Kampfposten
I. Kuriere
Urplötzlich erhob sich der lärmende Klang der Glocken, mit denen die Extrablätter an den Straßenecken ausgeläutet wurden. "Der Rücktritt des Kensekai-Kabinetts!"
Vor den roten Säulen der Haltestellen, vor den Eingängen der Banken, vor den Toren der Fabriken, auf den Bahnsteigen, in den Schaufenstern, an den Anzeigentafeln der Zeitungshäuser flogen, tanzten und überstürzten sich die noch nicht trockenen Blätter und verbreiteten sich in einem Augenblick über die ganze Stadt. Die eiligen Schritte der Menschen, das Hin und Her der aufgeregten Blicke schufen in den Nachmittagsstunden, die im wirbelnden Staub lagen, von der matten Frühwintersonne überstrahlt, eine ängstliche Stimmung.
" Fiasko der Chinapolitik und Unfähigkeit zur Rettung der bankrotten Banken."
" Deshalb also ist das Kabinett zurückgetreten," murmelte der Mann mit Hut und europäischem Anzug. Nicht anders dachte der Mann in Mütze und Havelock, und der Mann in der Arbeiterbluse, der ein Rad schleppte. Der Student in der Uniform, der Schaffner der Straßenbahn, die Polizisten und ihre Offiziere wiederholten es - die Gesichter der Mitglieder des zurückgetretenen Kabinetts kannte jeder genau nach den Photographien oder von Karrikaturen. Ihre Gesichtszüge wurden durch die Zeitschriften und Ansichtskarten öfter und eindringlicher in die Köpfe der Bürger gehämmert, als die Bilder der Eltern und Brüder in der Heimat.
Es war allen geläufig, wie die Daten des Kalenders, daß der Finanzminister, der reiche Osaka, Generaldirektor des großen Mitsubichi-Konzerns, mit dem dicken, breiten Gesicht, dem schwarzen glänzenden Schnurrbart, stinkend nach der Schminke seiner Dienstmädchen und Freundinnen, mit den rücksichtslosen verschlagenen Zügen, sein Geld in den Ankauf des Terrains für den Hafenbau gesteckt hatte. Dieser Generaldirektor und Finanzminister hatte vor einigen Wochen plötzlich in allen großen Zeitungen Japans ein neues Wirtschaftsprogramm proklamiert. (So dachten wenigstens die Massen derer, die nicht aufzupassen verstanden.)
" Die Vernachlässigung und Undurchsichtigkeit der Finanzen in den verschiedenen Handels- und Industriegesellschaften unserer Klein - und Mittelunternehmer nach dem Weltkrieg machten strengste Rationalisierung und Liquidation unumgänglich. Trotzdem schien das große Erdbeben in Tokio und Umgebung vom September 1923 den Mittel- und Kleinunternehmern noch einmal die Möglichkeit eines neuen Aufschwungs zu geben. Diesen Zusammenbruch der Finanzen durch eine nachlässige und künstlich gehaltene Wirtschaftspolitik hat jetzt das Sejukai-Kabinett auszubaden. Das ließ die drohenden Gefahren immer schneller wachsen. Trotz der häufigen Warnungen unserer Kensekai-Partei brachte diese gedankenlose Art des Wirtschaftens unserer Klein- und Mittelindustrie nur ein trauriges Moratorium. Unsere Regierung wird nicht nur durch die Finanzeinschränkungspolitik eine unserer drei großen Grundlinien anstreben, um unsere traurige Finanzlage zur Gesundung zu führen, sondern auch für die bankrotten Banken und ihre Depositoren Richtlinien aufstellen..." Die Kensekai stützte sich auf die Industrie und den Handel in den Städten ganz Japans. Die Proklamation der Regierung mußte innerhalb dieser Partei große Erschütterungen hervorrufen. Aber diese Proklamation wurde schon nach einer Woche ein leeres Schreckgespenst, weil das Kabinett zurücktreten mußte. Nach dieser Proklamation schien der Grund des Moratoriums letzten Endes die gedankenlose Vernachlässigung der Finanzgeschäfte der Mittel- und Kleinunternehmer zu sein.
" Macht keinen Quatsch!" sagte Yatsuo, der lustig seinen Mantel über die Schulter gelegt hatte.
Im Zimmer waren fünf Männer, der junge Tomitjan, der für die Streikleitung Kurierdienste tat, hatte eben eine Extraausgabe von draußen hereingeholt.
" Was soll das bedeuten?" fragte der nette, intelligent aussehende Junge eifrig. Er war Schriftsetzer.
" Die prinzipielle Schuld trägt natürlich das Großkapital. Selbstverständlich gibt es Ausnahmen. Den ersten Stoß gab die Krise in Handel und Industrie, das heißt die Überproduktion, und die unmittelbare Ursache des katastrophalen Bankrotts war, daß die Großen ihren Beutel zusperrten", erklärte Yatsuo, das Extrablatt auf den übereinandergeschlagenen Beinen. Dieser Mann mit dem vollen, fast weiblichen Gesicht und der hohen Stimme war einer der tapfersten Kämpfer in der Leitung des Gewerkschaftsrates der Provinz Kanto. Es war so still im Zimmer, daß man hätte glauben können, es sei schon spät am Abend. Das Zimmer lag in der ersten Etage, ein Reklameschild des Restaurants verdeckte das Fenster gegen die Straße hin, auf der die elektrischen Bahnen vorbeiratterten. Gegenüber dem Fenster war in der Wand ein schmaler Durchlaß. Durch einen kleinen Eingang kam man vom Zimmer über eine schmale Treppe und durch die Hintertür des Restaurants ganz unerwartet auf einen alten Friedhof mit einem Buddha-Tempel, durch eine andere kleine Papiertür konnte man in ein kleines Zimmer des im Erdgeschoß liegenden Restaurants gelangen.
Sagen wir also ruhig, daß dieser etwa vier Quadratmeter große Raum, dessen einziger Schmuck ein paar schlechte Ölbilder waren, eben jener Raum war, in dem der Besitzer des Restaurants seine Mädchen ihre besonderen Einnahmen machen ließ.
Die Gesichter aber, die man jetzt in diesem Raum sehen konnte, paßten nicht zu diesen Dingen und gaben dem ganzen Zimmer ein groteskes Aussehen.
Wollte man hierher, war es geboten, sich an der Mauer des Friedhofes oder beim Eingang des Restaurants des öfteren umzusehen, ob einem niemand auf der Spur sei; deshalb wurde auch in dieser Kammer nur leise gesprochen. Von der Existenz dieses Zimmers wußten überhaupt nur ganz zuverlässige Leute.
Nakai und Watamasa saßen sich an einem kleinen Tisch gegenüber und zeichneten ungeschickt an einer Landkarte. "Sag mal, wer wird deiner Meinung nach das nächste Kabinett bilden?" fragte Yatsuo plötzlich Watamasa. "Ja, das wäre zu überlegen. "
Watamasa hob den Kopf und sah den andern an. Er mochte an die dreißig sein, hatte ein spitzes, vorgeschobenes Kinn, einen gestutzten Schnurrbart und war sehr mager. Tiefe Falten in der Stirn machten ihn älter als er war, aber alle seine Bewegungen verrieten rücksichtslose Energie. Er trug japanische Kleider mit schmalen Ärmeln. "Ich denke Sibirien..." "Du also auch -?"
Die Person, die in ihrem Kreise den Spitznamen "Sibirien" trug, war natürlich General Tanaka, der Vorsitzende der Sejukaipartei (Anm.: Militärpartei, vgl. Nachwort) der, wie jedermann wußte, die Verantwortung für die Militärexpedition nach Sibirien trug und Mittelpunkt der Korruptionsaffäre in der Armee war. "Ich denke auch", hob Nakai - scherzhaft "der lange Frühlingstag" genannt - seinen langen Pferdekopf vom Tisch auf. Seit Beginn des Streiks der Daido-Drucker hatte noch niemand von den Streikenden dieses Dreigestirn in der Leitung des Gewerkschaftsrats auch nur auf einen Augenblick zu Gesicht bekommen. Über einen Monat lebten sie schon in dieser kleinen Kammer im Verwaltungsbezirk Kotshikawa. Nur sehr wenige wußten davon, und man warf ihnen bereits vor, ihrer Sache untreu geworden zu sein. "Wenn es 'Sibirien' wird, dann gibts was", brummte Watamasa und beugte sich wieder über seine Karte.
" Ha, ha," Yatsuo lachte grimmig, wie immer, wenn er auf einen besonders gefährlichen Gegner traf.
In diesem Augenblick klopfte es an die Tür - dreimal, das verabredete Geheimzeichen.
" Herein", sagte Yatsuo. Ein weiterer Kurier, der geschlafen hatte, richtete sich auf und schlang die Arme um die Knie. Hagimura trat herein.
" Hallo!"
Die drei drehten sich zu ihm. "Neue Berichte?" fragten sie.
" Ja, sehr Wichtiges."
Hagimura setzte sich auf die umherliegenden Zeitungen.
" Da, es ist eilig."
Auf dem Zettel standen mit Bleistift drei Zeilen: "Am 19. abends wird die Gesellschaft alle entführten Lehrlinge mit Auto in die Mühlenfabrik fahren, zusammen mit den Buchbindemaschinen. "
Alle lasen den Zettel.
" Woher kommt das?" erkundigte sich Watamasa ruhig. "Von Miatji, ich habe ihn vor einer Stunde durch die Genossin Takae Haruki von der Frauenabteilung bekommen. "
Die drei Männer überlegten - das eilte - am 19. abend - das heißt heute abend - es galt also keine Zeit zu verlieren. "Wir wollen es so machen," sagte Watamasa, und die Köpfe beugten sich zueinander.
Tomi-tjan, der Kurier, informierte inzwischen Kijose:
" Der Genosse Miatji hat sich selbst der Polizei gestellt."
Die Beratung dauerte fünf Minuten. Nakai schrieb eilends die Befehle.
" Nakai, ich empfehle als Beobachter den Lehrling Hisachita, er ist zuverlässig." Tomi-tjan und Kiose bekamen je einen Befehl.
" Sehr eilig, mit Auto... seid vorsichtig," mahnte Yatsuo die beiden.
Sie verschwanden durch die Tür in der Wand und liefen in verschiedenen
Richtungen davon.
" Das hat man an die Gesellschaft geschickt," sagte Hagimura und nahm einen Zettel aus der Tasche, seine linke Hand wärmte er am Ofen. "Ist das die genaue Abschrift?" Watamasa faltete den Zettel auseinander:
Resolution.
Der Streik der Daido-Drucker zeigt deutlich, wie frech die Gesellschaft den Arbeitern das Recht auf ihre Existenz rauben will. Deshalb sprechen wir, die Eltern und Brüder der Lehrlinge, den 2500 Streikenden unsere Sympathie aus und stimmen dafür, daß während des Streiks unsere Söhne und Brüder die Arbeit niederlegen.
Vertreter der Eltern und Brüder der
Lehrlinge.
Genziro, Hisachita und weitere 32 Eltern.
"Ho, ho!" Alle besahen den Zettel. "Man muß diese Lehrlinge schleunigst befreien." Hagimura haßte das Lehrlingssystem, das er alle Tage mit ansehen mußte. Die Ausbeutung der Lehrlinge war noch schlimmer als die der Arbeiter.
" Ist eigentlich allerhand, daß noch im ganzen Osten das feudalistische Gildensystem selbst in den modernsten und fortschrittlichsten Fabrikationszweigen weiterlebt. 300 Lehrlinge arbeiten allein in der Daido-Druckerei. "
Watamasa und Yatsuo sahen sich an. Sie zeigten beide das gleiche bittere Lächeln. Hagimura kannte Watamasa schon sieben oder acht Jahre, seit der ersten Bewegung gegen das "Gesetz für Ruhe und Ordnung". All die Zeit hatte Watamasa ausschließlich für die Bewegung gearbeitet. Hagimura blieb in der Fabrik und tat dort seine Pflicht, und so hatten sie in den letzten drei Jahren keine Gelegenheit gefunden, sich zu sehen. Aber er erinnerte sich noch genau wie er und Watamasa, zusammen mit Kawai und Yamagishi, die dann vom Militär ermordet wurden, bei dieser Kampagne in einer Polizeizelle gesessen hatten. Zuverlässigkeit und Treue waren in die Stirnfalten dieses Dreißigjährigen eingegraben. Sein Kimono mit den schmalen Ärmeln war noch derselbe, den er vor acht Jahren getragen hatte. "Ach, das paßt ja, daß du gerade jetzt gekommen bist; hilf mir einen Augenblick, hast du Zeit?" fragte Watamasa, dem die Anwesenheit Hagimuras sehr gelegen kam.
" Ja, ich habe noch ein Stunde Zeit. - Was gibt es?" "Wir wollen eine Karte der Fabrik und ihrer Umgebung machen und du weißt doch sicher gut Bescheid dort, "sagte Nakai. "Ja, natürlich, ich kenne jeden Abort." Alle lachten und Hagimura trat an den Tisch.
" Die Umgebung der Fabrik haben wir nach dem Plan von Tokio eingezeichnet, aber wichtiger ist der weiße Fleck hier, wo wir den genauen Plan der Fabrikanlage einzeichnen wollen."
" Nichts leichter."
Hagimura nahm einen neuen Bogen und begann zu zeichnen.
" Dieser Privatweg, der zwischen der rechten und linken Werkstatt durchführt, ist ungefähr 360 Meter lang, er macht an dieser Stelle einen Bogen und endet am Abhang des botanischen Gartens. Das linke Seitentor geht nach Shimizudani, das rechte nach dem Abhang Densuin, verstehst du, und die Aus- und Eingänge sind..." beschrieb
Hagimura jede Einzelheit der Lage. Er kannte die Fabrik viel genauer
als die Zahl der Strohmatten in seinem Zimmer (Anm.: An Stelle von Teppichen sind die japanischen Zimmer mit Strohmatten ausgelegt, die in einer Normalgröße hergestellt werden, nach denen im Volke die Größe des Raumes angegeben wird.). Den größten Teil seines Lebens hatte er in dieser Fabrik verbracht.
Alle Eingänge der Fabrik wurden mit roten Strichen bezeichnet und bald war mit Hagimuras Hilfe die Karte fertig.
Hagimura konnte sich schon denken, wozu man diese Karte brauchte; das war keine Sache, nach der man fragte.
Es war im Zimmer fast dunkel geworden. Yatsuo drehte am Schalter.
" Es wird Zeit." Watamasa dachte an den Boten, da klingelte es.
" Telephon..."
Yatsuo ging an den Apparat, der in der Ecke des Zimmers verborgen war und nahm den Hörer.
" O, von Hisachita..." sagte er zu den andern hin. |
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