen, dass es besser klappt; aber, und das ist zum Lachen, dabei klappt es noch nicht mal. Diese Leutchen jammern noch obendrein, die ganze Kultur erhebt sich darauf. Roman über Roman. Früher hörten die im ändern Viertel darauf. Da gab es immer einige, die sich daran bilden wollten. Dann setzte der entscheidende Umschwung ein. Gerade die Frauen wollten von solchem Quatsch nichts mehr wissen. Sie wurden selbständiger auch ohne den Staat, der sie zu lange damit warten ließ. Sie bereiten damit in Wirklichkeit erst die wahre Revolution vor. Sie machen dem Manne die Arme frei, und das Wichtigste, sie greifen selbst mit ein.
Sie fingen an, sich im Viertel gegenseitig zu erziehen. Sie hatten ja nichts zu verschweigen - und sie verbargen auch nichts mehr von dem, wovon man sonst nicht gern sprach. Erst der Klatsch musste das herauszerren. Warum das, hieß es, was vorgeht, kann auch jeder wissen. Und so fanden sich die Frauen enger zusammen. Sie lachten diejenige aus, die sich über das Verschwinden ihres Mannes Kopfzerbrechen machte, bis sie selbst begriff, welchen Fehler sie gemacht hatte, oder überhaupt, dass es so am besten war. Stelle sich jeder auf seine eigenen Füße, hieß es. Es zeigte sich plötzlich, dass auch für die Frauen genug zu tun war. Nicht bloß, dass sie an und für sich ja auch überall arbeiten konnten wie ihre Männer, nein, es war genug Arbeit zu tun für sie, die nur allein von Frauen getan werden konnte oder die sich im gewissen Sinne mit der Arbeit des Mannes ergänzte, eine Arbeit, die sozusagen eben nur von zweien getan werden konnte. Es ist nicht gesagt, dass den Haushalt führen und die eigenen Kinder zu warten eine solche Arbeit ist. Immer mehr bricht sich der Gedanke durch, dass dies eine Verschwendung an Arbeitskraft ist, die doppelt schwer lastet, weil sie auch unnütz ist. Es ist eine dumme Angewohnheit, übernommen von denen aus dem Villenviertel. Überlassen wir diese sich selbst, sie sollen nach ihrer eigenen Fasson zugrunde gehen. Das heißt - es wäre Arbeit da, wenn der Staat beweglich genug wäre, sie zu schaffen. Man kann aber von dieser verrosteten Maschine nichts mehr verlangen. Das ist doch nur mehr eine Bande halbverrückter und verängstigter Beamter, ein Marionettentheater, was allerdings in seiner Wirkung nicht weniger furchtbar als lächerlich wird, solange es die Menschen in Gang halten. Und so bekam der absterbende Bürgerstaat in den Frauen gerade einen erbitterten Feind. Die Arbeiterfrauen wurden für ihn bald gefährlicher als die einzelnen Arbeiterparteien, mit denen er lavieren und die er gegeneinander ausspielen konnte. Aber der neue Feind arbeitete unterirdisch und war doch zugleich überall zu finden. Die Industrie verhielt sich entgegenkommender. Es ist ihr Schicksal, den Händen nachzugeben, und hier boten sich Hände an. Die Industrie half damit selbst in erster Reihe diesen Umschwung vollenden. Obwohl sie mit den ausgesprochen männlichen Berufsgruppen am kritischen Punkt eines entscheidenden Kampfes stand, den sie mit Stilllegungen und Kurzarbeit führte, um die Arbeiter zur Lohnverkürzung zu zwingen, und im Verlauf des Kampfes selbst alle Mittel anwandte, um die Arbeiterschaft zu sieben und die unruhigen Elemente zu entfernen, griff sie dennoch auf das Angebot neuer Hände sofort zu. Neue Fabrikationszweige wurden erschlossen, neue Berufe, neue Arbeitstechnik und neue Märkte. Es ist der Moloch Kapital, der zugleich eine Riesenmaschine ist von ungeheurer Kraftquelle, die die menschliche Arbeit verschlingt und in immer neue Werte umwandelt. Neue Menschenware bietet sich an, neuer Kapitalswert wird daraus erwachsen, so lautet das Gesetz. Es ist eine der größten Dummheiten zu glauben, Frauenarbeit würde die Männerarbeit verdrängen. Die Maschine entscheidet darüber, und sie wechselt ihre Bedürfnisse an menschlicher Leistung und Hilfsarbeit unausgesetzt, sie richtet sich nach der Kraft und Schnelligkeit, die sie zu leisten hat. Dass dies noch zu wenig ist, ganz furchtbar zu wenig, das spürt doch jeder am eigenen Leibe. Sind die Menschen glücklich? Also -
Die arbeitenden Frauen führten mit einem Schlage Gemeinschaftsküchen ein. Die Kinder wurden gemeinsam betreut. Fast überall in den Betrieben, die für Frauenarbeit erschlossen und umgewandelt wurden, setzten sie diese Forderungen schlankweg durch. Wer hätte sich auch dem widersetzen wollen und mit welchen Gründen. Ein starker Stoß ging davon auf die Männer über. Das Viertel veränderte deswegen nicht sein Gesicht. Die Menschen schlichen noch aneinander vorbei. Sie hockten noch zusammen wie früher, aber es war ein freierer Zug, eine Hoffnung auf die Zukunft. Es ging etwas vor, das fühlten alle. Zwar war noch Jammer und Leid über Leid, da waren sich noch zwei im Wege, da schlugen noch zwei aufeinander ein, da ging noch der Klatsch, da war noch rohe Vergewaltigung, Trunkenheit und Laster. Da waren vor allem noch die Gebrechen und Krankheiten, an denen man das Proletariat erkennt. Die Menschen werden über Nacht nicht zu Engeln. Viele Generationen Elend und Schwäche, eine tief eingefressene Gewöhnung, ein Dünkel zu leben, ringt sich langsam durch zu Licht und Luft. Die Kinder sterben noch wie die Fliegen. Man soll darüber nicht zu bombastisch reden. Die kleinen Lebewesen tragen schon die Verzweiflung auf der Stirn, eine entsetzliche Müdigkeit, als hatten sie schon viele Leben gelebt. Dann war es manchmal, wenn so ein Wurm mit Eiter bedeckt sich in Krämpfen wand - dass vielleicht andere Menschen dazu gehört hatten, es gesund zu machen oder am Leben zu erhalten. Die Mutter ist verbittert in Sorgen, sie kann kaum über den nächsten Tag hinaussehen, sie hat sich als Mensch selbst noch nicht gefunden, sie weiß nicht, auf welchen Platz sie gehört, was sie gerade in ihrer Person im Leben bedeutet. Das Kind leidet, es verzieht so unsagbar schmerzhaft für den Nebenstehenden das Gesicht, vielleicht empfindet es selbst weniger Schmerzen, es schreit, es schwillt blau an und windet sich in Krämpfen - wer vermöchte zu sagen, welche Martern das organische Mutterherz erduldet. Das organische, denn meist ist der Mensch gar nicht fähig, sich alles auf einmal bewusst zu machen. Es würde zerbrechen. Hört nicht auf die von draußen, die es so viel leichter und besser haben, die so genannten humanitären Frauenvereine der Bürgerlichen, die Unterstützungsklubs, die Kinderkrippen. Alles das sind Feinde. Mögen die Kinder noch sterben - es ist eben noch nicht die Zeit zum Leben. Sie kamen zu früh, Sie tun gut daran, noch zugrunde zu gehen. Sie haben noch zuwenig Luft, noch zuwenig Sonne, noch zuwenig freie menschliche Arbeit und Glück. Man soll nicht angeben, dass diese Bürgerfrauen in so genannter Hilfe sich loskaufen. Sie rächen sich doppelt dafür an euch selbst. Im gleichen Augenblick geben sie euch den Fußtritt: Geh arbeiten, wenn du zu fressen haben willst - sie selbst aber arbeiten nicht.
Wir vermögen das manchmal nicht zu fassen -weil zum Menschlichen doch alle Menschen gehören.
So erwuchs den Arbeitern an den Frauen ein Rückhalt. Eine neue Kraft wurde frei: der Angriff ballte sich zusammen, er bekam sein eigenes Gesicht.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur