V. Himmel und Hölle
So lange saß Takae schon in der Tiefe des viereckigen Sarges aus Eisenbeton, daß sie das Bewußtsein von Zeit und Stunde verloren hatte. In diesem Sarg gab es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht.
In der immerwährenden Dämmerung und Finsternis dieses Steinkastens bewegten sich fünf oder sechs Schatten von Menschen. Die gelbe Dämmerung, die kaum die Gesichter erkennen ließ, tropfte aus unerreichbarer Höhe wie aus einem trüben Auge in die Zelle. Man hatte alle voneinander getrennt. Takae konnte nicht wissen, wohin Okayo und Oja gebracht waren. Sie spitzte ihre Ohren nach jedem kleinsten Geräusch, das sich schmerzhaft durch die dicke Betonwand zu ihr hineinschmuggeln mußte.
Und die Schwester in anderen Umständen. Hier, in diesem Loch! Ununterbrochen wurde in der Zelle gelärmt. Ein paar alte schrien ohne Pause aufeinander ein.
Als sie sich einmal etwas beruhigt hatten, kam eine mit unruhigen Augen zu Takae, um sich mit der Neuangekommenen zu unterhalten. In der Zelle waren noch eine alte fünfzigjährige Frau mit verschlafenem, fettigem Gesicht, ein alter Landstreicher, der aussah, wie eine mit Lumpen umwickelte Stange, und ein Knabe, der einem Lumpenknäuel glich.
Der Alte schien sich nie mehr bewegen zu wollen, er krächzte nur immerfort und hatte wohl nicht mehr lange zu leben. Die Dirne, eine Gewohnheitsverbrecherin sagte, daß sie alle zwei bis drei Monate auf 29 Tage hierher müsse. "Aber da kam man nichts machen, das ist mein Beruf." Sie schien fest daran zu glauben.
" Na, die Polizei kann auch nicht dagegen an, und wenn sie noch so feierliche Gesichter machen -", sie grinste gemein und machte eine unanständige Geste, auf die sie scheinbar stolz war, so daß Takae von diesem Abhub ihres Geschlechts die Augen wenden mußte. Vielleicht war jetzt draußen Nacht. Die Schritte der Gefängniswärter hallten auf dem Betonboden in den eiskalten Korridoren wider. Die Gefangenen hatten nur dünne, schmutzige Decken gegen die Kälte. Die Dirne fragte etwas unbestimmt, wobei sie ihre gelben, fauligen Zähne zeigte:
" Wo is'n dein Strich?"
Sie meinte natürlich, Takae müßte denselben Beruf haben wie sie. Als Takae den Kopf schüttelte, wollte sie es nicht glauben. "Aber du kannst wirklich noch arbeiten, bist doch noch jung. " Dann wurde die alte Dirne sentimental.
" Ich will doch aber nicht so sterben wie diese Alte da, aber-----"
Die Alte, die auf die Dirne wies, hatte die Knie angezogen und das Gesicht zum Schutz gegen die Kälte in die Hände gelegt. Diese Alte war die "schwerste Verbrecherin" unter ihnen. Sie hatte das Haus eines Arztes angesteckt. Sie wollte sich an dem Arzt für den Tod ihres Enkels rächen, der nur deshalb gestorben war, weil sie kein Geld hatte, um dem Arzt die Medizin zu bezahlen.
Die Alte stand auf und ging, schwankend zwischen Ohnmacht, verzweifelter Qual und Schmerzen, hin und her. Sie wimmerte und griff sich mit den Händen an den grauhaarigen Kopf. Die Dirne sah sie mit offenem Munde an.
Die Alte glaubte noch an das Bild von "Himmel und Hölle", das ihr von Kindheit an eingeprägt war. Sie beichtete ihre Sünden.
Das Bild von "Himmel und Hölle", das in ihr Herz eingegraben war, bewies ihr, daß der Arzt recht hatte, ihren Enkel, den einzigen Lichtblick auf dieser Welt sterben zu lassen, weil sie ihm die Medizin nicht bezahlt hatte. Das Bild verurteilte sie auch, weil sie sich gerächt und das Haus des Arztes in Brand gesteckt hatte. Als nun auch noch schlecht von ihr gesprochen wurde, zerschnitt ein neuer Schmerz ihren Körper. "Heule nicht so, immer fängt sie wieder an", schrie der Junge; er stieß an Takaes Knie und richtete sich auf. Dieser vierzehnjährige Junge hatte das Bild von "Himmel und Hölle" nicht gesehen, dieses Lumpenknäuel kannte nur das Leben, das in der Nacht in den Röhren beim Straßenbau, auf leeren Hausböden oder in der Polizeizelle schläft und am Tage überall herumstreift, wo es nach Essen riecht.
" Ach, ich kann dabei nicht schlafen." Murrend schlief der Junge wieder ein. Er hatte an diesem schon gewohnten Ort keinen Grund traurig zu sein.
Plötzlich hörte man über den Köpfen Tritte von harten Schuhen. Takae trat an das Gitter und preßte ihr Gesicht an die metallnen Stäbe. Eine vertraute Frauenstimme schrie: "Ich weiß nicht, ich weiß davon gar nichts."
Ohne Zweifel war es Okayo, die da oben schrie. Takaes Körper zog sich vor ohnmächtiger Wut und Schmerz krampfhaft zusammen. Der schwarze Schatten eines Kriminalbeamten ging an dem Fenster auf dem Gang vorbei. Jetzt hörte es sich an, als ob man eindringlich etwas frage. Aber Okayos Stimme wiederholte hartnäckig, daß sie nichts wisse. "O weh, o weh", schrie Okayo in wildem Schmerz. Der Beamte schien ihr die Arme ausgedreht zu haben. Aufgescheucht schlug Takae mit den Fäusten gegen das Gitter und schrie: "Teufel! Schweine! Bestien!"
Aber nur harte Sohlen trampelten als Antwort darauf gegen das Gitter. Dann hörte sie die Stimme Okayos nicht mehr. Die harten Schritte des Kriminalbeamten hatten sich gleichfalls entfernt. Takae konnte keine Ruhe finden. -
Die Kälte der Dämmerung kroch ihr unter die Fußnägel, drang in ihre Kniegelenke und kitzelte in den Schenkeln.
Am nächsten Morgen öffnete ein Wärter die Türen der Zellen und führte die Leute einzeln auf den Abort. Okayo hatte sich in dieser einen Nacht völlig verändert. Ihr blasses geschwollenes Gesicht, ihre blutunterlaufenen Augen, ihre unordentliche Kleidung, alles erzählte von den Mißhandlungen der vergangenen Stunden.
Sie trat mit zusammengebissenen Zähnen auf den Gang, wie eine Seekranke schwankte sie durch die Gänge, sich mit einer Hand an der eiskalten Wand stützend. Der Säbel des Wärters trieb sie vorwärts. Als sie durch den zweiten Gang, tief wie ein Tunnel, ging, sah sie unerwartet Menschen vor sich.
" Oh!" Okayo blieb mit weit aufgerissenen Augen stehen, - da stand Miatji die Hände mit Ketten gefesselt; er sah zehn Jahre älter aus. Sie konnte nicht einmal den Mund öffnen.
Miatji bewegte seine Lippen, aber es wurde kein Wort; auf seinen geschwollenen Backenknochen waren dunkelblaue Flecken wie Schorf. "Was machen Sie!" Der Wärter, der hinter Miatji stand, stieß ihn in den Rücken. Miatji verlor jeden Halt, fiel gegen die Wand und wankte einige Schritte vor. Das Ganze dauerte nur drei oder vier kurze Minuten - länger konnte sie ihm auch nicht nachsehen. Die starke Erregung ließ ihr Herz erstarren.
Sie wußte, wo ihre Schwester saß, aber sie weinte schon nicht mehr. Sie saß in der Ecke der Zelle und tat hier und da einen tiefen Atemzug. Ihr Frühstück wurde durch das Gitter geschoben wie Vogelfutter, aber das Essen in dem viereckigen Kasten machte ihr keinen Appetit. Okayo starrte den viereckigen Kasten an und schob ihn wieder durch das Gitter zurück.
" Ach, ich glaube, ich werde hier sterben." Tag und Nacht - sie trank nicht mehr, nicht einmal Wasser. Am nächsten Morgen wurden Oja und Takae herausgelassen; man hatte sie kaum vernommen; die Polizei fand keinen Grund, sie in Untersuchungshaft zu behalten. Als sie ins Freie traten, blendete das helle Sonnenlicht ihre Augen; am Hintertor des Polizeiamtes sah Takae den Beamten, der Okayo verhaftet hatte.
" Hallo, verzeihen Sie, ich möchte gerne wissen, ob man Okayo Haruki schon herausgelassen hat?" fragte Takae höflich, ihren Haß verbergend. "Ich weiß nicht", sagte der Beamte gleichgültig, " das ist nicht mein Ressort."
Takae war verzweifelt, doch sie zögerte noch, ihm von der Schwangerschaft der Schwester zu erzählen - sie konnte nicht bitten; außerdem mußte sie erst Gelegenheit haben, diese Sache mit Miatji zu erklären. Der Beamte sagte, um weiteren Fragen auszuweichen: "Vielleicht ist sie schon zu Haus, das kann man nicht wissen, vielleicht ist sie schon vor Ihnen gegangen, gehen Sie nur schnell nach Hause. " Sie wußte natürlich, daß diese Worte sie nur ablenken sollten und sie hatte keinen Grund, weiter zu fragen. Aber sie klammerte sich doch an diese einzige kleine Hoffnung und folgte Oja.
Draußen wurden sie von Fusa-tjan und Ogin-tjan und einigen anderen Kolleginnen empfangen. Takae verabschiedete sich kurz und ging eilends ihrem Hause zu. Okayo war nicht da.
Sie hatte keinen Mut, etwas anzufangen; sie stand in dem lange nicht aufgeräumten Hause herum und sah gedankenlos ins Leere. "Was macht Okayo?" fragte der alte Kranke als erstes. Ohne ihm zu antworten und ohne sich erst auszuruhen, ging sie wieder von Hause fort.
Sie sah ein, daß es zwecklos sei, noch einmal auf der Polizeiwache nachzufragen, auch durch den Vertreter der Streikleitung bei der Polizei etwas unternehmen zu lassen, würde in dieser Zeit, in der immer 20 bis 30 Genossen in Haft waren, viel zu lange dauern. Dort waren alle mehr als reichlich beschäftigt.
Takae ging über die Senkawa-Brücke; einige Straßen weiter, kam an den Fuß des Haksuanabhanges; sie wußte, in einem zweistöckigen Haus am Abhang wohnte Hagimura in einer kleinen Kammer. Rechts an der Tür ging eine steile Treppe hinauf, oben war eine Papiertür. Sie rief: "Genosse Hagimura!"
Nach einer Weile antwortete eine tiefe heisere Stimme. Sie öffnete die Tür und trat ein. Hagimura erhob sich vom Bett und rief erstaunt, seine vom Schlaf geschwollenen Augen krampfhaft aufgerissen: "Aha, du bist wieder da!" Er hatte von ihrer Verhaftung gehört. "Was macht Kayo-tjan?"
Takae kniete an seinem Bett nieder und berichtete kurz das Vorgefallene.
" Alles wäre nicht so schlimm, wenn meine Schwester nicht in diesem Zustand wäre - aber du weißt doch. Und deshalb komme ich um Rat zu dir. "
Hagimura drehte sich unter den Decken herum. Erst vor noch nicht zwei Stunden hatte er sich schlafen gelegt; er war in der Frühe von einer Sitzung der höchsten Streikleitung nach Hause gekommen. Er kannte einen jungen Rechtsanwalt, der als Sekretär aktiv in der Arbeiter-und Bauernpartei arbeitete und schlug vor, jetzt gleich zu ihm hinzugehen. "Aber Moment mal", brummte er und blinzelte Takae an, aber sie verstand nicht, was er meinte.
" Nach der anderen Seite sehen - ich muß doch aufstehen." Takae wurde verlegener als Hagimura - was war sie für eine dumme Frau. Sie trat rasch an die Tür, senkte den Kopf und spürte den Geruch des hinter ihr aufstehenden Mannes. Als er schnell Anzug und Mantel angezogen hatte, sah sie wieder zu ihm hin und sagte: "Siehst du, ich bin so eine dumme Frau. "
Sie stiegen den Haksuanabhang hinauf und kamen in die Nishikatastraße. Mit dem Rücken zur Straßenbahn standen oben am Abhang die großen Villen.
" Taka-tjan, diese Straße herunter, das große Eckhaus dahinten gehört auch dem Okawa", erklärte Haigumura und wies mit dem Kinn in die Richtung. Da stand drohend das schwarze Tor, wie bei einem Schloß aus der Feudalzeit. Um den Spitzeln, die sicher vor dem Haustor des Direktors herumstanden, nicht aufzufallen, bogen sie vor dem Hause zur Straßenbahnstraße ab.
Während sie die hohe Mauer aus künstlichem Stein entlanggingen, mußte Takae die Enden ihres Schals festhalten, um mit schnellen Schritten dem vorauseilenden Manne folgen zu können.
" Hoppla!" Plötzlich blieb sie sehen, von irgendwoher kam ein roter Ball geflogen, prallte gegen ihr Bein und rollte in den Graben unter- halb der Mauer.
" Bitte, geben Sie mir meinen Ball" bat von der Tür her ein hübsches Mädchen, das den Ball geworfen hatte. Die Kleine war etwa sechs Jahre alt und trug eine Pony-Frisur auf ihrem wohlgenährten Köpfchen. Sie wiederholte:
" Fräulein, geben Sie mir den Ball. "
Der hübsche kleine Mund befahl. - Zweifellos gehörte diese Hintertür zum Hause Okawas - dann war also dieses Mädchen sicher ein Kind oder Enkelkind von Okawa. Takae trat näher heran und sah eindringlich auf das hochmütige Kind, das mit erhobenem Arm befehlend auf den Ball wies. Aber als es dem eiskalten Blick Takaes begegnete, zog es rasch seine Hand zurück, als hätte es einen elektrischen Schlag bekommen und sein Gesicht verfärbte sich.
Da kam ein Kindermädchen; Takae zwang sich mit Gewalt höflich und lächelte das Kind an. Das Kinderfräulein stand hinter dem Mädchen, das endlich wieder guter Laune war, und nickte.
" Wie heißt du? - Fräulein Eisuko? - Du kannst aber schon gut deinen Namen sagen. "
Takae sagte das so fließend, daß sie selbst darüber erstaunte. Sie streichelte das Kind und eilte Hagimura nach, der vorausgegangen war und auf sie wartete. "Was war denn da los?" Sie war vom schnellen Laufen außer Atem.
" Das Mädchen war Okawas Enkelkind", erklärte sie und wies nach rückwärts auf die Hintertür, an der das kleine Mädchen immer noch stand und den beiden nachsah. "Ach so, das ist also Okawas einzigster Schatz!" |
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